Der moderne Wissenschafts- und insbesondere der moderne Philosophiebetrieb hat sich von der Frage nach den sozialen und mentalen Voraussetzungen und Bedingungen seiner eigenen Wissensproduktion noch nie sonderlich ablenken lassen. Als allzu selbstverständlich und natürlich erschien und erscheint ihm von jeher die Art und Weise, wie Wissen generiert, akkumuliert und, in einem weiteren Schritt, angewandt und verwertet wird – warum also Fragen stellen?
Solche Fragen drängen sich nur dem auf, dem das Selbstverständliche der Wissensproduktion suspekt ist, der sie mit anderen Worten unter Ideologieverdacht stellt. Es war der Neomarxismus der dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts, der im Anschluss an die Marxsche Waren- und Geldanalyse die Frage nach dem gesellschaftlichen Woher und Wozu eines Wissens formulierte, auf dem die westliche Zivilisation und die kapitalistische Produktionsweise letztlich beruhen. Während die Altphilologie die Heraufkunft der vorsokratischen Philosophie, d.h. den Übergang von einer konkret-dinglichen Welt-Anschauung zum abstrakt-funktionalen Denken in das Bild vom "griechischen Wunder" bannte, suchte der Neomarxismus nach einer plausibleren Erklärung. Für den gelernten Ökonomen Alfred Sohn-Rethel löst sich jenes "Wunder" darin auf, dass es im sechsten vorchristlichen Jahrhundert im ägäischen Raum zur ersten nennenswerten sozialen Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit und zur Herausbildung eines geldvermittelten Warentausches kam. Beides zusammen, so seine Hypothese, bewirkte, dass sich eine am Vorbild der Geldabstraktion entwickelte Denkform – eben das frühe philosophische Denken der Griechen – durchzusetzen vermochte, die gleichsam die Urform alles späteren wissenschaftlichen Denkens bildete.
Auch der Odyssee-Exkurs in Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung beschreitet den Weg der geschichtsmaterialistischen Selbstaufklärung eines Denkens, das sich selbst als absolut und zeitlos hypostasiert. Odysseus erscheint hier als die Urgestalt des bürgerlichen Subjekts, das sich buchstäblich mit List und Tücke der Gewalt und Verführungskraft der Natur entwindet und so einen Typus von instrumenteller Rationalität etabliert, der am Anfang des abendländischen Denkens steht.
Den hier skizzierten Hintergrund muss man zumindest im Groben vor Augen haben, wenn man die voluminöse Monographie Eske Bockelmanns zur Genese des modernen Denkens richtig einordnen will. Ich halte es für ein schweres Versäumnis, dass der mit keinem einzigen Wort den intellektuellen Kontext erwähnt, dem sich seine Untersuchung verdankt – so als sei sie gleichsam eine creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts. Der Name Alfred Sohn-Rethels taucht lediglich im Abspann des Buches, auf Seite 49o, auf, wo Bockelmann beiläufig darauf hinweist, er werde sich andernorts mit ihm auseinandersetzen. Wirklich skandalös ist, dass der in einem zentralen Kapitel des Buches, das von der Marxschen Ware/Geld-Analyse handelt, deren geistigen Urheber völlig unterschlägt. Was ist von einer wissenschaftlichen Studie zu halten, die ihre eigene intellektuelle Herkunft verschleiert?
Andererseits muss man Bockelmann zugute halten, dass er sich entschlossen vom neomarxistischen Paradigma der archaischen Antike als dem weltgeschichtlichen Umschlagspunkt trennt und diesen Punkt historisch viel später ansiedelt, nämlich in der frühen Neuzeit. Ohne Zweifel zählt es zu den Stärken des Buches, dass es, basierend auf den gründlichen Studien des britischen Althistorikers Moses Finley zur antiken Wirtschaft, mit der Vorstellung bricht, bereits in der Antike habe sich eine Wirtschaftsform durchgesetzt, die man als Vor- oder Frühform des Kapitalismus bezeichnen könnte. Vielmehr weist Bockelmann überzeugend nach, dass davon keine Rede sein könne. Die antike Oikos-Wirtschaft sei im wesentlichen eine beschränkte Selbstversorgungswirtschaft gewesen, in der Geld zwar eine Rolle spielte, aber eben doch nur marginal: Der Geldwert blieb an die Geldmaterie, das Münzgeld, gebunden und hatte sich noch nicht zum abstrakten und losgelösten "Wert an sich" emanzipiert.
Natürlich bietet sich die frühe Neuzeit als Kandidat für die infrage stehende Revolution der Denkungsart hervorragend an. Wem fallen dabei nicht Stichworte wie Humanismus, Renaissance, Reformation, Entdeckung der Neuen Welt usw. ein? Und wer dächte dabei nicht an Max Webers Protestantismusthese und an Werner Sombarts Konstrukt des merchant-adventurers, des ersten modernen Kaufmanns großen Stils?
Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, so Bockelmanns Annahme, hatte sich die Geldabstraktion soweit verselbständigt und war den Menschen so selbstverständlich geworden, dass man zumindest für den europäischen Raum von der lückenlosen Herrschaft dieser Abstraktion sprechen kann. Was der "funktionale Abstraktion" nennt – die Fähigkeit, den Dualismus von Geld und Ware, von "reiner Einheit" und "rein bezogener Einheit" synthetisch zu verarbeiten –, war ihm zufolge der Anfang des modernen wissenschaftlichen Denkens. Der springende Punkt dabei ist für Bockelmann, dass diese Veränderung der Weltsicht gar nicht mehr als solche registriert wurde – sie war einfach da, als sei sie schon immer da gewesen. Mit der cartesianischen Revolution, Reflex der Geldrevolution, trat demzufolge etwas in die Welt, das der Reflexion der Akteure prinzipiell entzogen war, ganz im Sinne des Marxschen Satzes:
Sie wissen das nicht, aber sie tun es.
Das neue wissenschaftliche Weltbild des Cartesianismus war deshalb so erfolgreich, weil es die grundsätzlich widerstrebenden und sperrigen Gegenstände der Natur in funktionale Abhängigkeit von einem reinen Denkstandpunkt – indem man zum Beispiel "Naturgesetze" formulierte – zu bringen vermochte. Die Dinge bestehen nicht mehr für sich, aufgrund der ihnen eigenen Schwere und Qualität, sondern sind bloß noch Funktionen oder abhängige Variablen von etwas Übergeordnetem – eben jenem kognitiven Punkt, der angeblich schon immer der Lehrmeister der Natur war. Oder in der umständlichen und manchmal leider ziemlich verquasten Ausdrucksweise des s:
Das funktionale Denken hat keine Gestalt mehr in Händen, und doch, auf die bestehende Natur und Welt angewandt, soll es die Erklärung aller Gestalt sein. Tatsächlich ist es auch strikt darauf angewiesen, auf Natur und Welt angewandt zu werden. So wie Kauf und Verkauf, so wie der Tausch von Werten nur trägt, wenn die Werte nicht allein Werte bleiben, sondern auf Güter bezogen, an Inhalte gebunden werden, so dass sie sich damit kaufen lassen, so ist das funktionale Denken mit seinen nicht-inhaltlichen Einheiten darauf angewiesen, dass auch diese angewandt und bezogen werden auf Inhalt, auf dieses Außerhalb von ihnen: auf Teile der empirisch-inhaltlichen Welt. Das funktionale Denken ist, auf radikal andere Weise als jedes Denken zuvor, angewiesen auf das, wovon es sich vollständig abtrennt, die Inhalte: weil es in dieser Abtrennung von ihnen als dem allgemeinsten Bezug auf sie besteht und entsteht.
Vielleicht kann man das auch etwas übersichtlicher zum Ausdruck bringen, indem man einfach feststellt, dass sich dank der vollendeten Synthesis am Geld, die den Wert auf Kosten des Gebrauchswerts privilegiert und absolut setzt, historisch eine Denkform durchgesetzt hat, die alles Materiale und Inhaltliche zwar radikal entwertet, aber doch, wie rudimentär auch immer, darauf angewiesen bleibt.
Ohne Zweifel sind die ausgedehnten wissenschaftshistorischen Exkurse, die Bockelmann der frühen Neuzeit widmet, in hohem Maße geeignet, dem Leser das Neue vor Augen zu führen, das mit Descartes, Bacon und Leibniz in die Welt kam. Wer das, was man gewöhnlich "Fortschritt" nennt, nicht einfach als linear fortschreitenden Prozess liest, sondern als eine Geschichte dramatischer Brüche mit unabsehbaren Konsequenzen, kommt in diesen Kapiteln des Buches auf seine Kosten. Tatsächlich indiziert die cartesianische Wende mit ihrer scharfen Trennung von res cogitans und res extensa, von "reiner Einheit" und "rein bezogener Einheit", eine epistemologische Bruchstelle, die bis heute den Gang der Wissenschaften prägt. Wichtig ist auch der Hinweis des s, dass mit Descartes, in dessen Denken Philosophie und Naturwissenschaft noch eins waren, die Trennung von Philosophie und Wissenschaft eingeleitet wird – mit der Folge, dass die Philosophie heute nur noch ehrenhalber den Namen einer Wissenschaft tragen darf. Und last but not least wird der Leser darüber belehrt, dass erst im Laufe des 17. Jahrhunderts die systematische Anwendbarkeit von Wissenschaft ihren Anfang erlebte.
Wie aber hat es zu einer derart folgenreichen Revolution kommen können, ohne dass die daran beteiligten und involvierten Menschen merkten, dass sie zugleich Akteure und Opfer dieser Umwälzung waren? Dafür hat Bockelmann eine Erklärung parat, die das Verständnis auch des wohlwollendsten Lesers arg strapaziert.
Auf den ersten 200 Seiten seines Buches legt der ebenso akribisch wie umständlich dar, dass das Rhythmusempfinden des neuzeitlichen Individuums nicht mehr jenem der Griechen entspricht – auch hier also wieder die Akzentuierung des Hiatus, des Risses, zwischen dem antiken Kosmos und der Welt der frühen Neuzeit. Als ausgebildeter Altphilologe weiß Bockelmann, dass in der antiken Dichtung und Musik andere Sprach- und Tonfolgen als rhythmisch wahrgenommen wurden, als wir es seit der Barockdichtung und -musik tun. Der von uns als normal und natürlich empfundene Taktrhythmus mit seinem Auf und Ab von betont/unbetont wird, so Bockelmann, fälschlicherweise den antiken Versen übergestülpt, etwa wenn wir im Griechischunterricht die Verse der Ilias laut lesen lernen. Das bedeutet, dass, indem wir unser Rhythmusempfinden auf eine vergangene Epoche übertragen, die spezifische Eigenzeit des antiken Rhythmus zerstört wird. Auch diesen Reflex oder Zwang, das Fremde gewissermaßen gleichnamig zu machen, führt der auf die Synthesis am Geld zurück. Nicht zufällig lautet der Titel des Buches Im Takt des Geldes.
Weil das Rhythmusempfinden etwas ist, das sich aller begrifflichen Arbeit und Reflexion entzieht, weil es der Kraft eines unwillkürlichen, wenn auch bedingten Zwangs gehorcht, findet Bockelmann in ihm den Schlüssel zu allem: Gerade in ihrer prädiskursiven, emotionalen Qualität steht die neuzeitliche Rhythmuswahrnehmung paradigmatisch für die durchdringende Macht der Geldsynthesis. Das Neue, schreibt Bockelmann, wird nicht geplant und gemacht, es macht sich vielmehr von selbst, es tritt auf, als sei es das Natürlichste von der Welt. Deshalb nehmen es die Menschen auch nicht als revolutionär wahr, weil es scheinbar ihren normalsten Gefühlen entspricht.
Mit Bockelmanns Buch geht es einem wie mit dem Glas Wein, das je nach individueller Sicht halbvoll oder halbleer ist. Wer sich für das halbleere Glas entscheidet, wird in dem Buch mehr Mängel, Ungereimtheiten und Widersprüche finden als derjenige, der darin zuerst einmal ein beträchtliches intellektuelles Anregungspotential entdeckt, das zum Weiterlesen und -denken anspornt. Der Rezensent bleibt in seinem Urteil unschlüssig.
Das war Hans-Martin Lohmann über "Im Takt des Geldes - Zur Genese modernen Denkens" von Eske Bockelmann. Der 511 Seiten starke Band ist beim Verlag zu Klampen erschienen und kostet 36 Euro.