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"Es ist aufs falsche Pferd gesetzt worden"

Der Soziologe Hartmut Esser sieht die Integrationsprobleme von Migranten vor allem in einer jahrelangen falschen Bildungspolitik begründet. Statt Türkisch als Fremdsprache in der Schule anzubieten, sei es wichtig, Migranten- und Nichtmigrantenkinder frühstmöglich im gemeinsamen Lernen zu fördern.

Hartmut Esser im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske |
    Doris Schäfer-Noske: Ist Deutschland ein Einwanderungsland oder ein Auswanderungsland, das aufpassen muss, dass es im Wettbewerb um ausländische Spitzenkräfte nicht an Attraktivität verliert? Auch darüber wird inzwischen im Zuge der Sarrazin-Debatte diskutiert. Diese Debatte und die Multikulti-Abgesänge von Politikern hätten dem Image Deutschlands im Ausland geschadet, meinen manche. Jedenfalls gibt es in Deutschland inzwischen viele Menschen mit Migrationshintergrund, die sich aufgrund der Debatte unwohl fühlen. Andere sagen, die Debatte habe die Politiker erst wach gerüttelt und den Druck aufgebaut, in der Integration endlich zu Erfolgen zu kommen.

    Der Soziologe Hartmut Esser beschäftigt sich jetzt seit Jahrzehnten schon mit dem Thema Integration. Frage, Herr Esser: Die Integrationspolitik steht zurzeit in der Kritik. Was sagen Sie denn als Wissenschaftler dazu? Wurden hier Forschungsergebnisse jahrelang missachtet?

    Hartmut Esser: In zweierlei Hinsicht. Erstens mal wusste man um die Probleme schon sehr lange eigentlich auch hier, etwa seit 20 Jahren bestimmt schon. Man hat auch so Szenarien schon gehabt. Das ist alles nicht rezipiert worden, weil die ganze Sache unterschätzt worden ist, denke ich. Und zweitens haben die Wissenschaftler insbesondere dadurch, dass die ganze Sache sehr als Schulproblem erkannt wurde, ist das rübergewandert von Ökonomie, Soziologie rüber in die Pädagogik und Erziehungswissenschaften, und die haben eigentlich zu rasch Maßnahmen vorgeschlagen, von denen man nicht weiß, ob sie was bringen. Das ist bis heute die Situation.

    Schäfer-Noske: Was sagen denn die Forschungsergebnisse der Soziologie? Wo müsste denn das Geld für die Integration ausgegeben werden?

    Esser: Eigentlich weiß man das. Jeder Bürgermeister überall betet es jetzt runter, so früh wie möglich, also Kindergarten, und ich bin sogar so weit zu sagen, dass es eigentlich eine Kindergartenpflicht schon sehr früh geben müsste, ich würde fast sagen mit drei, vielleicht sogar mit zwei Jahren, also wenn man nur auf das Problem guckt. Es gibt natürlich andere Aspekte, die dabei zu bedenken sind. Aber das ist jahrelang entweder unterschätzt worden, teilweise auch bekämpft worden, und es ist aufs falsche Pferd gesetzt worden mit verschiedenen Vorstellungen, dass man das über interkulturelles Lernen oder so was kompensieren könnte.

    Schäfer-Noske: Aber das wäre doch auch eine Form des interkulturellen Lernens, wenn die Kinder ab drei alle zusammen in den Kindergarten kommen?

    Esser: Ja. Bis dahin hieß aber interkulturelles Lernen, dass die deutschen Kinder mehr von den Heimatländern der Migranten mitbekommen sollten, die Lehrer auch, und die Migranten halt eben auch in ihren Muttersprachen gefördert würden. Das ist sozusagen der Bajass in der Vergangenheit gewesen und es war sehr schwierig, Forschungen auch als Ergebnisse zu transportieren in die Politik und Öffentlichkeit rein, die sagten, lasst das sein, das ist alles nett oder so, aber es bringt nichts, wichtig ist die Zweitsprachförderung möglichst frühzeitig, und ich habe das schon erlebt in vielen Tagungen vor langer Zeit, dass man da gelinde gesagt nicht verstanden worden ist.

    Schäfer-Noske: Die Bundesregierung will ja auch mehr Druck machen, dass Deutsch- und Integrationskurse auch absolviert werden. Ist das denn aus Ihrer Sicht ein sinnvoller Schritt?

