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"Es wird an keiner Stelle hier in diesem Land möglich sein, einfach so weiter zu leben wie seither"

Die Steuerpolitik ist ein Thema, bei dem sich Hans-Peter Keitel - Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) - von der schwarz-gelben Koalition noch "gerne positiv überraschen lassen" möchte. Lob gibt es hingegen für das Energieprogramm der Bundesregierung, das zu Unrecht oft "verkürzt als ein Bekenntnis zur Kernkraft" gewertet werde.

Hans-Peter Keitel im Gespräch mit Gerhard Irmler | 21.11.2010
    Außerdem spricht der Wirtschaftslenker im Interview der Woche über die Erfolgsrezepte der deutschen Wirtschaft, und wie diese exportiert werden können sowie über die Zukunft von Großprojekten in Deutschland.


    Irmler: Herr Keitel, Sie haben, bis vor Kurzem noch, mit einer für einen BDI-Präsidenten ungewöhnlichen Offenheit und Deutlichkeit die Schwächen der schwarz-gelben Koalition benannt – "Weniger reden, weniger streiten, endlich handeln", war das Leitmotiv Ihrer öffentlichen Kritik. Sind Sie denn inzwischen zufriedener mit dem Regierungshandeln, mit der Kanzlerin und ihren Koalitionspartner?

    Keitel: Offenheit gehört, glaube ich, zu einem seriösen Geschäft, und auch der BDI verträgt ja umgekehrt Offenheit und Kritik an seiner eigenen Arbeit. Das betrachten wir durchaus als konstruktiv, und in diesem Fall, glaube ich, hatte es auch ein konstruktives Ergebnis. Ich sehe wohl, dass die Regierung sich nicht nur unserer, sondern auch die Kritik anderer sehr zu Herzen genommen hat. Sie hat ja selbst gesagt, dass der Anfang nicht besonders glücklich war, und seit der Sommerpause kann man hier ein deutliches Zunehmen, nicht nur an Geschwindigkeit und Ernsthaftigkeit, sondern auch an Entscheidungsfreude sehen. Und das halte ich für ein gutes Ergebnis.

    Irmler: Werden Sie auch gehört?

    Keitel: Ich denke ja, denn wir haben uns gegenseitig – Sie haben das gesagt – nichts geschenkt, aber ich glaube nie destruktiv, sondern es ist immer unser Ziel gewesen, nicht in erster Linie die Regierung zu kritisieren, sondern eine eigene Vorstellung zu entwickeln und aus dieser eigenen Vorstellung dann zu sagen, wie wir denken, dass man es auch besser machen kann. Das – ich sag's noch mal – akzeptieren wir ja umgekehrt auch. Auch wir haben ja durchaus Potenzial, das eine oder andere besser zu machen. Und die Industrie hat gezeigt gerade in dieser Krise, dass sie sehr lernfähig ist, denn das Ergebnis des Wirtschaftsaufschwungs ist in erster Linie ein Ergebnis dessen, was die Wirtschaft in den letzten 12 und 18 Monaten geleistet hat.

    Irmler: Und der Politik, den Politikern der schwarz-gelben Koalition gestehen Sie so zusagen die gleiche Lernfähigkeit zu?

    Keitel: Aber natürlich, das ist doch die Voraussetzung.

    Irmler: In einem Punkt, Herr Keitel, müssten Sie ja zumindest hoch zufrieden sein, nämlich als bekennender Atomkraftbefürworter. Es wurden die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängert, und damit hat sich die Koalition, jedenfalls wie SPD, Grüne, Linke und Atomkraftgegner kritisieren, einer weiteren Klientenpolitik schuldig gemacht.

    Keitel: Es ist ja ganz eigenartig, dass das ambitionierteste Energieprogramm, das eine Regierung weltweit auf den Weg gebracht hat, verkürzt gesehen wird als ein Programm zur Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke, und dass eine dezidierte Äußerung von Unternehmensführern für alternative Energien, und in diesem Zusammenhang mit der klaren Aussage, das kann nur gehen, vor allem finanziell, wirtschaftlich nur gehen zu erträglichen Preisen, wenn wir die Investitionen in die Kernkraftwerke, die wir ja längst getätigt haben, dann auch nützen, dass diese Äußerungen ständig nur gesehen werden verkürzt als ein Bekenntnis zur Kernkraft. Viel, viel deutlicher haben wir gesagt, dass wir uns bekennen zu einem Umbau der Energieversorgung, im Übrigen auch der Wirtschaft – hin zu einer Schonung der Ressourcen und damit auch zu alternativen Energien. Und alles, was dazu beiträgt, dass wir eine sichere, saubere und bezahlbare Energie haben, das unterstützen wir.

    Irmler: Aber zu diesem Energiekonzept, von dem Sie jetzt gerade gesprochen haben, gehört ja die Kernkraft. Die Regierung nennt es eine "Brückentechnologie", die Industrie geht aber davon aus, dass diese "Grundlastenergie" ständig da sein muss?

    Keitel: Wir brauchen natürlich immer, egal wann, eine Grundlastversorgung. Es geht ja nicht, dass wir nur die Spitzen versorgen. Und diese gleichmäßige Grundlastversorgung können die alternativen Energien schlicht und einfach technisch derzeit nicht herstellen, denn wir alle wissen ja, dass die Sonne nicht 24 Stunden scheint und der Wind nicht 24 Stunden bläst. Also müssen wir einen vernünftigen Energiemix haben, der die gesamte Energieversorgung sicherstellt – und dieses nicht am Reißbrett entwickelt, sondern ausgehend von dem, was wir längst hier in Deutschland an Energieversorgung investiert und etabliert haben. Hier ist der Anknüpfungspunkt, und dazu gehört es, dass wir das, was längst hier existiert, dann auch in einer vernünftigen Weise weiter nutzen bis zu einem vertretbaren – ich sage ganz deutlich – technisch und sicherheitstechnisch vertretbaren Punkt.

    Irmler: Wie stellen Sie sich zum Beispiel die Energieversorgung der Zukunft vor? Auf der einen Seite also Atomkraftwerke weiter laufen lassen, dann Hinzuschalten von Windkraft? Glauben Sie, dass Deutschland auf Kernkraftwerke völlig verzichten kann irgendwann?

    Keitel: Das ganze Energieprogramm der Bundesregierung geht davon aus, dass wir irgendwann darauf verzichten können. Und dieses irgendwann ist ja nicht in der Luft, sondern es ist ja sehr deutlich im Prinzip für jedes einzelne Kraftwerk festgelegt. Wir leben ja auch heute mit einer Energieversorgung, die zu hohem Maß auf fossiler Energie beruht, das heißt, die Verbrennung der einheimischen und der importierten Kohle, die Verbrennung von Gas. Das wird noch lange, lange eine Rolle spielen. Also wir dürfen nicht so tun, als gäbe es nur zwei Möglichkeiten – Kernkraft auf der einen und alternative Energien auf der anderen Seite.

    Irmler: Nun hat ja nach langem Hin und Her, Herr Keitel, die schwarz-gelbe Koalition eine Gesundheitsreform verabschiedet. Das kann man positiv zur Kenntnis nehmen, es gibt natürlich auch viel Kritik. Auf der anderen Seite hat sie es immer noch nicht geschafft, zum Beispiel sich an eine Steuervereinfachung heranzumachen. Es sind Versuche unternommen worden, aber eine Einigung ist ja noch lange nicht in Sicht. Und im Koalitionsausschuss am vergangenen Donnerstag konnte sich ja die Koalition weiterhin nicht über Steuerfragen einigen. Also: Uneinigkeit in Steuerfragen, weiter Uneinigkeit bei anderen wichtigen Themen, zum Beispiel der Gewerbesteuer, weiter Uneinigkeit bei der Zuwanderung qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte. Was sagen Sie denn zum Koalitionsausschuss vom vergangenen Donnerstag? Ist das nicht, das was man in der Vergangenheit schon immer gewohnt war, dass die Koalition mehr streitet, dass sie uneinig ist und im Grunde genommen immer nur faule Kompromisse schließt?

    Keitel: Ich will mich der Diktion nicht anschließen und will sagen, dass das, was an Kritik auch von uns ja über längerer Zeit gekommen ist, dass man beispielsweise in der Steuerprogrammatik etwas tun muss, dass das durchaus auch mit Diskussionen auf den Weg kommen kann, solange wir die Aussicht haben, dass es dort zu einem vernünftigen Ergebnis kommt. Was uns absolut nicht gefällt, ist die Diskussion um die Gewerbesteuer. Wir alle wussten von Anfang an – das ist ja nicht der erste Versuch, Gewerbesteuer zu modifizieren oder abzuschaffen, was noch besser wäre. Das ist schon mehrfach gescheitert, und man weiß, dass es ein sehr komplexes und kompliziertes Thema ist. Wenn man sich nicht zutraut, es wenigstens in die erste ernsthafte Diskussion zu bringen, also wenn man schon relativ früh wieder drauf verzichtet, dann wäre es klüger, die Dinge gar nicht in die Diskussion zu bringen. Denn wir erleben jetzt in der Tat bei der Steuer eine Diskussion, wo es heißt: Na ja, bei der Gewerbesteuer können wir da nicht drauf verzichten, wir müssen viel mehr dafür sorgen, dass es andere steuerliche Elemente gibt, die wir dazupacken, die den Kommunen ihre Situation erleichtert. Das ist keine wirklich gute Diskussion. Ich erwarte, dass wir in der Gewerbesteuerdebatte wenigstens so weit kommen, dass die Elemente, die auf die Substanz gehen, wo also Mieten und anderes besteuert wird, dass wir davon wenigstens runterkommen, sodass wenigstens ein kleines Ziel erreicht ist.

    Irmler: Dieses wurde aber zusammen mit den Stimmen der CDU beschlossen, der damalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück hat das ja angeregt und dann durchgesetzt, und die CDU hat freudig mitgestimmt.

    Keitel: Sie haben ja vorhin uns allen konzertiert, dass wir klüger werden dürfen. Und da sollten wir die Hoffnung auch nicht aufgeben, dass die gemeinsame Debatte – und das gemeinsame Streiten von mir aus auch – dahin führt. Ähnliches gilt ja für die Mehrwertsteuer. Was wir hoffentlich erwarten dürfen, ist, dass ernsthaft daran gegangen wird, die Steuern zu vereinfachen. Das gilt vor allem auch für die Einkommenssteuer, wo wir ja immer wieder vergessen, dass das nicht nur eine Steuer für Individuen, für Personen ist, sondern auch für Personengesellschaften, und dass wir eine Diskussion ernsthaft darüber führen: Wie können wir die Leistungsträger in dem Bereich der unteren Einkommen gemeinsam entlasten.

    Irmler: Der BDI hat ja Vorschläge, eine ganze Reihe von Vorschlägen – 170, wenn ich richtig informiert bin – zur Steuervereinfachung vorgelegt. Ein Punkt davon wurde von Finanzminister Schäuble aufgegriffen. Und die Kritik geht ja dahin, dass es heißt: Was im Moment auf dem Tisch ist, kostet zwar 500 Millionen Euro, sei aber letzten Endes ein Placebo.

    Keitel: Wir haben ja nicht bei den Vorschlägen sozusagen aus dem Vollen geschöpft, haben ja nicht gesagt: Lasst uns mal überlegen, was gehen könnte – so eine Art Wunschkonzert. Sondern es war ja auch uns klar, dass das irgendwo an einem Punkt dann wieder finanziert werden muss. Das heißt, der Großteil unserer Vorschläge ist aufkommensneutral. Und ich glaube schon, dass es sich rentiert, nicht nur über einige wenige Punkte der Steuervereinfachung zu diskutieren, sondern sich ruhig mal auch mit den Praktikern zu unterhalten, und zwar jetzt nicht in den Finanzämtern. Es geht nämlich nicht darum, in erster Linie die Verwaltung zu entlasten. Es geht auch darum, die Wirtschaft zu entlasten, den Steuerbürger zu entlasten, sich mal anzuhören, was jeder Einzelne an Erfahrungen hat, auch in der betrieblichen Steuer, was das für einen Aufwand bedeutet. Und ich glaube, da können wir eine Menge miteinander stemmen.

    Irmler: Nun sind ja die Deutschen – sage ich mal – als große Steuervermeider bekannt – und nicht nur die Privatpersonen, die Einkommenssteuer bezahlen, sondern auch die Firmen. Wundert es Sie, dass ein Finanzminister wie Peer Steinbrück die Substanzbesteuerung einführt – angesichts der Tatsache, dass viele Firmen ganze Anwaltskanzleien damit beschäftigen, wie man Steuern sparen kann oder am besten gar keine Steuern bezahlt?

    Keitel: Unternehmen beschäftigen in der Tat eine Menge von Experten, die sich mit der Steuer beschäftigen, und zwar in erster Linie deshalb, weil die korrekte Abführung und Deklarierung von Steuern heute so kompliziert ist, dass das für den Normalbürger kaum noch durchschaubar ist. Ich kann aus meinem eigenen Unternehmen das sehr gut beobachten. Dort sind die Finanzbeamten das ganze Jahr über im Unternehmen, kontrollieren praktisch die Steuerabteilung kontinuierlich, weil es sonst gar nicht mehr anders geht vom Aufwand her. Wir müssen hier deutlich zu Vereinfachungen kommen. Und eines kann ich Ihnen sehr deutlich sagen: Wir haben mit Peer Steinbrück damals schon – ja, ich kann das ruhig sagen – Krach angefangen über dieses Thema, weil es schlicht und einfach Unsinn ist, Substanz zu besteuern. Hier ging es um einige wenige Schlupflöcher, die nicht die Wirtschaft, sondern die Steuerbehörden, die Steuergesetzgebung versehentlich geschaffen hatte. Die kann man anders schließen. Dinge, wie die Zinsschranke und Ähnliches, was dort eingeführt wurde, sind schlicht systemfremd. Und man sieht es ja jetzt, dass ständig nachgebessert werden muss, dass es einfach nicht passt.

    Irmler: Und Sie glauben, dass Herr Schäuble das in Verbindung und in der Diskussion mit der FDP abschafft?

    Keitel: Jetzt geben wir dem einfach auch ein bisschen Kredit, denn die Diskussion um die Steuervereinfachung geht ja gerade erst mal ernsthaft los. Ich hab Versprechungen gehört, wir seien dort bis Jahresende – das ist ja absehbar – seien wir schon ein gutes Stück weiter. Ich will mich da mal gerne positiv überraschen lassen.

    Irmler: Lassen Sie uns noch mal auf die Gewerbesteuer zurückkommen. Die Gewerbesteuer ist ja in der Tat sehr konjunkturanfällig und damit auch kritisierbar. Das heißt also, es ist keine Steuer, auf die die Kommunen zählen können, das hat sich ja jetzt in der Krise gezeigt. Aber was wären dann die Alternativen Ihrer Ansicht nach – eine kommunale Einkommenssteuer?

    Keitel: Wir haben uns als BDI dafür ausgesprochen, und zwar nicht nur, weil es konjunkturabhängig ist, sondern auch von Kommune zu Kommune völlig unterschiedlich ist, dass wir die Gewerbesteuer zurückführen. Ein Modell ist in der Tat, dass man dann Anteile an der Einkommenssteuer zurechnet. Die zweite Möglichkeit ist, dass man in der Steuersystematik etwas ändert und Aufgaben, die heute die Kommunen im Auftrag auch übergeordneter Gebietskörperschaften durchführen, dann auch vom Land oder Bund übernommen werden. Da lassen sich verschiedene Modelle denken.

    Irmler: Aber die Gemeinden tragen ja nun einen sehr großen Schuldenberg vor sich her. Sie müssten ja zumindestens genau so viel wieder erwirtschaften können, wie sie im Moment haben beziehungsweise eigentlich noch ein bisschen mehr.

    Keitel: Herr Irmler, da lassen Sie mich mal nicht steuersystematisch antworten, sondern vielleicht aus der Sicht eines Unternehmers. Wir haben nach wie vor in den Gemeinden, in den Kommunen auch eine ganze Reihe von Aufgaben, die muss nicht notwendigerweise die öffentliche Hand ausführen. Hier hat es auch erste Privatisierungen gegeben, lange nicht in dem Umfang, wie das das Ausland gewohnt ist. Hier hat es auch Kritik gegeben, hier hat es gute und schlechte Erfahrungen gegeben. Und ich glaube, wir sollten, anstatt jetzt alles wieder zurückzuführen in die Hand der Kommunen, beispielsweise auch die Energieversorgung, wir sollten mal in aller Ruhe unsere gemeinsamen Erfahrungen besprechen, die guten und die schlechten auswerten und dann sehen, ob nicht noch eine ganze Reihe von Aufgaben auch privatisiert werden kann, denn ich bin der Meinung, das muss nicht zu teureren Tarifen für die Bürger führen. Wir haben an vielen Stellen gezeigt, dass das ganz effizient in privater Hand getan werden kann, in aller Ruhe, nicht mit Schaum vor dem Mund, besprechen, was geht auch anders.

