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"Es kümmert sie nicht"

Am 08.08.2008 wurden die ersten Olympischen Sommerspiele in China eröffnet. Peking wollte sich stellvertretend für das gesamte Reich der Mitte weltoffen, fortschrittlich und den großen Industrienationen gleichwertig präsentieren. Doch Pressezensur, Menschenrechtsverletzungen, tibetische Unruhen und Zwangsumsiedelungen warfen Schatten auf diese Spiele. Auch, weil das Internationale Olympische Komitee kleinlaut und ohne Rückgrat auftrat.

Von Grit Hartmann | 08.08.2010
    Die Bilanz von Jacques Rogge, dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, fiel aus wie erwartet:

    "The International Olympic Comitee is extremely pleased by the organisation of the Games. Bocog has clearly put the athletes in the centre of these Games. We had a splendid village. We had state of the art venues. We have an impeccable operation. We had great performances. More than 40 world records were set, more than 120 Olympic records.”"

    Selbstverständlich zählten für das IOC Rekorde. Selbstverständlich organisierten die Chinesen perfekt: Sie stellten den Athleten ein attraktives Olympisches Dorf hin; sie investierten 43 Milliarden US-Dollar in Prachtbauten wie das Vogelnest oder den Wasserwürfel. Der Water Cube dient inzwischen als Spaßbad, mit Eintrittspreisen, die sich die wenigsten Pekinger leisten können. Und im Olympiastadion wurden die Tribünen im Winter in einen Skihang umgewandelt. Am zweiten Jahrestag der Spiele-Eröffnung wird ausnahmsweise mal wieder ein Wettbewerb ausgetragen: Der FC Barcelona tritt gegen den chinesischen Fußballmeister an.

    Sensiblere Themen ließ Rogge in seiner Bilanz aus. Dabei hatten die Chinesen im Vorfeld der Spiele viele Versprechen abgegeben, auch dieses, ein Regierungssprecher:

    ""Was die internationale Kritik am illegalen Handel mit Medikamenten angeht, so nimmt die chinesische Regierung diese Kritik sehr ernst."

    Das IOC knöpfte China, dem Weltmeister im internationalen Dopinghandel, Regulierungszusagen ab. Und tatsächlich entzogen die Behörden etwa dem Pharmagiganten GeneScience die Lizenz zur Produktion seines Exportschlagers Jintropin, ein Wachstumshormon, benannt nach Firmengründer Lei Jin. Über die Anklage gegen ihn in den USA berichtete 2008 auch die ARD in ihrer Dokumentation "Im Reich der Mittel":

    "Über 60 Seiten Anklageschrift zum angeblich millionenschweren Deal mit dem Wachstumshormon Jintropin: Das Internet war der Grundstein zum Handel mit menschlichem Wachstumshormon. In der Klageschrift wird ausgeführt, dass Lei Jin eine Vielzahl von Internet-Adressen nutzte ..."

    3, 5 Millionen Dollar bunkerte Lei Jin allein auf Schwarzkonten in den USA. Dort ist er noch immer zur Fahndung ausgeschrieben. Kürzlich wurde er erneut angeklagt, vom Vater einer jungen Frau, die einer der Dealer von Lei Jin im Drogenrausch ermordet hatte. In China hat Lei seine Lizenz längst zurück; Jintropin ist online wieder erhältlich. Wirklich erstaunlich ist das nicht: Die Regierung verdient mit am Dopinghandel - GeneScience gehört zu 70 Prozent dem Staat.

    Und dann war da noch das Thema, das den Ringe-Konzern in eine globale Glaubwürdigkeitskrise stürzte: die Menschenrechte. Rogge bilanzierte:

    "We acknowledge that the situation has not been perfect. But we acknowledge at the same time, that the situation was a major change in comparison to before the Games."

    Zwei Jahre später sieht auch Sophie Richardson, die Asien-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, eine Wandlung, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen:

    ""Es ist kein Zufall, dass wir einen bemerkenswerten Anstieg nicht nur der Anklagen und Verurteilungen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit beobachten. Wir stellen auch ein höheres Niveau an Überwachung fest. Das ist eine beliebte Methode des Staatssicherheitsministeriums, etwa durch den Einsatz von Videokameras. Es gibt mehr Überwachung im Internet. All das ist in den letzten Jahren passiert. Selbstverständlich gab es diese Probleme auch vor den Spielen. Aber die Zunahme von solcherart Missbrauch ist direkt mit der Stärkung der Sicherheitsdienste verbunden. Und die wiederum ist Resultat der Spiele."

    Richardson lastet dies auch den Diktatoren-Verstehern im IOC an. Die, meint sie, hätten "jämmerlich versagt". Es sei ihnen ums blühende Geschäft mit den Ringen gegangen und – ganz wie den Pekinger Machthabern – um ungestörte Spiele. Das IOC ignorierte selbst die so genannten Olympischen Gefangenen. Hu Jia, vom Europa-Parlament mit dem Sacharow-Preis geehrt, verbrachte gerade den dritten Geburtstag im Gefängnis, weil er "Menschenrechte statt Olympia" forderte. Die Anwältin Ni Yulan half Pekingern, deren Häuser olympischen Sportstätten weichen mussten. Zwar kam sie nach zwei Jahren Haft frei, aber:

    "Sie kann eines ihrer Beine nicht mehr benutzen. Als sie im Gefängnis war, wurde sie gezwungen zu kriechen - von ihrer Zelle zum Speisesaal. Sie ist inzwischen selbst obdachlos und lebt in einem Park in Peking. Und hatte das IOC dafür auch nur ein Wort übrig?"

    Human Rights Watch schlug dem IOC inzwischen vor, eine unabhängige Beobachtergruppe zu etablieren. Sie soll potenzielle Austragungsorte der Spiele auf die Einhaltung von Menschenrechts-Standards prüfen und zumindest Empfehlungen geben können.

    "Hauptsächlich, damit die Olympische Bewegung diese Standards nicht schwächt, sondern sie hochhält oder vielleicht sogar stärkt. Ob wir Erfolg haben, ist eine andere Frage. Aber es ist ein großer Schritt, dass Menschenrechtler jetzt sehr viel kritischer auf die Spiele schauen als vorher."

    Im letzten Oktober, auf dem IOC-Kongress in Kopenhagen, durfte Human Rights Watch seine Idee sogar präsentieren – allerdings folgenlos. Inzwischen sprachen die Herren der Ringe die Jugendspiele 2014 der chinesischen Metropole Nanjing zu. Wie wäre diese Vergabe zu vereinbaren mit der Vermittlung edler Werte, der die Jugendspiele dienen sollen? Überhaupt nicht, sagt Sophie Richardson:

    "Weil das IOC selbst so spektakulär damit gescheitert ist, essentielle Rechte zu verteidigen. Sie könnten fürs Bessere streiten. Das hinge davon ab, ob das IOC sich wirklich um solche Themen sorgt. Die nüchterne Wahrheit ist: Es kümmert sie nicht."