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"Es war ein regelrechtes Bedürfnis"

300.000 Menschen lernen jährlich per Fernstudium, sagt der Fachverband für Fernlernen und Lernmedien in Hamburg. Berufstätige, junge Mütter und - wie das folgende Beispiel zeigt - Rentner. Ein 73-jähriger Thüringer wird heute vom Staatssekretär im Bundesbildungsministerium für lebenslanges Lernen ausgezeichnet, weil er vor drei Jahren noch einmal ein Fernstudium zum Psychologischen Berater gemacht hat.

Von Ulrike Greim |
    "So, na dann können wir ja anfangen."

    Oben, in der ersten Etage eines leicht schäbigen Hinterhauses, das noch den spröden Charme der DDR versprüht, treffen sich in einem Kursraum vier Männer. Drei sind langzeitarbeitslos, der vierte leitet sie an: Manfred Baumann, "Diplom-Psychologischer Berater ILS", ILS steht für Institut für Lernsysteme.

    "Also ich bin der Souffleur. Jens - alles klar?" "Ja ja" "So, kann losgehen!"

    Es ist die Theatergruppe des "Sozialen Integrationszentrums" im Horizont-Verein Nordhausen. Heute probt sie Sketche.

    "He, Constanze, ich habe einen Freund vom Kiosk mitgebracht, der ist ganz in Ordnung" "Ach so, aha"

    Manfred Baumann, 73, weiße Haare, gestutzter Bart, Hemd, Weste, sitzt mit dem Manuskript in der Hand sprungbereit auf seinem Stuhl. Wenn die Szene dahinplätschert, interveniert er.

    "Was ist eigentlich das Zeichen dafür, dass jemand sich eigentlich nicht richtig dafür interessiert, was jemand sagt..."

    Körpersprache, Ausdruck, Aus-sich-Herausgehen - die Männer, denen das Arbeitsamt seit langem regelmäßig signalisiert, dass man sie nicht braucht, haben Mühe damit. Sie vertrauen ihrem eigenen Auftreten nur zögerlich. Erfolge gibt es in kleinen Häppchen, wenn überhaupt.

    "Bei der Theatergruppe geht es darum, sich darzustellen, (darum,) dass sie glaubhaft sind. Weil sie sich ja gerne zurückziehen...."

    Wie motiviert man Menschen, was hilft ihnen, wie spricht man mit Mutlosen, welche Ziele kann man helfen, zu stecken? Das sind Fragen, mit denen sich der 73-Jährige auseinandergesetzt hat. Per Fernstudium. Mit 59 war er als Hochschuldozent, der Lehrer ausgebildet hat, in den Ruhestand gegangen.

    "Da habe ich erst einen Yoga-Lehrgang gemacht, dann diese Anpassungslehrgänge für Lehrer gemacht, dann bin ich Vorsitzender der Urania geworden, also einer Bildungsgesellschaft, dann bin ich Stadtrat geworden..."

    Und dann flatterte ein Werbeprospekt für das Fernstudium zum psychologischen Berater ins Haus. Manfred Baumann meldete sich an.

    "Als ich den Vertrag unterschrieben hatte, kriegte ich ein großes Paket mit Studienheften, dazu gab es noch Aufgabenhefte."

    Nachmittags setzte er sich zuhause hin und arbeitete sie durch. Die Lösungen, die Fallbeispiele, gingen per Post nach Hamburg.

    "Es dauerte ne Weile, und dann kriegt man sein Material zurück mit entsprechenden Bemerkungen."

    Es war Winter, erzählt er, also habe er Zeit gehabt. Habe manche Beispiele mit seiner Frau durchgesprochen. In neun Monaten arbeitete er den auf 15 Monate angelegten Kurs durch. Nach einer Präsenz-Woche in Hamburg schloss er mit der Note 1,2 sein Studium ab.

    "Es war nicht nur eine Anstrengung, es war eine Erholung, mal wieder an eine Sache richtig ran zu gehen, und sie richtig durch zu studieren, systematisch zu studieren."

    Ein richtiges Bedürfnis sei ihm das gewesen, sagt der 73jährige. Er habe immer schon gern gelesen und viel gearbeitet, lange Zugfahrten auch früher schon mit Fachliteratur überbrückt. Und da er zu seinen Dienstzeiten schon Herzinfarktpatienten beraten hat, später Klienten einer Behindertenwerkstatt, wollte er nun gerne auch einen Abschluss in der Beratungsarbeit nachweisen können.

    (Theaterszene) "Oh, du hast es ja wirklich gemütlich Zuhause" "Na ja, geht so" "Bis auf die Luft" "Was?" "Sehr trocken, würde ich sagen, fast schon staubig." "Ach so. Hattest du, Constanze, vorhin nicht was von Bier-Holen gesagt?"

    Nun kommt er einmal pro Woche ins Soziale Integrationszentrum Nordhausen geradelt. Er erarbeitet Konzepte, bietet zwei Kurse an, einen für Analphabeten und eben die Theatergruppe. Manchmal ergäben sich persönliche Gespräche, sagt er.

    "Ja, Jens: prima heute. Also: ein paar Aussetzer. Hast die unterschiedlichen Gefühlslagen zum Ausdruck gebracht. ..."

    Dass er nun im Bundesbildungsministerium ausgezeichnet wird, freut die Leiterin des Zentrums, Stefanie Seeboth. Sie könnte mehr von diesen Baumanns gebrauchen.

    "Ich denke, er kommt auch sehr gut an bei den Teilnehmern, die kommen auch regelmäßig zu ihm. Da haben wir schon eine große Unterstützung."