    Irmler: Können wir uns, Herr Keitel, darauf einigen, dass die Wirtschaft, dass die Firmen ein dringendes Interesse daran haben, in Kommunen, in Städten zu sein, die funktionieren, wo die Dinge gut sind, wo auch die Menschen gerne leben, weil sie dann möglicherweise auch gerne zur Arbeit gehen.

    Keitel: Also wir hängen davon ab, dass die Infrastrukturen, dazu gehört all das, was Sie gesagt haben, nicht nur Verkehrssysteme, auch Kultur beispielsweise, dass das stimmt. Und hier sind wir nicht nur daran interessiert, sondern wir sind ja auch bereit, daran mitzuwirken. Die Wirtschaft ist durchaus bereit, hier eine ganze Menge mitzuhelfen.

    Irmler: Herr Keitel, die deutsche Wirtschaft, Deutschland, die deutsche Industrie ist wieder ganz obenauf nach der schweren Krise, ein Wachstum in diesem Jahr, mit dem nun niemand gerechnet hat. Und für das kommende Jahr hat die OECD 2,5 Prozent für Deutschland vorausgesagt. Die Sachverständigen liegen leicht darunter, 2,2 Prozent. In der EU dagegen sieht es doch ziemlich mau aus. Also Frankreich ist nicht besonders gut mit dem Wachstum dran. Können wir uns aus Eigeninteresse so krasse Ungleichheiten über einen längeren Zeitraum leisten? Muss nicht die deutsche Industrie ein vitales Interesse daran haben, dass die anderen schneller auf die Beine kommen, dass sie mindestens wenn nicht gar ebenso so wettbewerbsfähig wie die deutsche Wirtschaft sind, aber doch den Anschluss wiederfinden.

    Keitel: Also zunächst sollten wir uns mal freuen, dass Deutschland schneller als erwartet aus der Krise herausgekommen ist, mit einem Wachstum von rund 3,7 Prozent in diesem Jahr hat ja niemand gerechnet. Dieses liegt in der Tat, und dort liegt ja der Ansatz Ihrer Frage, auch am Export. Auch ich sage, auch nicht nur. Wir haben mittlerweile auch eine sehr stabile Binnenkonjunktur. Man darf nicht vergessen, Deutschland ist auch der größte Importeur innerhalb des europäischen Raumes. Wir als Unternehmer, die wir Exporterfolge haben, wären ja nicht auf Dauer erfolgreich, wenn wir nur an den nächsten Tag denken würden. Es ist jedem Unternehmer völlig klar, dass er in einer Situation wie jetzt, wo wir in der Tat große Geschäfte mit dem Ausland machen, dass wir das nicht auf Ewigkeit garantieren können, sondern dass wir Formen und Wege finden müssen, wie wir dieses stabilisieren. Und das geht nur, indem wir beispielsweise anderen auch Partnerschaften anbieten, damit sie das, was sie bei uns investieren sollen – was wir wollen, dass sie hier auch von unseren Produkten bestellen und kaufen – dass sie das auch selbst erwirtschaften können, dass sie diese Kraft erreichen. Das werden wir nicht von heute auf morgen hinbekommen. Da haben wir viel zu große Verwerfungen, nicht nur in der Weltwirtschaft, sondern schon in der europäischen Wirtschaft. Aber wir müssen gemeinsam daran arbeiten. Ich halte allerdings viel davon, dass wir auch das privatwirtschaftlich tun, dass wir es den Unternehmern überlassen, wie sie ihre Exporterfolge auf lange Sicht in Partnerschaften stabilisieren und dass wir das nicht alles regulieren wollen.

    Irmler: Was halten sie von einer gemeinsamen europäischen Industriepolitik? Ein Airbus zum Beispiel wäre gar nicht möglich gewesen, wenn sich nicht europäische Staaten zusammengetan hätten und dieses Projekt auf die Beine gestellt hätten, mit viel Geld zum Beispiel.

