Donnerstag, 25. April 2024

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Estlands digitales Klassenbuch
"Die Esten vertrauen den digitalen Lösungen"

Eine estnische Schule hat nun ein digitales Klassenbuch - auf das Schüler, Eltern und Lehrer Zugriff haben. Dabei gehe es nicht um gegenseitige Kontrolle, sondern eher um schnellen Informationsaustausch, sagte der estnische Schulleiter Kaarel Rundu im Dlf. Digitale Lösungen gebe es in vielen Lebensbereichen.

Kaarel Rundu im Gespräch mit Benedikt Schulz | 01.03.2019
Das Schild einer Schule in der Altstadt von Tallinn in Estland
Das Schild einer Schule in der Altstadt von Tallinn in Estland (dpa / Arco Images)
Benedikt Schulz: Am Telefon ist jetzt Kaarel Rundu. Er ist Leiter des Tallinna Saksa Gümnaasium, des deutschen Gymnasiums in Tallinn, eine Schule in der estnischen Hauptstadt, an der man sowohl die estnische als auch die deutsche Hochschulreife bekommen kann. Und mit ihm will ich sprechen über etwas, was es in Estland seit mehr als 15 Jahren gibt, was bei uns aber irgendwie immer noch unmöglich zu sein scheint, nämlich eine digitale Lehr-Lernplattform für alle. eKool heißt das Ganze, und die meisten Lehrerinnen und Lehrer in Estland, die würden darauf wohl nicht mehr verzichten wollen. Herr Rundu, herzliche Grüße nach Tallinn, hallo!
Kaarel Rundu: Hallo, guten Tag, vielen Dank für die Grüße! