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Estland
Gebrochenes Wahlversprechen und politischer Neuanfang

Der estnische Ministerpräsident Jüri Ratas bleibt nun doch im Amt. Ihm ist es gelungen eine Koalitionsregierung zu schmieden, an dem auch die Rechtspopulisten der Ekre-Partei beteiligt sind. Dabei hatte Jüri Ratas noch im Wahlkampf eine Zusammenarbeit mit der Ekre-Partei ausgeschlossen.

Von Florian Kellermann | 05.04.2019
Estlands Regierungschef Jüri Ratas
Die linksgerichtete Zentrumspartei von Jüri Ratas kam bei den Wahlen nur auf Platz zwei. (Leon Tanguy/MAXPPP/dpa)
Eigentlich hatten alle anderen Parteien eine Koalition mit Ekre ausgeschlossen. Denn diese tritt rechtsnational auf, seit sie vor vier Jahren zum ersten Mal ins Parlament eingezogen ist. Sie gibt sich deutlich EU-skeptisch. Ihr Vorsitzender Mart Helme sagte im Wahlkampf:
"Unser Freiheitskrieg endet nie. Denn immer wird es diejenigen geben, die es auf unser Land, unsere Reichtümer abgesehen haben. Heute kämpfen wir an zwei Fronten - einerseits gegen den russischen Imperialismus, andererseits gegen den EU-Imperialismus. Wie zwei Mühlsteine wollen sie uns zermahlen. Aber wir werden das nicht zulassen."
Außerdem macht Ekre Stimmung gegen Flüchtlinge, obwohl Estland nur einige Hundert aufgenommen hat - und gegen die rund 20.000 Ukrainer, die im vergangenen Jahr als Gastarbeiter ins Land gekommen sind.
Rechtsnationale für Innen- und Außenministerium im Gespräch
Nun wird diese Partei, die 18 Prozent der Stimmen holte, die estnische Politik entscheidend mitbestimmen. Welche Ministerposten sie bekommt, wird erst morgen bekannt. Aber im Gespräch sind das Innen- und auch das Außenressort.
Nicht nur die Kritiker der entstehenden Koalition hätten Angst, dass sich das negativ auf das Ansehen Estlands auswirkt, sagt Mari-Liis Jakobson, Politikwissenschaftlerin an der Universität Tallinn:
"Viele Esten sind sehr besorgt - und auch die internationale Gemeinschaft ist es. Deshalb haben die drei Koalitionspartner schon die in Estland akkreditierten Diplomaten eingeladen, um Rede und Antwort zu stehen. Sie haben erklärt, dass Estland in der Nato und der EU bleiben wird."
Doch vor allem beim Thema Flüchtlinge werde Estland eine harte Haltung einnehmen, so Mari-Liis Jakobson - und sich einem Verteilungsschlüssel verweigern.
Ministerpräsident muss sich für Ekre-Partei entschuldigen
Die Zentrumspartei nahm Verhandlungen mit Ekre auf, weil die Reformpartei ihr inakzeptable Bedingungen für eine große Koalition gestellt habe. So argumentierte Ministerpräsident Jüri Ratas. Kaja Kallas von der Reformpartei hält diese Argumente für vorgeschoben. Jüri Ratas habe die Koalitionsgespräche absichtlich scheitern lassen, um an der Macht zu bleiben, meint sie.
Ekre setzte sich bei den Koalitionsverhandlungen zwar nicht mit allen Forderungen durch, so viel ist bereits durchgesickert. Das Militär wird nicht die Außengrenzen kontrollieren, und das Gesetz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften wird nicht abgeschafft. Aber die Rechtsnationalen bestimmten schon jetzt die Diskussionen im Land, sagt Tarmo Jüris von der Tallinner Denkfabrik "Praxis":
"Ministerpräsident Jüri Ratas muss sich jeden zweiten Tag entschuldigen für eine Aussage oder eine Information, die aus der Partei Ekre kommt. Gerade erst hat eine Wochenzeitung über einen Ekre-Abgeordneten berichtet, der ganz offenbar ein Neonazi ist, im wörtlichen Sinn. Solche Dinge kommen jetzt die ganze Zeit hoch."
Proteste in Tallin
In den vergangenen Wochen demonstrierten Tausende Esten in Tallinn und anderen Städten gegen die Koalitionsgespräche, unter dem Motto: "Estland für alle". Unter ihnen Reelika Virunurm. Die 33-Jährige setzt für ein weltoffenes Tallinn ein, unter anderem in verschiedenen Gruppen für Expats in der estnischen Hauptstadt.
Die Proteste hätten sie wieder positiver gestimmt, sagt sie:
"Ich glaube, viele Leute haben jetzt auch wirklich verstanden, wir müssen für Menschenrechte, Demokratie, freie Medien, wir müssen einfach dafür stehen. Und versuchen, diese Ekre-Wähler oder diese Leute, die so enttäuscht sind vom heutigen Estland, zu verstehen. Vielleicht ist es für die Zukunft sogar irgendwie positiv, was dabei rauskommt."