    Keitel: Die deutsche Wirtschaft hat einmal mehr in dieser Krise bewiesen, dass die Soziale Marktwirtschaft, dass unser System eine industriebasierte Wirtschaft, aber auf der Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft offensichtlich ein Erfolgsmodell ist. Und trotzdem wird Deutschland akzeptieren müssen, dass wir eine stärkere Fokussierung und Anpassung der Verhältnisse in den Wirtschaften Europas brauchen. Also das, was Frankreich immer wieder postuliert, wir brauchen eine gemeinsame Wirtschaftsregierung, das müssen wir so nicht akzeptieren. Aber wir müssen wenigstens verstehen, welcher Gedanke dahinter steckt. Und dann wird man sagen, jawohl, wir müssen stärker darauf achten, dass es nicht nur eine gemeinsame Finanzpolitik gibt, sondern auch eine Annäherung in der Art und Weise, wie wir wirtschaften und wie wir Wirtschaft verstehen.

    Irmler: Nun muss man natürlich als deutsche Volkswirtschaft oder als Deutschland ein bisschen vorsichtig sein, was die Nachbarn angeht mit dem Export von deutschen Modellen. Da gibt es auch Empfindlichkeiten. In der Tat hat ja Präsident Sarkozy in seinem letzten großen Interview nach der Regierungsumbildung immer wieder auf Deutschland verwiesen in vielen Bereichen. Also Deutschland war und ist für ihn das ganz große Vorbild. Aber wie könnte denn eine deutsche Bundesregierung oder wie könnte eine Industrie oder auch die Banken das, was Sie als deutsches Modell bezeichnen, exportieren, ohne dass die das Gefühl haben, man wolle ihnen etwas aufzwingen. Denn Sie erinnern sich auch an die Kritik an Angela Merkel, als es um den Euro-Rettungsschirm ging. Und jetzt gibt es wieder Kritik aus Irland, aus Griechenland und aus anderen Staaten, nachdem die Kanzlerin darauf beharrt, dass die Gläubiger daran beteiligt werden, wenn ein Land in Schwierigkeiten gerät.

    Keitel: Was ist an dieser klaren Haltung eigentlich falsch? Und ich meine, dass wir es ja gerade beim Euro-Rettungsschirm ja auch gesehen haben, dass anfängliche Kritik plötzlich verstummt ist, weil man sich mit der Zeit mit der Sache etwas besser beschäftigt hat und dann ja auch wohl wusste, es hilft hier nur eine klare Haltung. Wir haben ja nicht nur die Politik, die international die Kontakte und die Dialoge pflegt. Das ist in der Wirtschaft ja genau so üblich. Wir haben eine fast deckungsgleiche Auffassung in Italien. Wir haben große Einigkeit mit Großbritannien. Und die Grundkonzepte der Sozialen Marktwirtschaft, nämlich der Staat setzt Leitlinien, überwacht auch diese Leitlinien, dass niemand ausbricht, sondern dass es wirklich dem Gemeinwohl dient, nicht der Umverteilung und dass innerhalb dieser Richtlinien die Wirtschaft frei den Raum hat, sich unternehmerisch und eigenverantwortlich zu entscheiden, das ist am ehesten fremd in Frankreich.

    Irmler: Herr Keitel, definitiv hausgemacht ist das Arbeitskräfteproblem. Deutschland hat zunehmende Schwierigkeiten, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Das hat einerseits mit dem demografischen Wandel zu tun, andererseits hat es sicherlich damit zu tun, dass viele qualifizierte Arbeitskräfte im Ausland Deutschland nicht als erste Option wählen, sondern sie gehen gerne nach Amerika, sie gehen anderswo hin, vielleicht auch wegen der Sprache. Aber warum mögen viele ausländische Arbeitskräfte, die wir so dringend brauchen, qualifizierte Arbeitskräfte, Deutschland so wenig?

