Von Michael Lange
Als die Sowjet-Union zusammenbrach, war die Aufbruchstimmung und der Wille, etwas Neues zu schaffen, in Estland noch größer als in anderen ehemaligen Sowjet-Republiken. Estland sollte High-Tech- und Computerland werden. Vorbild: der Technologie-Boom beim nordischen Nachbarn Finnland. Aber trotz radikaler Marktwirtschaft verlief der Aufschwung langsamer als viele hofften. Dem Ideenreichtum der Esten hat das nicht geschadet.
Beispiel: Genomforschung. 1998 haben Genforscher und Mediziner in der estnischen Universitätsstadt Tartu ein Projekt auf den Weg gebracht, das gleichermaßen ambitioniert wie zukunftsweisend ist. Blutproben und Gesundheitsdaten einer Million Esten sollen in einer Bio- und Datenbank gespeichert werden. Haupt-Initiator dieses Projektes ist Andres Metspalu, Biotechnologie-Professor an der Universität Tartu.
Wir wollen einen neuen Wirtschaftssektor schaffen, der in Estland noch fehlt. Das ist die Gen- und Biotechnologie. Wir hoffen, dass in wenigen Jahren mindestens tausend Menschen in diesem Bereich Arbeit finden werden. Heute gibt es nur eine Handvoll Biotechnologie-Firmen, die etwa hundert Personen beschäftigen. Diese Zahl möchten wir verzehnfachen.
Es dauerte etwa vier Jahre bis aus der Idee ein Projekt wurde. Eine Stiftung wurde gegründet, Geld gesammelt, die Werbetrommel gerührt, und das Parlament verabschiedete ein Genomgesetz. Dann im Oktober 2 002 konnte es losgehen. Zunächst als Pilot-Projekt in drei estnischen Landkreisen. Die Hausärzte sammelten die Blutproben ihrer Patienten und füllten gemeinsam mit ihnen einen Fragebogen aus. Darin Fragen zur Gesundheit, über Vorfahren und Familienmitglieder, über Umweltfaktoren und Lebensweise, über Ernährung, Gewohnheiten und Arbeitsbedingungen. Wegen allerlei Computer-Probleme konnten viele der Hausärzte erst verspätet mit dem Sammeln beginnen. Aber nach sechs Monaten im März dieses Jahres wurde das Pilotprojekt abgeschlossen. Ob wirklich 10 000 Teilnehmer erfasst wurden, wie geplant, blieb offen. Andres Metspalu jedenfalls ist zufrieden:
Die Leute unterstützen das Projekt. Wie wir von den Hausärzten erfahren haben, lauteten anfangs die häufigsten Fragen: "Wann geht es endlich los?” oder "Warum haben Sie die Zulassung noch nicht?” Jetzt, wo alle Ärzte dabei sind und Erfahrungen gesammelt haben, lautet die Bilanz: 30 Prozent der Patienten wollen mitmachen und fragen gezielt nach dem Projekt, 30 Prozent müssen gesucht und überzeugt werden. Der Rest ist uninteressiert oder will nicht teilnehmen. Aber insgesamt sehen wir viel Interesse.
Die Zustimmung überrascht, denn das Projekt dient vor allem der Forschung. Erst in ferner Zukunft könnte es auch den Patienten nutzen. Das Genomprojekt soll in erster Linie Daten liefern, die den Wissenschaftlern dabei helfen, herauszufinden, welche Gene das Risiko für bestimmte Krankheiten erhöhen. Das reicht von Bluthochdruck und Diabetes, über Rheuma und Krebs bis zu Alzheimer oder Schizophrenie. Mit dem Wissen aus der Biobank könnten Pharmafirmen dann in Zukunft gezielt wirkende neue Medikamente oder Diagnose-Verfahren entwickeln. Ob das tatsächlich funktionieren wird, ist offen, und ob die einzelnen Teilnehmer durch eine Art persönliche Gen-Karte tatsächlich von dem Projekt profitieren werden, wie die Betreiber versprechen, wird von Kritikern bezweifelt. Die Ärztin Tina Tasmuth kämpftevon Anfang an gegen das Projekt:
Wissenschaftlich betrachtet hat unsere medizinische Dokumentation in Estland längst nicht das gleiche Niveau wie unsere Gentechnik. Im Genomprojekt aber sollen genau diese beiden Ebenen verknüpft werden: Gentechnik und Medizinische Dokumentation. Das kann gar nicht funktionieren. Auch die Diagnostik ist nicht so gut wie in Westeuropa. Wir haben weit weniger Computer-Tomographen und andere High-Tech-Geräte. Die Alltagsmedizin findet unter ganz anderen Bedingungen statt als im Westen. Überall mangelt es an moderner Ausrüstung. Wenn man die so gewonnenen Diagnosedaten mit hochwissenschaftlichen Genomdaten verknüpft, ist das ein wissenschaftlicher Fehler.
