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Es war einmal in Deutschland

"Ein Auto raste auf eine Kreuzung zu - ein Fuß tastete nach dem Bremspedal - trat es durch - versuchte es noch einmal - nichts, gar nichts! Hände krampften sich um das Steuer - dann ein Lastwagen - der alte Wartburg raste in ihn hinein - das Aufkreischen von Metall, ein Geräusch , das durch Mark und Bein ging - dann Stille - Totenstille. Hände tauchten auf - teilten das zerquetschte Metall - hoben den leblosen Körper aus dem Wrack und trugen ihn davon - einen Körper mit einem schwarzen Anzug und einem weißen Kragen - dem Kragen eines Pfarrers. Tote Augen starrten ihn an, ihr Blick schnürte ihm die Kehle zu. Er rang nach Atem. Die verschwommenen Züge des Gesichts schwebten vor ihm, lösten sich auf, setzten sich wieder zusammen."

Sabine Arnold |
    Das ist der Traum des DDR-Stasiagenten Udo Spangler, nachdem er in der Nacht zuvor dem System einen Gegner aus dem Wege geräumt - das heißt: ermordet - hatte. Gewissensbisse plagen den ehemaligen Wehrmachtsdeserteur, der aus Abscheu vor den Gefangenenerschießungen der SS 1945 zur Sowjetarmee übergelaufen war. 15 Jahre später wird er für ein anderes totalitäres Regime dann doch zum Mörder. So blind machen Ideologien.

    Der langjährige Washington-Korrespondent der ARD, Werner Sonne, und der Arzt Mort Ehudin haben in ihrem Roman "Es war einmal in Deutschland" zwei Welten aufeinanderprallen lassen: die Welt der Demokratie und die des Totalitarismus. Schauplätze der Geschichte sind Moskau, Washington, Heidelberg und Berlin, die Figuren John F. Kennedy, Nikita Chruschtschow, Willy Brand und die Geheimdienstchefs aller beteiligter Staaten.

    Die Geschichte spielt 1961, dem Jahr des Mauerbaus in Berlin. Der Kalte Krieg war auf seinem Höhepunkt, und wahrscheinlich drohte der Dritte Weltkrieg nie so gefährlich wie in dieser Zeit. Um dieses dramatische weltgeschichtliche Ereignis herum erzählen Werner Sonne und Mort Ehudin eine Spionagegeschichte, in der sie reale zeitgeschichtliche Fakten mit einer fiktiven Romanhandlung verweben. Der sowjetische Geheimdienst KGB versucht, mithilfe ostdeutscher Stasi-Agenten einen amerikanischen Atomwaffenstützpunkt unter seine Kontrolle zu bringen. Der amerikanische Offizier und Arzt Marc Hammond läßt sich 1961 nach Deutschland versetzen, weil er sich als Enkel deutsch-jüdischer Großeltern auf die Suche nach seinen Wurzeln machen will. Durch seine Liebe zu der Heidelberger Kellnerin Anna wird er in die Machenschaften der Stasi verwickelt, denn Anna ist nur wenige Monate zuvor aus Greifswald geflohen. Sein Gegenspieler, der Wehrmachtsdeserteur und Stasiagent Udo Spangler, ist in Greifswald auf einen Pfarrer angesetzt, zu dessen Gemeinde die Eltern der Kellnerin Anna gehören. So kommt es schließlich zur Konfrontation der beiden Helden.

    Die beiden Autoren erzählen gekonnt und eingängig in kurzen Kapiteln, die ihnen radikale Szenenwechsel erlauben. So springt die Erzählung sehr kurzweilig von dem amerikanischen Wahlverlierer Eisenhower zu einer Liebesszene in Heidelberg, dann zu Molotows Datscha in der Nähe von Moskau und so fort. Szenen werden geschildert und wieder verlassen wie in einem Film, und wie in einem Theaterstück wird die Handlung meist durch die Dialoge vorangetrieben.