    Keitel: Also es gibt tatsächliche Hürden, die haben Sie erwähnt, beispielsweise die Sprache oder auch die Studiensysteme, die Studiendauern, und es gibt vermeintliche oder solche, die wir selbst produzieren, dazu gehört auch die ganze unselige Diskussion um Integration. Wenn wir hier die emotionalen und die tatsächlichen Dinge auseinanderhalten, die Integration ist ja sehr stark ein emotionales Thema geworden in den letzten Wochen und Monaten, auf der anderen Seite belegen die Fakten völlig eindeutig, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann wir ohne einen Zufluss von qualifizierten Arbeitskräften, Führungskräften aus dem Ausland nicht mehr klarkommen werden, wenn wir das ganz klar und deutlich sehen, dann müssen wir uns gemeinsam dort Lösungen entwickeln, die für andere attraktiv sind. Und dazu gehört einfach, zu sagen, wie stark wir sind, wie gut auch in Deutschland Arbeitskräfte ihr Leben lang ausgebildet bleiben können, was die Wirtschaft dazu tun will, wie offen wir auch sind. Wir müssen sie wirklich einladen. Dass wir darum werben müssen, das ist offensichtlich etwas, was wir Deutschen noch lernen müssen. Wir haben hier eine wirklich erfolgreiche Industrie, wir haben eine glänzende Wirtschaftsverfassung, wir haben eine hervorragende Ausbildung in Deutschland. Wir sollten nicht immer so tun, als könnten wir mit anderen nicht konkurrieren, denn sonst wären wir ja nicht Exportweltmeister, das kommt ja nicht von ungefähr. Wir müssen mit unseren Pfunden werben, und wir müssen in der Diskussion aufpassen, dass wir nicht aus lauter Emotionen und Populismus Dinge in den Vordergrund rücken, die uns für das Ausland wenig attraktiv machen.

    Irmler: Herr Keitel, als promovierter Tunnelbauer – in Stuttgart zumal – verfolgen Sie ja sicherlich die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 nicht nur aus einem technisch, technokratisch-beruflichen Interesse, und sicherlich nicht nur als interessierter Bürger. Stuttgart 21 birgt ja doch erheblichen Sprengstoff für die Gesellschaft und die Frage, und die müssen Sie sich als BDI-Präsident unter anderem auch stellen, ist nach der Realisierung von Großprojekten. Glauben Sie, dass mit einem Mediationsverfahren, wie es in Stuttgart eingeführt wurde, wie es auch schon in Frankfurt, glaube ich, einmal gab, die Dinge wirklich zu regeln sind?

    Keitel: Es gibt in Deutschland mehr Bürgerbeteiligung an Verfahren, und zwar gesetzlich garantiert, als – so weit ich weiß – auf der ganzen Welt sonst nirgendwo. Und wenn diese Bürgerbeteiligung nicht dazu führt, dass Verfahren besser laufen, sondern zu dieser Form von Protest, zu einer Form von Dagegensein an jedem Punkt eigentlich dieser Republik, wo ein Großprojekt gestartet wird, dann müssen wir uns überlegen, wie wir alle miteinander nicht nur uns stärker an den Verfahren beteiligen, sondern auch mehr das Verständnis entwickeln, dass ohne persönliche Opfer wir keines dieser Großprojekte stemmen können, eben auch nicht den Umbau unserer Energieversorgung auf regenerative Energien. Es wäre abenteuerlich, wenn wir uns jetzt verabschieden würden in einen Staat, in dem es heißt, uns geht es eigentlich gut und es wird dann eines Tages hoffentlich auch den anderen gut gehen, aber Opfer bringe ich dafür nicht. Wir dürfen uns nicht an der nächsten Generation versündigen.

    Irmler: Aber irgendjemand muss dann eine Entscheidung treffen. Stuttgart 21 signalisiert ja im Moment noch, dass man sich so durchlavieren kann. Irgendwann kommt es doch zum Schwur.

    Keitel: Nein, nein, nein. Es wird nicht durchlaviert. Stuttgart 21 ist ein bestandskräftig von allen Gerichten bestätigtes Projekt. Wenn wir dahin kommen, dass wir anschließend alles wieder infrage stellen – das hat auch der Bundesverfassungsgerichtspräsident relativ deutlich gemacht in einer ungewöhnlichen Form – wenn wir alles wieder infrage stellen wollen, das geht schlicht nicht. Wir können uns nach vorne bei den zukünftigen Projekten überlegen, ob wir Dinge besser machen können, aber wir können jetzt nicht nach rückwärts alles Mögliche aufschnüren. Und noch mal ganz deutlich: Es wird an keiner Stelle hier in diesem Land möglich sein, einfach so weiter zu leben wie seither. Wir werden beispielsweise für die Übertragungsleitungen, für die Speicherung der Energie alle in irgendeiner Form Opfer bringen müssen. Und dafür müssen wir bereit sein.

    Irmler: Herr Keitel, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.