Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Eskalation der Gewalt

Zunächst sah es so aus, als bliebe Syrien von den Unruhen in der arabischen Welt verschont. Doch jetzt scheinen sich die Proteste auch dort nicht aufhalten zu lassen. Die Gewalt eskaliert, vor allem in der südsyrischen Stadt Daraa.

Von Kristin Helberg | 26.03.2011
    "Verräter! Wie könnt ihr euer Volk töten? Ihr seid doch unsere Brüder!"

    Eine Straße im nächtlichen Daraa. Schüsse jagen durch die Dunkelheit, junge Männer laufen durch die Straßen und schreien den Sicherheitskräften ihre Verzweiflung entgegen: "Verräter! Wie könnt ihr euer Volk töten? Ihr seid doch unsere Brüder!"

    Der kurze Videoclip, aufgenommen mit einem Handy und hochgeladen auf der Internetplattform Youtube ist einer von vielen kleinen Ausschnitten der Ereignisse in Syrien. Seit zehn Tagen reißen die Proteste dort nicht ab, aus anfangs kleineren Aktionen in der Hauptstadt Damaskus entwickelten sich massive Ausschreitungen in der Provinz. In der Stadt Daraa im Süden des Landes erschossen Sicherheitskräfte bei friedlichen Protesten vor einer Woche vier Demonstranten - ihr Tod wird zum Auslöser weiterer Proteste und damit zu einem Wendepunkt in Syrien, wo sich bis dahin kaum jemand auf die Straße traute. Die große Frage dabei ist: Wird Präsident Bashar Al Assad diese Umwälzungen politisch überleben oder nicht.

    Auf den ersten Blick stehen die Chancen für den seit elf Jahren regierenden jungen Präsidenten nicht schlecht. "Gott, Syrien, Freiheit und sonst nichts" skandieren die Syrer zu Tausenden, sie fordern mehr Meinungsfreiheit, die Aufhebung des Ausnahmezustands, ein Ende der Korruption und die Freilassung politischer Gefangener. Es geht ihnen um Reformen, nicht um den Sturz des Regimes oder den Rücktritt des Präsidenten. Ein Augenzeuge aus Daraa wendet sich im arabischen Nachrichtensender Al Arabiya direkt an Assad.

    "Der Präsident solle eingreifen und das Blutvergießen stoppen, so der Aktivist, die Forderungen der Demonstranten seien friedliche, sie wollten nicht den Sturz des Regimes, sondern ein Leben in Freiheit und Würde."

    Doch Bashar Al Assad schweigt und lässt die Waffen sprechen. Zwei Tage lang gehen die Sicherheitskräfte mit massiver Gewalt gegen die Demonstranten in Daraa vor: Mindestens 37 Menschen sterben, Oppositionelle sprechen von mehr als 100 Toten. Zeitgleich werden landesweit Dutzende Intellektuelle, Journalisten und Studenten festgenommen.

    Am Donnerstag endlich meldet sich die politische Führung des Landes zu Wort. Bouthaina Shaaban, die Beraterin des Präsidenten, kündigt bei einer Pressekonferenz in Damaskus sowohl wirtschaftliche Erleichterungen als auch politische Reformen an.

    "Staatliche Löhne sollen erhöht, die Gesundheitsversorgung verbessert und Korruption effektiver bekämpft werden, so Shaaban. Die Regierung werde eine Aufhebung des Ausnahmezustands und die Zulassung anderer Parteien prüfen."

    Die Ankündigungen klingen vage und wecken Zweifel: Schon bei ihrem letzten Parteitag im Jahr 2005 hatte die seit Jahrzehnten regierende Baathpartei Großes versprochen: die Lockerung der Notstandsgesetze und ein neues Parteiengesetz - nichts geschah. Konkreter wird Beraterin Shaaban im Bezug auf die Ereignisse in Daraa. Zwar spricht auch sie von ausländischen Kräften, die das Land destabilisieren und Chaos verbreiten wollten. Doch zugleich räumt sie Fehler ein und betont, der Präsident hätte keinen Schießbefehl gegeben. Aus Sicht der Beteiligten in Daraa klebt jedoch auch an Bashar Al Assads Händen inzwischen Blut.

    "Wir wollten keinen Sturz des Präsidenten, wir wollten Reformen und Freiheit, so ein Bewohner von Daraa im arabischen Programm der BBC. Aber jetzt, nachdem so viel Blut geflossen ist, wollen wir das Regime stürzen."

    Gestern, am "Freitag der Würde", gab es erneut Tote, diesmal auch in anderen Städten. Die Angst scheint überwunden - nicht mehr nur in Daraa, sondern überall im Land. Noch immer wirken die Aktionen spontan und unkoordiniert, Menschen aller sozialer Schichten, aller Religions- und Altersgruppen machen ihrer Wut Luft und äußern Solidarität mit den Bewohnern von Daraa.

    Was der Bewegung fehlt, ist eine intellektuelle Führung. Die wenigen prominenten Figuren der syrischen Zivilgesellschaft halten sich bislang zurück. Sie wissen, dass ihre Popularität in Europa größer ist als in der eigenen Heimat, nur wenige Syrer kennen überhaupt ihre Namen. Nach 40 Jahren Ein-Parteien-Herrschaft gibt es in Syrien keine organisierte Opposition, Versuche, die Regimekritiker des Landes zu vereinen, sind in den vergangenen Jahren kläglich gescheitert. Entsprechend frustriert ist die intellektuelle Elite in Damaskus, sie wurde selbst von den Protesten überrascht. Deutliche Worte hört man in diesen Tagen eher von Syrern im Ausland. Ziad Alsayed, in London lebendes Mitglied der syrischen Oppositionsplattform "Erklärung von Damaskus" gegenüber der BBC.

    "Nachdem das Regime diese Sprache der Gewalt benutzt hat, ist es zu spät für einen Dialog und irgendwelche Reformversprechen."

    Die Zeit drängt. Präsident Bashar Al Assad steht vor der größten innenpolitischen Herausforderung seiner Amtszeit und vor einer schwierigen Entscheidung. Wird er wie einst Gorbatschow den Mut zu echten politischen Veränderungen haben und Syrien in die Demokratie begleiten? Oder wird er sich an die Macht klammern und dafür mehr Gewalt gegenüber Zivilisten in Kauf nehmen? Mit dem anhaltenden Blutvergießen verspielt Bashar Al Assad nicht nur seine Popularität, sondern auch eine historische Chance.