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"Es ist eine Schande"

Als "tragische Entscheidung" für alle "Künstler in China, die unter der Zensur zu leiden haben", bezeichnet der chinesische Künstler und Dissident Ai Weiwei die Vergabe des Literaturnobelpreises an den Chinesen Mo Yan. Die Wahl von Mo Yan, der von vielen Chinesen als Staatsdichter angesehen wird, sei eine Schande für Mo Yan und das Nobel-Komitee.

Ai Weiwei im Gespräch mit Silke Ballweg | 04.12.2012
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Entscheidung des Nobelpreis-Komitees war hoch umstritten. Der Preis für Literatur nämlich geht in diesem Jahr an den chinesischen Autor Mo Yan – ein Mann, der auch von vielen Chinesen als Staatsdichter angesehen wird, der den Dissidenten unter den Künstlern in den Rücken gefallen ist. Kommende Woche erhält der Chinese in Stockholm die begehrte Auszeichnung. Meine Kollegin Silke Ballweg hatte die seltene Gelegenheit, mit einem zu sprechen, der die Entscheidung gar nicht gut heißen kann: mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei.

    Silke Ballweg: Ai Weiwei, wenn Mo Yan jetzt in Stockholm den Literaturnobelpreis bekommt, dann wird jemand ausgezeichnet, der durchaus umstritten ist. Was halten Sie von ihm? Sehen Sie ihn auch so kritisch?

    Ai Weiwei: Ich halte das für einen ernsten Fehler. China ist ein Land, dessen Wirtschaft rasant wächst, aber das Land teilt nicht die grundlegende Werte der Menschenrechte. So viele Autoren in China haben keine Möglichkeit, ihre Meinung kundzutun. Leute werden ins Gefängnis geworfen und bestraft, nur weil sie irgendwas getwittert haben, weil sie Artikel publiziert haben. Wir leben in einer Gesellschaft, die seit Jahrzehnten die Meinung anderer unterdrückt.

    Und jetzt gibt man den Nobelpreis an einen Mann, der Vizepräsident des Schriftstellerverbandes ist, einer offiziellen Organisation, die voll und ganz hinter der Zensur steht, die sich nie für Autoren in Schwierigkeiten einsetzt, die Autoren nie hilft, sich beschwert oder auch nur nachfragt, wenn Schriftsteller verschwinden. Für Künstler in China, die unter der Zensur zu leiden haben, ist das eine tragische Entscheidung.

    Ballweg: Er wird jetzt nach Stockholm reisen und sich auszeichnen lassen, während der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo in China im Gefängnis sitzt. Geht das eigentlich?

    Ai Weiwei: Ich halte das fast für eine Schande, sowohl für Mo Yan als auch für das Nobel-Komitee. Es ist eine Schande. Sie machen sich zu Mitläufern eines Systems, das gegen Menschlichkeit und gegen Pressefreiheit ist. Es wird ein tragischer Moment werden.

    Ballweg: Er wird eine Rede vor der ganzen Weltöffentlichkeit halten. Muss er die Freiheit von Liu Xiaobo fordern?

    Ai Weiwei: Als bekannt wurde, dass Mo Yan den Preis bekommt, habe ich gesagt, es wird keinerlei Effekt auf Liu Xiaobos Situation haben. Außer: Mo Yan spricht sich dafür aus. Vor ein paar Wochen hat er dann kurz gesagt, er hoffe, dass Liu Xiaobo freikommen kann. Aber er hat nie angezweifelt, warum Liu Xiaobo eigentlich im Gefängnis ist, was man ihm überhaupt vorwirft.

    Er wird nicht drum herum kommen, diese Fragen zu beantworten, und ich bin sicher, dass sie ihm gestellt werden. Er sollte sich dazu ganz klar äußern und Forderungen stellen. Ansonsten ist es einfach nur eine Schande.

    Ballweg: Trauen Sie ihm das zu?

    Ai Weiwei: Er ist ein Produkt dieser Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass er es machen wird. Aber wer weiß, vielleicht unterschätzen wir ihn auch, und er äußert sich. Wir werden es sehen.

    Ballweg: Glauben Sie, dass der Preis zu einer gesellschaftlichen Öffnung innerhalb Chinas beitragen wird?

    Ai Weiwei: Ich glaube nicht, dass der Preis zu einer Öffnung führen wird. China ist derzeit sehr nervös, dass es zu irgendwelchen Aktionen kommen könnte. Noch vor zwei Jahren hat die Regierung den Nobelpreis kritisiert und heruntergespielt. Jetzt bringt die Auszeichnung China in eine sehr komische Situation. Die Politik ignoriert ja bis heute vorherige Preisträger, Li Xiaobo oder den Dalai Lama, deren Namen dürfen offiziell nicht erwähnt werden. Mal sehen, wie China jetzt mit dieser Situation umgeht.

    Ballweg: China hat kürzlich eine neue Führungsspitze bestimmt und politisch einen Generationswechsel eingeleitet. Werden politische Reformen kommen?

    Ai Weiwei: Reformen sind notwenig, absolut notwendig. Aber niemand weiß, was die neue Führung machen wird. Niemand kennt sie, und sie stellen sich ja auch nichts vor, wir werden sehen. Aber niemand weiß, was passieren wird.

    Ballweg: Sie selbst waren im vergangenen Jahr drei Monate in Haft und standen anschließend unter Hausarrest. Mittlerweile sind die Auflagen gegen Sie ausgelaufen. Sind Sie wieder ein freier Mann?

    Ai Weiwei: Sie haben gesagt, dass ich wieder ein freier Mann bin, und man hat alle Auflagen gegen mich fallen lassen. In Wirklichkeit aber habe ich immer noch nicht meinen Pass zurück, ich kann nicht reisen, und egal wo ich hingehe, ich werde immer noch verfolgt. Also ich bin kein freier Mann. Aber ich habe wieder mehr Möglichkeiten zu handeln.

    Ballweg: Die Behörden haben Sie mit einem Steuerverfahren unter Druck gesetzt. Wie ist der aktuelle Stand der Dinge?

    Ai Weiwei: Es ist sehr unklar. Niemand weiß genau, wie es weitergehen wird, und niemand hat bisher eine Erklärung abgegeben.

    Ballweg: Sie haben eine Gastprofessur erhalten nach Berlin. Wollen Sie immer noch nach Deutschland gehen?

    Ai Weiwei: Ich habe Zugeständnisse gemacht, und ich liebe Deutschland, ich wäre auch gerne ein Teil der Berliner Kulturszene. Ich könnte mir auch gut vorstellen, meine Gesundheit in Deutschland durchchecken zu lassen. Also ja!

    Ballweg: Ai Weiwei, vielen Dank. Thank you!

    Heckmann: Kommende Woche erhält der chinesische Autor Mo Yan den Literaturnobelpreis – Silke Ballweg sprach mit Ai Weiwei.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.