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Essais

Vor über 400 Jahren erschienen die "Essais" des Philosophen Michel de Montaigne, der damit zum Begründer der gleichnamigen Gattung wurde. Die letzte deutsche Gesamtübersetzung liegt über 200 Jahre zurück. Diese Zeitspannen vor Augen, kann man die Bedeutung des Werkes, das so mühelos die Zeiten überdauert, und auch die Bedeutung der Übersetzung ermessen, mit der nach so langer Zeit wieder der Versuch unternommen wird, den gesamten Montaigne zu präsentieren. Natürlich gab es zwischendurch immer wieder Teilübersetzungen, aber das waren kleine Häppchen, die allenfalls Appetit machen konnten, wie etwa die von Mathias Greffrath 1984 edierten, jetzt neu aufgelegten Essays. Die schlechteste Übersetzung dürfte die von Johann Joachim Christoph Bode vom Ende des 18. Jahrhunderts gewesen sein, der man, auch in der "revidierten Fassung", lediglich blühende Phantasie nachsagen kann. Brauchbar war einzig und allein die Übersetzung von Herbert Lüthy, 1953 publiziert, aber ihre Kürzungen betrafen nicht nur die gelegentlich ausschweifende Aneinanderreihung von Beispielen bei Montaigne, seine exzessive Kasuistik, sondern auch viele von ihm selbst noch in den letzten Lebensjahren in sein Buch eingefügten Ergänzungen. Von all diesen Übersetzungen wird man sich nun verabschieden müssen. Endgültig in der Geschichte verschwinden wird auch die erste deutsche Gesamtübersetzung von Johann Daniel Tietz von 1753/54, die vor wenigen Jahren noch einmal ausgegraben wurde: Dieser Montaigne sprach ein allzu alt gewordenes Deutsch, die Neuausgabe verstaubt in den Bücherregalen.

Wilhelm Schmid | 29.11.1998
    Dabei kommt Montaigne modernen Lesegewohnheiten eigentlich sehr entgegen, denn man kann ihn häppchenweise lesen: in der Straßenbahn ein paar Sätze über die menschliche Eitelkeit, in der Regionalbahn ein Stück über den Müßiggang. Und für den einwöchigen Urlaub empfiehlt sich der 13. Essay des dritten Buches, "Über die Erfahrung"; da hat man eine Weile dran zu knabbern. Die neue deutsche Gesamtübersetzung von Hans Stilett, erschienen in der renommierten "Anderen Bibliothek", macht jedenfalls das Lesen zur Freude: Ihr hervorstechendes Merkmal ist Lesbarkeit, und zugleich ist sie so nahe wie nur möglich am Original orientiert. Das Rezept ist so einfach wie wirkungsvoll, und man fragt sich, warum nicht auch frühere Übersetzer sich daran hielten. Aber der Grund dafür liegt auf der Hand: Der für sie verbindliche kulturelle und gesellschaftliche Kontext hielt sie davon ab, den sinnlichen und – noch deutlicher gesagt – fleischhaltigen Montaigne zum Vorschein zu bringen; wo es darauf ankam, zeigten sie sich ängstlich und schamhaft, keineswegs beseelt von kynischer Freimütigkeit und Direktheit wie Montaigne selbst. Wie sehr aber das Denken bei Montaigne "sinnlich eingefärbt" ist, tritt bei Hans Stilett überaus deutlich hervor.

    Die Frage ist nur, wieviel Deutlichkeit uns heute akzeptabel erscheint. Mag es mit der Schamhaftigkeit auch nicht mehr so weit her sein, aber der am Ende des 20. Jahrhunderts von vielen inszenierte Lebensstil veranlaßt uns doch zu zögern, Montaigne-Stellen öffentlich darzubieten, die im wahrsten Sinne des Wortes den Körper sprechen lassen. Man meint sich beinahe vorauseilend entschuldigen zu müssen, wenn der Philosoph recht deftig von unserer Ess- und Trinklust spricht, durch die gewisse Körperteile so recht "in Wallung" kommen. Er meint damit nämlich die Darmtätigkeit, und er redet keineswegs um den heißen Brei herum, sondern kommt geradewegs auf denjenigen Hintern zu sprechen, der ihm zufälligerweise bekannt ist und der "derart turbulent und ungebärdig ist, daß er seinen Herrn seit vierzig Jahren ohne Unterlaß zu furzen zwingt, so daß er ihn auf diese Weise noch ins Grab bringen wird".

    So ungeschminkt spricht Montaigne von sich selbst. Die Stelle findet sich im 21. Essay des ersten Bandes, der, nicht ohne Ironie, den Titel trägt: "Über die Macht der Phantasie". Werfen wir einen kurzen Blick darauf, was frühere Übersetzer, konfrontiert mit solcher Unverfrorenheit, daraus gemacht haben: Lüthy erheitert uns mit der etwas ungelenken und blumigen Umschreibung, daß ein nicht näher zu benennendes Körperteil seinen Herrn seit vierzig Jahren "in einem Atem mit unablässigem und gnadenlosem Zwang erdröhnen lässt". Nicht viel anders vor über zweihundert Jahren Tietz, bei dem es etwas gibt, was den Herrn "unaufhörlich und in einem fort Winde streichen zu lassen zwinget". Die Volkssprache, derer sich Montaigne mit Vorliebe bedient, erlaubt hier nicht sehr viele Interpretationen, péter ist nun mal kein vornehmes, kaum vernehmliches Pupsen, und der Ort, an dem dies geschieht, ist eben le derrière, der Hintern.

    Montaigne betont also nicht ohne Grund schon im Vorwort zu seinen "Essais", daß dies ein aufrichtiges Buch sei und daß er sich darin in seiner einfachen, gewöhnlichen und natürlichen Art darstellen wolle, ohne Gesuchtheit und Geziertheit. "Wäre es mein Anliegen gewesen, um die Gunst der Welt zu buhlen", so sagt er, "hätte ich mich besser herausgeputzt und käme mit einstudierten Schritten daherstolziert." Er selbst, ein simpler Mensch, sei der einzige Inhalt dieses Buches; der Leser möge es sich gut überlegen, ob er seine Aufmerksamkeit auf einen so unbedeutenden und nichtigen Gegenstand wenden wolle. So kommen die "Essais" zustande, die im Laufe der Zeit immer mutiger werden, beflügelt vom Zuspruch der Leser, den sie, zur Überraschung ihres Autors, schon damals gefunden haben. Sie sprechen vom Selbst und allem, was damit zusammenhängt, von Gott und der Welt, von der Aktualität und der Geschichte, von Haus und Hof, von der Konzentration und der Zerstreuung, von Erfahrungen und Erlebnissen, vom Glück und von Verfehlungen, von der Politik und von Frau und Kind, von Rom und von Paris, von den Freunden und vom Krieg, von den Lüsten und den Gefahren, von der Einsamkeit und den Geschäften, vom Tod und vom Leben. Egal, worum es geht – immer stellen sie das Selbst in allen Details, Verästelungen und Widersprüchen dar und kommen dabei vom Hundertsten ins Tausendste. Was für ein glücklicher Mensch, möchte man sagen: Langweilig war ihm nie.

    Die dominierende Eigenart der "Essais", von der Übersetzung glänzend wiedergegeben, ist ihr Erzählgestus – Montaigne erzählt sein Denken, durchsetzt mit Geschichten und Beispielen, zusammengesetzt aus einer widersprüchlichen Vielfalt von Einzelelementen und scheinbar abseitigen Themen, zusammengeflochten aus persönlichen Erfahrungen, immer wieder durchbrochen von Lesefrüchten, deren Quellen meist verschwiegen werden, womit Montaigne auch noch kokettiert: "Ich weiß sehr wohl", tönt er, "wie unverfroren ich selbst immer wieder stehle und mich dann mit dem Diebesgut auf die gleiche Stufe zu stellen suche". Mit verschmitzt lachenden Augen steht er uns hier gegenüber, mit einer Ironie und Selbstironie, die im Deutschen wiederzugeben anderen Übersetzern nicht immer leichtfiel. Sein Buch versteht er als ein Register seiner Erfahrungen, der leiblichen wie der geistigen: Sein Geist gebiert ihm, klagt er scheinheilig, "soviel Schimären und phantastische Ungeheuer, immer neue, ohne Sinn und Verstand, daß ich, um ihre Abwegigkeit und Rätselhaftigkeit mir mit Gelassenheit betrachten zu können, über sie Register zu führen begonnen habe". So schreibt er also seine Essais.

