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"Es ist ein Ort, der die Leute in den Wahnsinn treibt"

In Frankreichs Gefängnissen haben sich allein im letzten Jahr fast 100 Menschen in ihren Zellen erhängt. Menschenrechtsorganisationen und die EU sehen die Ursache in den Haftbedingungen in Frankreichs Gefängnissen: Sie sind völlig überfüllt, die hygienischen und medizinischen Zustände skandalös. Nun soll ein Gesetzesentwurf der französischen Justizministerin Abhilfe schaffen.

Von Margit Hillmann |
    Das Modernisierungsgesetz sei ein Meilenstein in der Geschichte des französischen Strafvollzugs, lobt die französische Justizministerin Rachida Dati ihren Gesetzesentwurf zum Auftakt der ersten Lesung im französischen Senat:

    "Ein Gesetzestext, der unsere Gefängnisse ins 21. Jahrhundert führt. Er bietet die Gelegenheit, unsere Gefängnispolitik von Grund auf zu erneuern, sie menschlicher zu gestalten."

    Die derzeit dringlichsten Probleme: die chronische Überbelegung und die hohe Selbstmordrate in französischen Gefängnissen. Besonders dramatisch ist die Situation in den so genannten "maisons d'arrêt" - Gefängnisse für Haftstrafen bis zu zwei Jahren. Dort werden Häftlinge häufig zu dritt oder zu viert in 11 Quadratmeter große Zellen gepfercht. Das neue Strafvollzugsgesetz wird die Überbelegung deutlich senken, verspricht die französische Justizministerin: es ermöglicht vorzeitige Entlassungen bei Haftstrafen unter zwei Jahren. Die Ministerin setzt vor allem auf die elektronische Fußfessel, die eine strenge Überwachung des Verurteilten außerhalb des Gefängnisses erlaubt. Das Recht der Häftlinge auf Einzelzellen – wie es unter anderem der europäische Menschenrechtskommissar angemahnt hat - wurde im Gesetzesentwurf als Prinzip anerkannt. Wirksam soll es jedoch erst nach Ablauf eines Moratoriums von fünf Jahren werden. Man müsse schließlich realistisch bleiben, verteidigt Justizministerin Dati den Aufschub.

    "In Frankreich haben wir lange Zeit keine neuen Gefängnisse gebaut. Wir brauchen Zeit, damit alle Gefängnisneubauten, die wir seit 2007 auf den Weg gebracht haben, fertig gestellt sind und das Recht der Häftlinge auf Einzelzellen umsetzbar wird."

    "Vage Absichtserklärungen", sagt François Baisse, Sprecher der französischen Beobachtungsstelle für Gefängnisse, kurz OIP.

    "Wieder wird das Recht auf eine Einzelzelle nicht verbindlich ins Gesetz geschrieben. Es ist jetzt schon das dritte Mal. Jedes Mal erklärt die jeweilige Regierung: 'Wir sind für Einzelzellen, aber erst in fünf Jahren'. Fünf Jahre später wird wieder verschoben."

    Zwar gäbe es einige Fortschritte: zum Beispiel die verbesserte medizinische Versorgung der Häftlinge während der Nachtstunden und an Wochenenden, die künftig gesetzlich vorgeschrieben wird. - Oder den seit langem geforderten freien Zugang zum Telefon, der den Verurteilten einen regelmäßigen Kontakt zur ihren Familien ermöglicht. Insgesamt sei der Gesetzesentwurf jedoch eine Enttäuschung.

    "Der Gesetzesentwurf bleibt weit hinter unseren Erwartungen zurück. Wir hatten gehofft, dass die Grundrechte der Inhaftierten im neuen Gesetz festgeschrieben werden. Nun müssen wir feststellen, dass insgesamt vor allem Rechte und Möglichkeiten der Gefängnisverwaltung gestärkt werden."

    Darunter die Regelung der sogenannten "differenzierten Haftbedingungen". Sie gibt der Gefängnisdirektion das Recht, nach eigenem Ermessen über Haftbedingungen der Verurteilten zu entscheiden. Häftlingen, die nach Einschätzung der Gefängnisverwaltung einen gefährlichen, aufsässigen oder schwer kontrollierbaren Charakter haben, können ohne jede juristische Kontrolle verschärfte Haftbedingungen auferlegt werden. Eine Methode, die zunehmend auch bei psychisch kranken Häftlingen angewandt wird, deren Zahl in französischen Gefängnissen in den vergangenen Jahren stark angestiegen ist. Für große Unzufriedenheit sorgt auch die Regelung für die berüchtigten Disziplinierungszellen, in die gewalttätige Häftlinge zur Strafe eingeschlossen werden. Der Gesetzentwurf sieht zwar vor, die zulässige Höchststrafe von 45 auf 30 Tage herunterzusetzen, doch das sei noch immer viel zu lang, meint OIP-Sprecher Francois Baisse.

    "Wir sind für das Abschaffen der Disziplinierungszellen. Es gibt andere wirksame Möglichkeiten, Häftlinge zu sanktionieren. Wenn man aber diese Methode beibehalten will, dann hätte man sich stärker an europäische Nachbarländer orientieren sollen. Dort sind drei, fünf oder acht Tage in der Strafzelle erlaubt, nicht mehr. Dazu muss man wissen, dass in diesen Zellen die Selbstmordrate sieben Mal höher ist, als im normalen Strafvollzug. Es ist ein Ort, der die Leute in den Wahnsinn treibt."

    Noch ist das Gesetz für den Strafvollzug nicht verabschiedet, es steht noch die Lesung im Parlament bevor, Nachbesserungen sind möglich. Doch Frankreichs Menschenrechtsorganisationen sind pessimistisch: Respekt vor der Menschenwürde der Häftlinge, das Gefängnis als ein Ort der Resozialisierung – sind und bleiben zweitrangige Kriterien im französischen Strafvollzug; die große Reform sei ein Reförmchen. Es fehle der Regierung am politischen Willen, ist auch OIP-Sprecher Francois Baisse überzeugt. "Wenn sich überhaupt etwas tut", sagt er, "dann nur, weil Brüssel Druck macht."