Andres Metspalu sieht das anders. Estland könnte ein weltweites Modell werden für ein vorsorgendes Gesundheitssystem. Die Genetik sagt den Patienten, auf welche Risikofaktoren sie achten müssen, so seine Vision. Aber die Bedingungen sind ungünstig in Estland, das sagen auch viele westeuropäische Genetiker. Dass das Projekt dennoch, wenn auch langsam, immer noch läuft, dafür sorgt einzig und allein Andres Metspalu:
Wir arbeiten so schnell wir können. Wahrscheinlich brauchen wir aber mehr Zeit, um eine Million Proben zusammenzubekommen. Vielleicht sieben Jahre oder auch länger. Das hängt von den Investoren ab. Wir haben genug Geld, um bis Ende des Jahres weiterzumachen, und auch das nächste Jahr ist einigermaßen gesichert. Wir bereiten zur Zeit die nächste Runde der Finanzierung vor, damit wir unser Ziel erreichen.
Circa 4,5 Millionen Euro hat Andres Metspalu bislang zusammenbekommen. Er braucht jedoch mindestens das Zehnfache. Die meisten Investitionen kamen bislang von Biotechnologie-Firmen aus den USA. Die großen Pharmaunternehmen zahlen vorerst nicht. Dennoch blicken sie gespannt nach Estland. Möglicherweise entsteht hier ein idealer Standort für klinische Studien. Denn je mehr Daten über einzelne Patienten existieren, um so mehr Informationen liefern Studien, in denen zum Beispiel die Wirkung von Medikamenten überprüft wird. Bis es so weit ist, wird es allerdings noch ein paar Jahre dauern. Metspalu:
Die Jahre vergehen schnell. Wenn wir vor zehn Jahren mit dem Genomprojekt begonnen hätten, könnten wir heute schon erste Daten auswerten. Wer einen Berg bezwingen will, muss irgendwann anfangen zu klettern.
Und die Esten wollen klettern. Das gilt nicht nur für das Genomprojekt, sondern für die ganze estnische Wissenschaft.
Als die Sowjet-Union zusammenbrach, war die Aufbruchstimmung und der Wille, etwas Neues zu schaffen, in Estland noch größer als in anderen ehemaligen Sowjet-Republiken. Estland sollte High-Tech- und Computerland werden. Vorbild: der Technologie-Boom beim nordischen Nachbarn Finnland. Aber trotz radikaler Marktwirtschaft verlief der Aufschwung langsamer als viele hofften. Dem Ideenreichtum der Esten hat das nicht geschadet.
Beispiel: Genomforschung. 1998 haben Genforscher und Mediziner in der estnischen Universitätsstadt Tartu ein Projekt auf den Weg gebracht, das gleichermaßen ambitioniert wie zukunftsweisend ist. Blutproben und Gesundheitsdaten einer Million Esten sollen in einer Bio- und Datenbank gespeichert werden. Haupt-Initiator dieses Projektes ist Andres Metspalu, Biotechnologie-Professor an der Universität Tartu.
Wir wollen einen neuen Wirtschaftssektor schaffen, der in Estland noch fehlt. Das ist die Gen- und Biotechnologie. Wir hoffen, dass in wenigen Jahren mindestens tausend Menschen in diesem Bereich Arbeit finden werden. Heute gibt es nur eine Handvoll Biotechnologie-Firmen, die etwa hundert Personen beschäftigen. Diese Zahl möchten wir verzehnfachen.
Es dauerte etwa vier Jahre bis aus der Idee ein Projekt wurde. Eine Stiftung wurde gegründet, Geld gesammelt, die Werbetrommel gerührt, und das Parlament verabschiedete ein Genomgesetz. Dann im Oktober 2 002 konnte es losgehen. Zunächst als Pilot-Projekt in drei estnischen Landkreisen. Die Hausärzte sammelten die Blutproben ihrer Patienten und füllten gemeinsam mit ihnen einen Fragebogen aus. Darin Fragen zur Gesundheit, über Vorfahren und Familienmitglieder, über Umweltfaktoren und Lebensweise, über Ernährung, Gewohnheiten und Arbeitsbedingungen. Wegen allerlei Computer-Probleme konnten viele der Hausärzte erst verspätet mit dem Sammeln beginnen. Aber nach sechs Monaten im März dieses Jahres wurde das Pilotprojekt abgeschlossen. Ob wirklich 10 000 Teilnehmer erfasst wurden, wie geplant, blieb offen. Andres Metspalu jedenfalls ist zufrieden:
Die Leute unterstützen das Projekt. Wie wir von den Hausärzten erfahren haben, lauteten anfangs die häufigsten Fragen: "Wann geht es endlich los?” oder "Warum haben Sie die Zulassung noch nicht?” Jetzt, wo alle Ärzte dabei sind und Erfahrungen gesammelt haben, lautet die Bilanz: 30 Prozent der Patienten wollen mitmachen und fragen gezielt nach dem Projekt, 30 Prozent müssen gesucht und überzeugt werden. Der Rest ist uninteressiert oder will nicht teilnehmen. Aber insgesamt sehen wir viel Interesse.
