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"Es muss endlich Schluss sein mit der Überkorruption"

Um Afghanistan langfristig von den Taliban zu befreien, sei vor allem der Aufbau der Wirtschaft sowie ein striktes Vorgehen gegen die Korruption im Land wichtig, sagt der Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme, Rupert Neudeck. Hilfsgelder verschwänden viel zu oft in den Taschen der Regierung.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 21.01.2011
    Christoph Heinemann: Dirk Niebel hat heute im Bundestag eine Regierungserklärung zum zivilen Aufbau in Afghanistan abgegeben. Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von der FDP kündigte an, dass die Zahl der Entwicklungshelfer in Afghanistan deutlich aufgestockt werden soll.
    Am Telefon ist Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme, die in Afghanistan Schulen und Krankenhäuser baut. Guten Tag!

    Rupert Neudeck: Guten Tag, Herr Heinemann!

    Heinemann: Herr Neudeck, Niebel oder Käßmann? Wer zeichnet das wirklichkeitsgetreuere Bild von der Lage in Afghanistan?

    Neudeck: Beide nicht, würde ich klar sagen. Es ist natürlich sehr vieles besser geworden in dem Land, aber nicht nur durch auswärtige Anstrengungen, sondern durch die Anstrengungen der Afghanen selbst. Der größte Fortschritt, den ich im Lande erlebe, der besteht darin, dass jetzt bei allen afghanischen Eltern klar ist, Mädchen müssen zur Schule gehen. Das ist nicht eine Anstrengung von außen gewesen, die den Menschen das eingeflößt hat, sondern das ist ihre eigene Entscheidung, auch die Mullahs sind dieser Überzeugung, und deshalb haben wir zum Beispiel beim Aufbau von Schulen gar keine Schwierigkeiten, darauf zu bestehen, dass Mädchen da hingehen müssen. Das ist mittlerweile eine selbstverständliche Tatsache in Afghanistan.

    Der Minister hat natürlich eine Hypothek mit sich zu tragen. Er hat natürlich in der Tat am Anfang seines Ministeramtes darauf gesetzt, dass auch deutsche Nichtregierungsorganisationen unter den Schirm der Bundeswehr kommen sollten, und damit hat er natürlich das Dilemma, dass er jetzt nicht davon sprechen kann, dass die zivilgesellschaftlichen Fortschritte im Lande sehr groß sind. Also beide haben eigentlich noch nicht verstanden, dass dieses riesengroße Land Afghanistan und die Afghanen, die unsere Freunde sein wollen, gerade die Freunde der Deutschen, eigentlich die wichtigen sind.

    Heinemann: Herr Neudeck, Mädchen können zur Schule gehen - Ich greife das auf -, weil die Soldaten die Taliban vertrieben haben.

    Neudeck: Nein, ganz im Gegenteil. Wenn man sich zurückerinnert – und das ist etwas, was, glaube ich, im Moment sehr wenig passiert -, hatten wir drei bis vier Jahre in Afghanistan, wo gar keine Taliban da waren, wo wir Sicherheit hatten für den Wiederaufbau. Das waren die Jahre 2002, '3, '4 bis hin nach '5. Wir haben dort in einer Situation gelebt, wo der Enthusiasmus der Afghanen mit uns war zum Wiederaufbau. Und dann hat aber die NATO und die internationale Staatengemeinschaft darauf gesetzt, dass wir diese großen, riesengroßen militärischen Vertretungen haben müssen, die eigentlich überall in einer Isolation liegen, nämlich in Festungen sind, die isoliert sind von der Bevölkerung, und das hat dazu geführt, dass wir eben noch nicht weitergekommen sind beim zivilen Wiederaufbau.

    Heinemann: Bedarf denn dieser zivile Wiederaufbau einer militärischen Absicherung?

    Neudeck: Ich meine ganz klar nein, auf Dauer nein. Es hat natürlich anfangs Notwendigkeit gegeben, für den Aufbau der Polizei und der Armee militärische Verbände aus den europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten dort zu haben, aber das war lange nicht in dem Maße der Fall, wie wir das heute haben. Heute haben wir eigentlich die Situation, dass das, was wir Taliban nennen, was nicht nur Taliban ist, sondern auch die alten Mudschaheddin unter Hekmatyar, Entführungskriminalität und so weiter, diese Sachen entstehen deshalb, weil die Afghanen ein so stolzes Volk sind und sich jetzt auch wieder ein bisschen besetzt fühlen durch die Anwesenheit von so vielen ausländischen Soldaten, die auch nicht weggehen. Das ist ja die Hypothek der afghanischen Geschichte, die ja immer nie geduldet hat, dass über lange Zeit die Briten oder die Rote Armee oder jetzt auch die Amerikaner und wir da zu lange sind.

    Heinemann: Halten Sie einen Rückfall in die Radikalisierung der Taliban nach einem Abzug des Militärs für möglich, oder für ausgeschlossen?

    Neudeck: Nein, ich halte es für dringlichst notwendig, dass jetzt das Entscheidende passieren muss, und das sind zwei Dinge, die jedem, der in Afghanistan ist – und ich gehe nächste Woche wieder da hin, um unsere Schulen zu besuchen -, klar sein müssen. Wir haben eine Situation, dass Hunderttausende junge Afghanen wieder in das Nachbarland, in den Nachbarstaat Iran gehen, um dort Arbeit zu finden, um dort ihre Gelder zu kriegen für ihre Familien. Das ist eine ganz ungute Situation. Das Wichtigste für Afghanistan ist, um die Taliban auszutrocknen, der Aufbau der Wirtschaft, der Aufbau der Wirtschaft im Lande. Und das Zweitwichtigste ist das, was die Bevölkerung auch dringlich verlangt. Es muss endlich Schluss sein mit der Überkorruption in der Zentrale in Kabul. Der Bruder, der älteste Bruder des Präsidenten Karsai, den wir so sehr zu Unrecht hofieren, der Bruder des Präsidenten Karsai ist weiter bekanntermaßen in ganz Afghanistan der größte Opiumhändler des Landes. Damit muss man einfach Schluss machen. Der Einzige, der das ganz klar öffentlich gesagt hat im Lande und der dafür bejubelt wurde bei den Afghanen, war Präsident Obama bei seinem ersten Besuch. Der hat das ganz klar ins Angesicht dem Präsidenten gesagt.

    Heinemann: Welche Erfahrung haben Sie vor Ort mit Korruption gemacht?

    Neudeck: Wir erleben, dass die Afghanen uns sagen, alles das, was von Kabul kommt, was auch an Budgets rübergegeben wird in die Provinzen, kommt eigentlich nicht an. In der Provinz, in der wir jetzt die 32. Schule in den Dörfern aufgebaut haben, ist es so, dass uns die Bevölkerung und auch die Mullahs dort sagen, alles das, was von Kabul herunterkommt mit dem Manna der auswärtigen Entwicklungshilfe, kommt in den Regionen und in den ländlichen Regionen zumal nicht an. Und das hat damit zu tun, dass dieses Geld in der Hauptsache in den Taschen derer verschwindet, die die neuen Funktionsträger dieser Regierung sind. Das ist eine ganz schlimme Tatsache und das möchte die Bevölkerung eigentlich verhindert und abgeschafft sehen. Aber sie hat ja erlebt, dass der Wahlfälscher, der nun eindeutig Karsai gewesen ist bei der letzten Wahl im letzten Jahr, von unserer internationalen Staatengemeinschaft zum neuen, zum weiter geltenden Präsidenten des Landes gemacht wurde. Das, glaube ich, ist das, was die Bevölkerung nicht versteht und wo wir auch in einem Dilemma sind.

    Heinemann: Herr Neudeck, noch mal zurück zur deutschen Debatte. Halten Sie den Vorwurf einer Militarisierung der Entwicklungshilfepolitik für berechtigt oder nicht?

    Neudeck: Ich halte ihn in Teilen für berechtigt, ohne dass ich mit dem Finger auf jemanden zeigen würde, denn wir alle sind natürlich im Boot drin. Für uns ist Afghanistan eigentlich die Anwesenheit der Bundeswehr dort selbst, in diesen Kasernen in Kundus, in Mazar-i-Scharif und in Kabul. Das, glaube ich, ist der Beginn dieser Militarisierung. Wir haben die zivile Hilfe und die Ausdehnung der zivilen Bereiche. Zum Beispiel gab es ein Generalkonsulat der deutschen Botschaft in Herat im Westen des Landes. Das ist einfach ersatzlos gestrichen worden. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass wir viel zu stark auch in unseren Köpfen, auch in unseren politischen Köpfen von Militär ausgehen, wenn wir von Afghanistan sprechen. Wir haben auch Afghanistan geteilt wegen des Militärs. Wir haben Afghanistan in unserem politischen Bewusstsein geteilt in das Mandatsgebiet der Bundeswehr, in das dürfen alle Abgeordneten und Funktionsträger unserer Republik gehen, und in das andere Afghanistan. Das ist nicht das Mandatsgebiet der Bundeswehr. Und so haben wir das Land, das eigentlich mit uns befreundet sein will, Afghanistan, für uns geteilt.

    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Neudeck: Auf Wiederhören!