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"Es sei Gerechtigkeit!"

Es war der US-Amerikaner John Rawls, der 1971 mit seiner "Theorie der Gerechtigkeit" ein Standardwerk der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts veröffentlicht hat und damit aktive Politiker in ihrem täglichen Handeln inspirierte.

Von Rainer Kühn |
    "Fiat iustitia et pereat mundus!"

    Es sei Gerechtigkeit! Und ginge die Welt darüber zugrunde! Der Kaiser Ferdinand I. zugeschriebene Wahlspruch bezeugt die geradezu inbrünstige Hingabe an eine der zentralen Kategorien unseres abendländischen Denkens. Schon die ersten schriftlich fixierten Zeugnisse unserer Hemisphäre, die Aufzeichnungen des griechischen Geschichtsschreibers Thukydides, behandeln das Thema. 1971 machte sich der US-amerikanische Rechtsphilosoph John Rawls daran, eine Theorie der Gerechtigkeit zu entwickeln:

    "Ich habe versucht, die herkömmliche Theorie des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rousseau und Kant zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsstufe zu heben. Damit hoffe ich, eine systematische Analyse der Gerechtigkeit zu liefern, die, so behaupte ich, der der vorherrschenden [ ... ] Tradition überlegen ist."

    Wie müsste eine gerechte Gesellschaft konzipiert sein? Rawls schlägt zur Klärung dieser Frage ein Gedankenspiel vor. Es lautet: Versetzen wir uns in eine Situation, in der die Menschen noch nicht vereinbart haben, in welcher Gesellschaft sie leben wollen. Eine Situation, in der niemand weiß, was er besitzen, erreichen oder erben kann. In diesem Urzustand wäre also jeder von einem Schleier des Nichtwissens über seine Stellung in der zukünftigen Gesellschaft umgeben. Dann müssten doch alle, so Rawls Annahme, schon aus purem Eigennutz darauf pochen, dass niemand in der künftigen Gesellschaft unter die Wölfe fällt. Gerechtigkeit ist hier also das Ergebnis rationaler Abwägung. Genauso wie bei Rawls Vorbild Immanuel Kant. Auch der hatte versucht, eine Gesellschaft zu begründen, die "selbst einem Volk von Teufeln" einleuchten würde, "wenn sie nur Verstand hätten". In diesem Sinne schreibt Rawls:

    "Zur Gerechtigkeit als Fairness gehört die Vorstellung, dass die Menschen im Urzustand vernünftig sind."

    Unter dieser Voraussetzung würden sich alle, so die Fortsetzung des Gedankenspiels, auf einen Gesellschaftsvertrag verständigen, der vor allem eine Bedingung erfüllen müsste. Nämlich, dass selbst die am schlechtesten Gestellten immer noch Vorteile aus der neuen Gesellschaft zu ziehen vermögen. Dann – und nur dann – würde jeder den zwei Prinzipien dieser gerechten Gesellschaft zustimmen:

    "1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
    2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen."


    Juristen können zumeist nicht schreiben. Rechtsphilosophen auch nicht. Rawls will mit seinen Gerechtigkeits-Prinzipien sagen, Erstens: Jeder kann tun und lassen, was er will, solange er die Freiheit anderer nicht einschränkt. Das ist liberales Allgemeingut und theoretisches Grundlagenverständnis. Spannend ist aber der zweite Punkt: Ungleichheiten sind demnach nur dann zulässig, wenn einerseits jedermann alles machen darf: Wenn also die Gesellschaft selbst dem Afro-Amerikaner erlaubt, vom Tellerwäscher zum Millionär oder gar zum Präsidenten aufzusteigen. Und wenn andererseits auch noch die Gemeinschaft aus der Ungleichheit Nutzen zieht. Natürlich wollte der US-Amerikaner Rawls keine gleichmacherische Gesellschaft. Gerecht würde es, seinen zwei Grundsätzen nach, dann zugehen, wenn im ungleichen Verhältnis zwischen dem Hedgefond-Manager und dessen Putzfrau auch die schlechter gestellte Haushaltshilfe noch ihren Vorteil findet. Wenn also die Millionen-Abfindung des geschassten Börsen-Zockers dazu führt, dass er seine Zugehfrau ein paar Stunden mehr pro Woche Staub wischen lässt. Sie verdient dann nämlich etwas mehr, zahlt auch etwas mehr Steuern – und die ganze Gesellschaft hat etwas von der Ungleichheit. Die britische New Labour-Party unter Tony Blair griff diese Überlegungen bei ihrer Suche nach einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus begeistert auf. Ebenso die deutsche Sozialdemokratie. Unter Gerhard Schröder vertrat die SPD die Formel "Chancen-Gerechtigkeit statt Verteilungs-Gerechtigkeit" und setzte die sogenannten Hartz-IV-Reformen um. Allerdings profitierten die am schlechtesten Gestellten der Gesellschaft hierdurch nicht - ganz im Gegenteil: Ihnen wurde noch etwas genommen. Mit dem angeblichen Ideengeber John Rawls und dessen Theorie der Gerechtigkeit hatte das alles also nichts zu tun. Bei ihm sollten ja selbst die Schwächsten von Ungleichheit profitieren, damit sie dem Gesellschaftsvertrag zustimmen - und nicht dem Gemeinwesen das Vertrauen entziehen. Denn wer weiß schon, wozu es langfristig führt, wenn nicht mehr gilt: Es sei Gerechtigkeit!


    John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp Verlag, 688 Seiten, 18,00 Euro. ISBN: 978-3-51827-871-0