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Essen vor Gericht

Das ist die ultimative Rachephantasie nach einem schlechten Essen mit unfreundlichem Service: Man möchte Restaurantkritiker sein, und zwar Inspektor im Dienst des roten Führers, des "Michelin". Inspektor: das klingt schon sehr gewaltig. Es verleiht einem die Macht, aufzustehen und den unfähigen Koch mitsamt dem schnöseligen Kellner auf der Stelle zu verhaften. Da man in Zivilkleidung gekommen ist, wird die Überraschung riesengroß sein, wenn man seine "Michelin"-Dienstmarke zückt. Dann wird das ganze grauenhafte Personal um Gnade flehen. Solcher Art sind die Racheträume des gequälten Gastes. Aber ach! - uns bleibt nur, die Rechnung für die Misshandlung zähneknirschend zu bezahlen; das einzige, was wir von Michelin vorzeigen können, ist der Führer selbst. Ja, es heißt, man solle beim Betreten eines Etablissements das rote Buch offen mit sich tragen, dann werde man besser empfangen. Was für ein Blödsinn! Wer das tut, bekommt von vornherein den ahnungslose-Deppen-Tisch.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Wie aber sieht ein "Michelin"-Inspektor wirklich aus? Und wie geht eine richtige Razzia dieser Gastro-Polizei vonstatten? Das wollten wir schon immer gerne wissen, und deshalb hat uns das in diesem Frühjahr erschienene Buch von Pascal Rémy so fasziniert. Nur 150 Seiten dick, aber knallrot wie der Gegenstand seines Zorns, breitete dieses Traktat all jene Geheimnisse aus, welche im Hause "Michelin" ein Jahrhundert lang gehütet wurden. Denn genauso wortkarg wie das mit Zahlen und Symbolen gespickte Buch sind dessen Macher. Man wußte weder, wer sie sind, noch wie viele sie sind. Es gab keinerlei Mitteilungen darüber, wie ihre Urteile zustande kommen, wie viele Tests, wie viele Besuche einem Stern zugrunde liegen. Doch diese arrogante Lakonie machte den Mythos aus: Der "Michelin" war eben nicht nur Ermittlungsbehörde, sondern auch Hohes Gericht.

    Und dann kam Pascal Rémy und entzauberte das Ganze. Die Zahl der Testesser sei so gering, dass nur jedes zehnte der knapp 10.000 im französischen Führer aufgelisteten Hotels und Restaurants tatsächlich begutachtet werde, erklärte er, und bei den Drei-Sterne-Köchen gebe es gewisse Absprachen der Direktion, da könne ein Inspektor vor Ort befinden, was er wolle. Wegen seiner skandalträchtigen Veröffentlichung wurde Rémy prompt gekündigt, denn Michelin-Inspektoren sind natürlich zu Stillschweigen verpflichtet. Rémy hingegen hält die Kündigung nach 16 Jahren Dienst für ungerechtfertigt und verlangt eine Abfindung von 200 000 Euro. Als sein Buch herauskam, war er 40; es scheint also, dass er mit 24 Jahren als Testesser begonnen hat. Und das ist das eigentlich Empörende an diesem Fall. Wenn es nämlich stimmt, dass die unanfechtbare Gourmet-Bibel von 24-Jährigen verfaßt wird, dann hat sie jegliches Vertrauen verspielt. Gastrokritik setzt einfach mehr Restaurantbesuchserfahrung voraus, als man mit 24 haben kann, selbst wenn die Geschmackspapillen dann sensibler sind als später.

    Bei den Michelin-Benotungen geht es schließlich nicht um ein Kinderspiel, sondern um das wirtschaftliche Wohlergehen zahlloser Unternehmen. Die bloße Erwähnung und erst recht natürlich die Besternung führen einem Restaurant nicht nur Gäste zu, sondern auch qualifizierte Mitarbeiter, die sich bei ihren Bewerbungen am roten Führer orientieren. Ja, der Michelin ist nicht nur ein Hilfsmittel für Hungrige, sondern auch ein Geschmacks-Gericht, eine Institution, die uns im Zweifelsfalle sagt, wie uns etwas zu schmecken hat. Es ist dann schon sehr schwer, die Speisen in einem Drei-Sterne-Haus anders als nach-testend zu genießen; man kaut sozusagen mit jedem Bissen auch auf den drei Sternen herum.

    Dies ist übrigens ein Phänomen, das sich in vielen Lebensbereichen wieder finden lässt. Unser Weltverhältnis wird immer mehr vom Test geprägt. Kaum dass die Nahrungsaufnahme noch der realen Sättigung dient; sie ist vielmehr Teil eines Testprogramms von Lebensmitteln oder Restaurants. Urlaub, Partnerschaft und Politik: alles findet nur zur Probe statt, und dieser Umbau des Daseins zu einem gigantischen Pilotprojekt hat jene ontologische Desorientierung hervorgebracht, die philosophisch "Postmoderne" heißt.