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"Es herrscht im Grunde eine Anarchie"

Zehn Jahre währt der Einsatz der internationalen Schutztruppe ISAF in Afghanistan. Doch die Gewalt im Land hat zugenommen, die Macht der Taliban auch. In Afghanistan herrsche ein "Kriegszustand", sagt Rupert Neudeck. Der "Grünhelme"-Chef glaubt, dass erst nach dem Abzug der ISAF der Aufbau ziviler Strukturen beginnen könne.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Dirk Müller | 24.10.2011
    Dirk Müller: Rückzug, so heißt auch die Devise der internationalen Schutztruppe ISAF in Afghanistan. Bis Ende 2014 sollen alle ausländischen Soldaten das Land verlassen haben. Für die Sicherheit sind dann die Afghanen selbst zuständig. Auch die Bundeswehr will sich bis dahin verabschiedet haben. Doch die Nachrichten aus Afghanistan verheißen nichts Gutes. Die Gewalt nimmt demnach immer weiter zu, die Macht der Taliban auch. Seit über einer Woche ist Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation "Grünhelme" in Afghanistan, er ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen!

    Rupert Neudeck: Guten Morgen, Herr Müller!

    Müller: Herr Neudeck, gehört Gewalt zum Alltag?

    Neudeck: Ja wenn man das hier in Herat, in der Provinz, so mitbekommt und wenn man das Fernsehen am Abend sieht, was ja landesweit hier über das Land hinweggeht, dann kann man sagen, fast ist das ein Kriegszustand. Die afghanische Armee wird dauernd gedrillt und es werden hier Kriegspläne geschmiedet, es wird dauernd über Überfälle geredet, es wird dauernd Body Count gemacht, also es werden 30 oder wie viele afghanische Taliban ermordet oder getötet. Man hat den Eindruck, es ist nicht nur nicht Ruhe im Lande, sondern es herrscht im Grunde eine Anarchie, der Staat ist nicht mehr in der Lage, das Land zu regieren. Er versucht es zwar dadurch, dass der Präsident ständig Reden hält und ständig Besucher empfängt aus der weiten Welt, aber die müssen auch wieder tief in der Nacht hier herkommen und dürfen das nicht vorher sagen. Also es hat einen Eindruck von Anarchie, den man nicht weg schieben kann, wenn man hier in diesem Lande ist und arbeitet.

    Müller: Sie sind jedes Jahr in Afghanistan, Herr Neudeck, Sie schauen sich die Situation vor Ort an, Sie koordinieren dort Hilfsprojekte. Wenn wir jetzt Ihrer Analyse folgen, ist dann der Umkehrschluss richtig, dass die Situation vor fünf Jahren vermeintlich besser war als heute?

    Neudeck: Ja. Es war ganz eindeutig so – und das müssten die deutschen Hörer auch wissen -, wir haben in der Zeit von 2002 bis 2004 eine ganz hervorragende Situation gehabt für die Arbeit, weil da waren die Taliban alle verschwunden. Die internationale Gemeinschaft hat mit den Afghanen in einem einzigartigen Enthusiasmus versucht, die ersten Bedingungen für den Wiederaufbau zu schaffen. Das funktionierte hervorragend. Dann kam die westliche Staatengemeinschaft auf die Idee, überall sogenannte Hilfskontingente hinzustellen, die wurden aber eigentlich total isoliert, die waren ausgegrenzt, und deshalb hat hier eigentlich das nicht stattgefunden, was man sich erwartet hat von westlicher Seite, auch nicht von Seiten des Bundestages: Es hat nicht größere Sicherheit stattgefunden.

    Müller: Neulich war Bundespräsident Christian Wulff in Afghanistan beim Truppenbesuch, bei den deutschen Soldaten, und dort haben alle unisono festgestellt, die Situation haben wir im Griff und Afghanistan hat eine Perspektive. Ist das Schönfärberei?

    Neudeck: Ja, das ist ganz sicher eine Begründung, die dazu dienen soll, den Abzug und das Ende einer Politik einzuläuten. Aber das Ende einer Politik ist nicht gleichzeitig die große Sicherheit, die damit stattfinden kann. Ich würde nicht plädieren dafür, dass diese Soldaten weiter bleiben, weil sie haben eigentlich das Gegenteil von Sicherheit gebracht, sie haben eigentlich wenig gemacht, sie konnten auch nicht gar nicht viel tun, sie waren ausgegrenzt in riesengroßen Kasernen. Hier in Herat, von wo ich aus mit Ihnen telefoniere, ist die Lage so, 2000 italienische Soldaten sind praktisch in einer Riesenfestung und trauen sich kaum heraus, und deshalb ist der Abzug, glaube ich, etwas, was unbedingt stattfinden muss. Und danach entscheidet sich erst das Schicksal Afghanistans, weil es muss Wiederaufbau passieren, die Wirtschaft muss wiederaufgebaut werden. Hier haben wir in den Dörfern eine Situation, dass praktisch alle, Hunderttausende junge Afghanen gehen in den Iran, weil dort die Wirtschaft funktioniert, weil sie dort etwas verdienen. Wir haben nicht mal genügend Arbeitsplätze für den Aufbau der Schulen. Wir haben in diesen Tagen die 33. Schule eröffnet in einem Dorf in dem Distrikt Karokh. Aber wir haben kaum die Arbeitskräfte, weil alle gehen raus in der Saison in den Iran, und das ist, glaube ich, die Situation, die man sich klar vorstellen muss.

    Müller: Die Zielsetzung der internationalen Schutztruppe ISAF, Rupert Neudeck, war ja nicht nur, mehr Sicherheit in dieses Land zu bringen; es ging ja auch, Sie haben das Stichwort genannt, um den zivilen Wiederaufbau. Warum hat das nicht funktioniert?

    Neudeck: Weil Soldaten nicht richtige zivile Wiederaufbauhelfer sind. Das kann man zwar so nennen, man kann den Level draufkleben, aber das wird so nicht gelingen. Soldaten sind dafür da, zu kämpfen oder durch Abschreckung ihrer Waffen, ihrer Waffensysteme dafür zu sorgen, dass Sicherheit da ist. Soldaten sind in der Regel nach menschlichem Ermessen und nach unserer geschichtlichen Vorstellung keine guten Wiederaufbauhelfer, müssen sie auch gar nicht sein, und deshalb war das eine falsche Nominierung und deshalb könnte es so sein, dass das, was Präsident Wulff angekündigt hat, dass die Deutschen der Freunde der Afghanen sind, das wird hier auch so verstanden. Die Afghanen fühlen sich als die Freunde der Deutschen und die Deutschen als die Freunde der Afghanen. Es könnte sein, dass erst nach dem Abzug der ISAF-Truppen, dass dann erst das beginnt, was für das Land notwendig ist, nämlich der Wiederaufbau einer zivilen Infrastruktur und der Wiederaufbau einer großen verarbeitenden Industrie, einer Landwirtschaft, die ganz dringend ist, und die afghanischen Arbeiter sind sehr fleißige und sehr tüchtige Arbeiter, das wird dann auch gelingen. Aber erst, glaube ich, die ausländischen Truppen müssen das Land verlassen, weil sie sind der Anlass für die Taliban, hier gegen diese ausländischen Mächte vorzugehen, weil Afghanen haben nach ihrer Geschichte immer wieder gekämpft gegen ausländische Soldaten.

    Müller: Live aus Herat in Afghanistan war das Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation "Grünhelme". Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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