Die Zustimmung überrascht, denn das Projekt dient vor allem der Forschung. Erst in ferner Zukunft könnte es auch den Patienten nutzen. Das Genomprojekt soll in erster Linie Daten liefern, die den Wissenschaftlern dabei helfen, herauszufinden, welche Gene das Risiko für bestimmte Krankheiten erhöhen. Das reicht von Bluthochdruck und Diabetes, über Rheuma und Krebs bis zu Alzheimer oder Schizophrenie. Mit dem Wissen aus der Biobank könnten Pharmafirmen dann in Zukunft gezielt wirkende neue Medikamente oder Diagnose-Verfahren entwickeln. Ob das tatsächlich funktionieren wird, ist offen, und ob die einzelnen Teilnehmer durch eine Art persönliche Gen-Karte tatsächlich von dem Projekt profitieren werden, wie die Betreiber versprechen, wird von Kritikern bezweifelt. Die Ärztin Tina Tasmuth kämpftevon Anfang an gegen das Projekt:
Wissenschaftlich betrachtet hat unsere medizinische Dokumentation in Estland längst nicht das gleiche Niveau wie unsere Gentechnik. Im Genomprojekt aber sollen genau diese beiden Ebenen verknüpft werden: Gentechnik und Medizinische Dokumentation. Das kann gar nicht funktionieren. Auch die Diagnostik ist nicht so gut wie in Westeuropa. Wir haben weit weniger Computer-Tomographen und andere High-Tech-Geräte. Die Alltagsmedizin findet unter ganz anderen Bedingungen statt als im Westen. Überall mangelt es an moderner Ausrüstung. Wenn man die so gewonnenen Diagnosedaten mit hochwissenschaftlichen Genomdaten verknüpft, ist das ein wissenschaftlicher Fehler.
Andres Metspalu sieht das anders. Estland könnte ein weltweites Modell werden für ein vorsorgendes Gesundheitssystem. Die Genetik sagt den Patienten, auf welche Risikofaktoren sie achten müssen, so seine Vision. Aber die Bedingungen sind ungünstig in Estland, das sagen auch viele westeuropäische Genetiker. Dass das Projekt dennoch, wenn auch langsam, immer noch läuft, dafür sorgt einzig und allein Andres Metspalu:
Wir arbeiten so schnell wir können. Wahrscheinlich brauchen wir aber mehr Zeit, um eine Million Proben zusammenzubekommen. Vielleicht sieben Jahre oder auch länger. Das hängt von den Investoren ab. Wir haben genug Geld, um bis Ende des Jahres weiterzumachen, und auch das nächste Jahr ist einigermaßen gesichert. Wir bereiten zur Zeit die nächste Runde der Finanzierung vor, damit wir unser Ziel erreichen.
Circa 4,5 Millionen Euro hat Andres Metspalu bislang zusammenbekommen. Er braucht jedoch mindestens das Zehnfache. Die meisten Investitionen kamen bislang von Biotechnologie-Firmen aus den USA. Die großen Pharmaunternehmen zahlen vorerst nicht. Dennoch blicken sie gespannt nach Estland. Möglicherweise entsteht hier ein idealer Standort für klinische Studien. Denn je mehr Daten über einzelne Patienten existieren, um so mehr Informationen liefern Studien, in denen zum Beispiel die Wirkung von Medikamenten überprüft wird. Bis es so weit ist, wird es allerdings noch ein paar Jahre dauern. Metspalu:
Die Jahre vergehen schnell. Wenn wir vor zehn Jahren mit dem Genomprojekt begonnen hätten, könnten wir heute schon erste Daten auswerten. Wer einen Berg bezwingen will, muss irgendwann anfangen zu klettern.
Und die Esten wollen klettern. Das gilt nicht nur für das Genomprojekt, sondern für die ganze estnische Wissenschaft.