    Die Erzählung ist auf diese Weise unterhaltsam und abwechslungsreich, doch fehlt es ihr an psychologischer Tiefe und Raffinesse: Die Gespräche sind so stimmig als wüßten die Sprechenden schon von vornherein, zu welchem Zweck sie sich unterhalten. Die Handlung ist zu dicht und durchschaubar, um wirklich glaubhaft zu sein. So ist der blutjunge Wehrmachtssoldat Spangler an seiner viel zu großen und bereits getragenen SS-Uniform als Soldat des letzten Aufgebots im Frühjahr 1945 zu erkennen. Er ist gerade zu seinem ersten Einsatz ausgerückt, als er bereits an der Erschießung russischer Soldaten teilnehmen muß. Er desertiert noch am selben Tag und hat schon am Abend die Gelegenheit, einem verletzten polnischen Mädchen das Leben zu retten.

    Wohin eilen die Autoren? Warum können sie ihren Figuren nicht die Zeit lassen, sich zu entwickeln? Während Spangler noch die verletzte Polin in den Schlaf wiegt, wird das Haus schon von russischen Granaten getroffen, und Spangler freut sich auf die russische Gefangenschaft.

    "Kommt, Kameraden. Nehmt mich gefangen. Udo Spangler schließt sich aus tiefstem Herzen eurem Kampf gegen die Faschistenschweine an. Ohne auf die Flammen zu achten, die um ihn herum auflodertern, die Seite seines Gesichts anleckten und das Fleisch seines Ohrs vermengten, lächelte er dem ersten Russen entgegen, der in die brennende Hütte hineinspähte."

    Diese Szene hat mit Kriegsrealität nichts zu tun. Es gibt auf dem deutschen Buchmarkt inzwischen eine Fülle von historischer Literatur und seit 1991 viele Dokumentarfilme, in der sich die Autoren über das Frontleben und die Stimmung der Truppe besonders in Ostpreußen und Polen hätten informieren können. Die Episode erinnert eher an die simpelgestrickte DDR-Geschichten, die im Stil des sozialistisch-realistischen Heldenromans von guten deutschen Antifaschisten erzählten. Daß die Autoren aber nicht in diesem Sinne parteiisch sind, zeigt das Ende des Buches.

    "Marc Hammond saß in mehrere Kissen gelehnt in seinem Krankenhausbett. Sein Kopf war immer noch dick bandagiert. Er griff nach dem Handspiegel, der auf seinem Nachttisch lag, und betrachtete sich eingehend. Ein blasses unrasiertes, verquollenes Gesicht sah ihm aus dem Spiegel entgegen. Grinsend streckte er seinem Konterfei die Zunge heraus. Er sah wirklich aus wie Frankensteins Sohn."

    Vor unserem inneren Auge sehen wir Humphrey Bogart sein gequältes Lächeln aufsetzen, mit dem er am Ende aller Film-Schnulzen seine Siege zu feiern pflegte. Auch der Aufmacher der Tageszeitung auf dem Krankenbett verkündet übrigens seinen Sieg. Die Welt weiß also schon von seiner Heldentat. Und als sei das alles noch nicht genug, gesteht ihm seine Frau wenige Minuten später, daß er Vater werde. Womit könnte man den Helden der Geschichte eigentlich noch belohnen? Währenddessen schreibt sein Kontrahent Valerij Genadin - alias Aleksandr Schelepin, Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB, sein Rücktrittsgesuch an Chruschtschow: "Genadin stöhnte. Mit schleppenden Schritten ging er zurück zu seinem Schreibtisch und ließ sich in den Sessel sinken. Noch einmal fiel sein Blick auf das Leninporträt an der Wand gegenüber."

    Ist die Denkweise unserer Auslandskorrespondenten und politischen Redakteure wirklich so einfach gestrickt? Das möchte man nicht glauben. Oder sind die Autoren da auf den neuen Zug aufgesprungen, der sich beim Fernsehen "Histotainment" nennt und historische Dokumentationen zu Unterhaltungsschlagern aufpeppen soll? Geschichte als Seifenoper, Agenten mit Humphrey-Gesicht: "Es war einmal in Deutschland."