    Esser: Zunächst mal hört sich das sehr, sehr sinnvoll an. Das läge ja auf der Linie, die ich gerade beschrieben habe. Nur ist es leider so bei den Deutsch- und Integrationskursen, das sind zwei Probleme. Erstens richten sie sich an Erwachsene, und da ist Sprache lernen sehr schwierig in der Regel, also im Durchschnitt. Es gibt natürlich Ausnahmen und Sprachtalente und so weiter, aber im Grunde ist mit etwa 17, 18 und sogar früher schon eigentlich die Messe gelesen. Das zweite ist: viele Migranten können kein richtiges Interesse daran haben, weil sie haben so eine schlechte Bildung, dass sie mit oder ohne Deutsch auf dem Arbeitsmarkt nicht weiterkommen. Dazu kommt: das ist überhaupt nicht untersucht worden. Das heißt also, die Sprach- und Integrationskurse sind einfach implementiert worden in der Hoffnung, dass sie was bringen, und es weiß bis heute keiner, ob das der Fall ist.

    Schäfer-Noske: Sie sagen, bei den Erwachsenen ist die Messe schon gelesen.

    Esser: Ja!

    Schäfer-Noske: Haben wir denn eine neue Unterschichtendebatte, denn es gibt ja auch viele Deutsche, die dann eben nicht ihre Qualifikationen haben und deswegen auf dem Arbeitsmarkt abseits stehen?

    Esser: Ja. Das ist ja nicht neu, das ist ja eine alte Debatte. Das was wir jetzt mit den Migranten erleben, ist ja in den verschiedenen Wellen der Bildungsdebatte in den 60er- und 70er-Jahren auch mit den Unterschichten losgegangen. Zum Beispiel die "Sesamstraße" war ja so ein Programm, um das zu kompensieren. Das hat sich nicht geändert und es scheint sich auch sehr schwer zu ändern, und ich weiß auch nicht, ob das wirklich zu kompensieren ist über schulische Maßnahmen. Ich denke, die einzige Möglichkeit wäre, in der Tat auch da sehr früh anzufangen, und das würde koinzidieren mit dem Vorschlag, Migrantenkinder und einheimische Kinder aus allen sozialen Schichten möglichst frühzeitig zusammen lernen lassen.

    Schäfer-Noske: Ich möchte das Thema Schule und Zweisprachigkeit noch mal ansprechen, denn manche gibt es ja eben, die auch heute fordern, dass man zum Beispiel Türkisch auch als Fremdsprache anbieten sollte, denn Schüler mit Migrationshintergrund werden ja in Zukunft auch der Normalfall sein, die Mehrheit sein wahrscheinlich, und Mehrsprachigkeit ist ja auch ein Kulturgut.

    Esser: Ja, das hat man geglaubt, dass man sagt, die Muttersprachen zu fördern würde die Chancen bei Bildung und Arbeitsmarkt der Migrantenkinder verbessern. Ich habe mir das wirklich gut angesehen, auch international. Das hat sich nun wirklich nicht bewahrheitet. Es gibt natürlich immer gewisse Nischen oder so, Reisebüro oder irgendwelche transnationalen Unternehmer oder Leute, die jetzt in der Türkei den Boom mitmachen, haben eine akademische Bildung und finden da vergleichbare Stellen im Moment auf dem Arbeitsmarkt und so weiter. Das gibt es, aber das Problem wird nicht dadurch gelöst, dass ich eine Sprache als Fremdsprache möglich mache, die eigentlich nicht den gleichen weltweiten Kommunikationswert hat wie beispielsweise Englisch. Ich sage mal, wenn ein Deutscher nach USA oder Australien auswandert, dann würde es ihm dort wenig helfen, wenn jetzt in der Schule Deutsch als Prüfungsfache für eine weitere Fremdsprache angeboten würde, und so eine ähnliche Situation haben wir hier. Ich fürchte, dass das ein relativ einfacher Ausweg ist, um keine weitere Fremdsprache zu lernen. Englisch und Französisch wäre viel wichtiger.

    Schäfer-Noske: Das war der Soziologe Hartmut Esser über den aktuellen Stand der Integrationsforschung in Deutschland.