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"Es war eine Totenstille"

Am 8. März 1968 gingen in Polen Studenten auf die Straße, um gegen das Aufführungsverbot des Russland-kritischen Dramas "Die Totenfeier" von Adam Mickiewicz zu demonstrieren. Die Proteste wurden niedergeschlagen und die Regierung wies immer auf die jüdische Herkunft der Verhafteten hin und zwang Tausende von ihnen zur Immigration. Der polnische Historiker Karol Sauerland beschreibt die Zeit nach 1968 in Polen als "Totenstille".

Moderation: Stefan Koldehoff |
    Stefan Koldehoff: In Polen wird heute ein Jahrestag gefeiert, dessen Interpretationen und Auswirkungen in unserem Nachbarland auch 40 Jahre nach den Ereignissen, um die es geht, noch umstritten sind. Am 8. März 1968 gingen im ganzen Land Studenten auf die Straße, um vordergründig gegen einen Akt der kulturellen Zensur zu demonstrieren. Die kommunistische Regierung hatte kurz zuvor die weitere Aufführung des Russland-kritischen Dramas "Die Totenfeier" des Nationaldichters Adam Mickiewicz verboten, und Studenten, die dagegen protestierten, der Universitäten verwiesen. Mickiewicz zählte zu jenen Intellektuellen, die die Aussöhnung der jüdischen mit der katholischen Bevölkerung Polens als Aufgabe ansah. Und so ist es auch kaum verwunderlich, dass den 68ern in Polen sehr schnell von der Regierung vorgeworfen wurde, sie seien Zionisten, Revisionisten und Trotzkisten. Die Regierung schlug die Proteste nieder, wies immer auf die jüdische Herkunft der Verhafteten hin und zwang Tausende von ihnen zur Immigration. Ich habe den polnischen Historiker Karol Sauerland gefragt, ob das denn nicht ein Anzeichen dafür sei, dass die 68er Bewegung in seiner Heimat lange vor diesem Jahr begonnen hat?

    Karol Sauerland: Ja, für mich war es die Verlängerung von 1956. Als die ganzen sogenannten stalinistischen Verbrechen, deren Zahl groß war in Polen, aufgedeckt wurden, hat man versucht, später das kommunistischen Funktionären jüdischer Herkunft in die Schuhe zu schieben. Es war auch eine perfide Abrechnung mit dem Stalinismus.

    Koldehoff: Sie haben diese ganzen Ereignisse von Ostberlin aus verfolgt, wo Sie sich als Stipendiat aufgehalten haben, konnten nicht in Ihre Heimat zurückkehren, weil Sie damit hätten rechnen müssen, nicht das Stipendium fortsetzen zu können. Als Sie dann doch wieder zurückgekehrt sind nach Polen, wie haben Sie die Atmosphäre, wie haben Sie die Gesellschaft dann erlebt?

    Sauerland: Es war eine Totenstille. Es gab keine wirkliche akademische Freiheit mehr, die relativ groß war in den 60er Jahren, und es gab keine künstlerische Freiheit mehr. Die sogenannten Salons wurden zugemacht. Denn, wenn man sich getroffen hätte zu, sagen wir mal, sechs Leuten auf einmal und über irgendwelche kulturellen Probleme gesprochen hätte, dann wäre man sofort als konterrevolutionäre Gruppe gleichsam denunziert worden. Und das war dann eine große Öde, die dann langsam durch die Entstehung von Solidarność aufgebrochen wurde. Aber die vielen Leute, die weggegangen sind, sind natürlich nicht zurückgekommen.

    Koldehoff: Was bedeutet das im Umkehrschluss für heute? Hat die polnische Gesellschaft diesen Exodus, von dem Sie sprechen, verkraftet? Ist er heute noch nicht wieder aufgeholt?

    Sauerland: Nach meiner Meinung ist er in der Kultur und im Geistigen im gewissen Sinne nicht aufgeholt. Natürlich versucht jetzt eine neue, junge Generation, ganz neu anzufangen. Aber das, was verloren gegangen ist, hat, weil die Schüler dieser Leute, die dann hochgekommen sind nach 68, sich nur zum ganz geringen Teil emanzipiert haben. Es ist eine große Menge von passiven Schülern entstanden.

    Koldehoff: Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass das Erbe von 68 in Polen ein ausschließlich negatives ist?

    Sauerland: Nach meiner Meinung ja. Die jungen Leute, so wie Adam Michnik, die damals so um die 20 waren, 22, nehmen an, dass das der Anfang für ihre Karriere, für ihre Widerstandskarriere ist. Und es ist auch der Anfang. Aber sie sehen nicht den großen Verlust, oder sie wollen ihn nicht sehen, den großen Verlust, der entstanden ist. Ich sehe mehr das Negative als das Positive an dem Jahr 68.

    Koldehoff: Der polnische Historiker Karol Sauerland zu den Protesten gegen das kommunistische Regime heute vor 40 Jahren in Polen.