    Das französische Wort Essay geht auf das lateinische exagium zurück, was soviel heißt wie: gelegentliche Kostprobe; aber auch: auf die Waage legen, abwägen und prüfen. Zu einer Gattungsbezeichnung wurde der "Essay" durch Francis Bacon, der schon 1597 den Begriff von Montaigne her aufnahm und ins Englische einführte, woraufhin er auch im Deutschen Beachtung fand. Zahllose Stellen belegen jedoch bei Montaigne, daß mit dem Essay keineswegs nur eine bestimmte, tastende, unsystematische Schreibweise gemeint war, sondern mehr noch der existentielle Selbstversuch, die essayistische Existenz. Stilett macht dies für den Leser kenntlich, indem er an entscheidenden Stellen das französische Wort stehen läßt, wenn Montaigne etwa davon spricht, daß unter den Essais Versuche "aus Fleisch und Blut" zu verstehen sind. Selbst seine Seele sei "ständig in der Lehre und Erprobung"; könnte sie jemals festen Boden unter den Füßen gewinnen, "würde ich nicht Versuche mit mir machen". Dieses Experimentieren mit sich selbst, das so modern anmutet, findet sich nicht zufällig am Beginn des Essays "Über das Bereuen", zweiter Essay im dritten Buch: Denn Montaigne geht es darum, mit sich selbst im Reinen zu sein, der Geschichte seines Lebens "nicht untreu" zu werden, und ein Leben zu führen, von dem zu erwarten ist, daß es nicht bereut werden muß, wenn es dereinst zu Ende geht.

    Ganz einfach kann es freilich für ihn nicht gewesen sein, mit sich im Reinen zu sein, da er doch voller Widersprüche ist und das auch noch betont! Strittig könnten hierbei einschlägige Stellen der Übersetzung sein: Als Montaigne beispielsweise zu Beginn des fünften Essays im dritten Buch davon spricht, "Meister seiner selbst, in jedem Sinn" sein zu wollen, übersetzt Stilett, er wolle "Herr" seiner selbst sein. Dieses Wort trifft aber, wie der Kontext nahelegt, die Sache nicht ganz, denn es geht ausdrücklich nicht um Herrschaft, nicht um Selbstbeherrschung im strikten Sinne, die in der abendländischen Kulturgeschichte eine so fragwürdige Rolle gespielt hat, sondern um eine besonnene Mäßigung des Selbst durch sich selbst, nicht domination, sondern modération – die Zügel sollen nie zu straff angezogen sein, auch die Wollust soll nie so stark beherrscht werden, daß es zur Empfindungslosigkeit käme. Montaigne hat Angst, wie er sagt, "vor lauter Vernünftigkeit zu welken, auszutrocknen und zusammenzusinken"; auch die Weisheit könne man schließlich übertreiben – sie kennt, so heißt es im Französischen sogar noch deutlicher, ihre eigenen "Exzesse" und bedarf nicht weniger der Mäßigung als der Wahnsinn.

    Das ist nicht der einzige strittige Punkt. Umstritten wird vor allem die Übersetzung der von Montaigne in den Text eingestreuten lateinischen Sentenzen sein, die die Funktion haben, den Redefluß zu unterbrechen, für Abwechslung zu sorgen und en passant die Belesenheit des Autors zu illustrieren, die gewiß sehr groß war, wurde Montaigne doch auf Geheiß seines Vaters nicht etwa in französischer, sondern in lateinischer Sprache erzogen. Klassiker wie Ovid, Horaz, Cicero waren ihm also bestens vertraut, darüber hinaus fanden im 16. Jahrhundert auch Sentenzenbücher weite Verbreitung, und es dürfte nahe gelegen haben, sich dieser Fundgruben einprägsamer Sätze zu bedienen, unbekümmert um den genauen Nachweis der Fundstellen. Stilett übersetzt diese Stellen durchweg ins Deutsche und gibt ihnen, wenn es sich um Verse handelt, Rhythmus und Reim, so daß beispielsweise "der Geist, vom Müßiggang verwirrt,/ zum ruhelosen Irrlicht wird", während, zum Vergleich, Lüthy das Lateinische hier stehen läßt und nur in einer Fußnote seine Übersetzung vermerkt: "stets zeugt der Müßiggang launische Grillen"; und ähnlich verfährt Tietz: "Der Müßiggang gibt oft verändertes Gemüthe". Wenngleich der Schönheit antiker Hexameter kaum etwas gleichkommt, so gibt Stilett, durch eigene Lyrikpublikationen lange geschult, den Texteinschüben wenigstens eine Ahnung von der Poesie mit, die sie im Original haben. Es scheint lange und dramatische Diskussionen mit dem Herausgeber der "Anderen Bibliothek", Hans Magnus Enzensberger, hierüber gegeben zu haben, junge Lyriker wurden offenkundig um bessere Übersetzungen gebeten, aber vergebens: Bei der Lektüre bewährt sich tatsächlich die Stilettsche Lösung am besten.

    Texttreue und Lesbarkeit, "Montaigne pur" hat der Übersetzer sich zum Ziel gesetzt. Da bleibt tatsächlich nichts mehr, was den Leser ablenken, nichts, was der unbefangenen Lektüre hinderlich sein könnte. Im Unterschied zu früheren Übersetzern brilliert Stilett nicht mit kenntnisreichen Quellenangaben zu Zitaten, sondern läßt sie, wie Montaigne, für sich stehen. Dem Kriterium der Lesbarkeit fiel manches zum Opfer, was die Experten beklagen werden: Beispielsweise werden die verschiedenen Textstufen, in der kritischen französischen Ausgabe von Pierre Villey mit A, B und C unterschieden, nicht kenntlich gemacht. Auf der anderen Seite werden stillschweigende Ergänzungen vorgenommen: Wo Montaigne nur von "dem König" spricht, den in seiner Zeit jeder kannte, setzt Stilett – "höchst anfechtbar", wie er selbst weiß – den Namen Heinrichs III. dazu. Die Schreibweise von Eigennamen, bei der Montaigne auf abenteuerliche Weise variiert, wurde stillschweigend berichtigt, ebenso, wenn er nachweislich etwa Horaz und Homer verwechselt.

    Nichts davon, so erweist sich bei Rückfragen an den Übersetzer, ist willkürlich, alles vielmehr höchst reflektiert – offenkundig ist jede einzelne der zahllosen Entscheidungen, die im Verlauf der zehnjährigen Arbeit an der Übersetzung anfielen, sehr bewußt getroffen worden; entsprechende Erläuterungen, Begründungen und Nachweise sollen folgen: Der ganze kritische Apparat, der bei einem solchen Unternehmen nun mal unerlässlich ist, wird einen eigenen Kommentarband füllen, der den neu übersetzten "Essais" im Abstand von zwei Jahren folgt. Sorgfältiger ist wohl selten ein Klassiker des Denkens übersetzt worden. Im Text selbst: keine Fußnoten! Das war gewiß die mutigste Entscheidung, die dem unbefangenen Leser sehr entgegenkommt, aber in der fußnotenbesessenen intellektuellen Welt einen Schock auslösen wird. So merkt man der Übersetzung nichts mehr davon an, welche ausufernde philologische Arbeit ihr zugrunde liegt.

    Dem Übersetzer war es wichtiger, sich hineinzufühlen in das "Mentalitätsgefüge des Sprechenden", in den "Sprachleib", wie Stilett dies nennt. So kommt es, daß zum ersten Mal die ganze Wortmächtigkeit und deftige Begrifflichkeit Montaignes im Deutschen lesbar wird. Die sinnliche Präsenz seines Denkens wird drastisch unterstrichen durch vulgäre, teils obszöne Schilderungen, die das feinsinnige, sensible Philosophieren konterkarieren. Leitlinie seiner Übersetzung sei es gewesen, verrät uns Stilett, das "Saft- und Kraftpotential" dieser Sprache uneingeschränkt wiederzugeben, und wenn dies an einer Stelle nicht möglich war, wurde dies durch farbigere Begriffe an einer anderen Stelle wieder ausgeglichen, so daß die "Intensitätsbilanz" erhalten blieb. Die Übersetzung macht es möglich, einen Montaigne zu lesen, der nicht geglättet ist. Auch Schroffheiten im Übergang von Satz zu Satz wurden beibehalten, Ausdruck des hüpfenden, springenden Denkens, das dem leidenschaftlichen Reiter Montaigne eigen ist. Selbst in der Syntax, der Satzstellung, spiegelt sich häufig das Zusammendenken des Widersprüchlichen, das bei Montaigne geradezu zur Geisteshaltung geworden ist; gegensätzliche Begriffe stoßen unmittelbar aufeinander, und die Übersetzung folgt dem getreu, etwa wenn davon die Rede ist, daß "der Schmerz, wenn stark, kurz ist; wenn aber lang, leicht". Der große Reichtum an Wortspielen, die vielen Binnenreime und versteckten Assonanzen, die von anderen Übersetzern gar nicht erkannt wurden, finden sich nun auch im Deutschen wieder.

    Offenkundig eine Rückkehr zur Renaissance-Prächtigkeit des 16. Jahrhunderts, auch was die äußere Ausstattung des Bandes angeht, der alle drei Bücher der Essais enthält: großformatig, mit Goldprägung auf königsblauem Grund, Schmuckbuchstaben leiten jeden Essay ein. Viele Faksimiles führen vor Augen, wie das zugrunde liegende Original mit den vielen Einfügungen von Montaignes Hand, das berühmte "Exemplaire de Bordeaux", ausgesehen hat. Man muß kein Prophet sein, um vorherzusagen, daß die im Vergleich zu Frankreich und dem angloamerikanischen Raum bisher dürftige deutschsprachige Montaigne-Rezeption durch diese Ausgabe einen kräftigen Schub erhalten wird. Kein Zweifel: Dies ist der Montaigne des 21. Jahrhunderts, der für lange Zeit Gültigkeit haben wird.