Und dann kam Pascal Rémy und entzauberte das Ganze. Die Zahl der Testesser sei so gering, dass nur jedes zehnte der knapp 10.000 im französischen Führer aufgelisteten Hotels und Restaurants tatsächlich begutachtet werde, erklärte er, und bei den Drei-Sterne-Köchen gebe es gewisse Absprachen der Direktion, da könne ein Inspektor vor Ort befinden, was er wolle. Wegen seiner skandalträchtigen Veröffentlichung wurde Rémy prompt gekündigt, denn Michelin-Inspektoren sind natürlich zu Stillschweigen verpflichtet. Rémy hingegen hält die Kündigung nach 16 Jahren Dienst für ungerechtfertigt und verlangt eine Abfindung von 200 000 Euro. Als sein Buch herauskam, war er 40; es scheint also, dass er mit 24 Jahren als Testesser begonnen hat. Und das ist das eigentlich Empörende an diesem Fall. Wenn es nämlich stimmt, dass die unanfechtbare Gourmet-Bibel von 24-Jährigen verfaßt wird, dann hat sie jegliches Vertrauen verspielt. Gastrokritik setzt einfach mehr Restaurantbesuchserfahrung voraus, als man mit 24 haben kann, selbst wenn die Geschmackspapillen dann sensibler sind als später.
Bei den Michelin-Benotungen geht es schließlich nicht um ein Kinderspiel, sondern um das wirtschaftliche Wohlergehen zahlloser Unternehmen. Die bloße Erwähnung und erst recht natürlich die Besternung führen einem Restaurant nicht nur Gäste zu, sondern auch qualifizierte Mitarbeiter, die sich bei ihren Bewerbungen am roten Führer orientieren. Ja, der Michelin ist nicht nur ein Hilfsmittel für Hungrige, sondern auch ein Geschmacks-Gericht, eine Institution, die uns im Zweifelsfalle sagt, wie uns etwas zu schmecken hat. Es ist dann schon sehr schwer, die Speisen in einem Drei-Sterne-Haus anders als nach-testend zu genießen; man kaut sozusagen mit jedem Bissen auch auf den drei Sternen herum.
Dies ist übrigens ein Phänomen, das sich in vielen Lebensbereichen wieder finden lässt. Unser Weltverhältnis wird immer mehr vom Test geprägt. Kaum dass die Nahrungsaufnahme noch der realen Sättigung dient; sie ist vielmehr Teil eines Testprogramms von Lebensmitteln oder Restaurants. Urlaub, Partnerschaft und Politik: alles findet nur zur Probe statt, und dieser Umbau des Daseins zu einem gigantischen Pilotprojekt hat jene ontologische Desorientierung hervorgebracht, die philosophisch "Postmoderne" heißt.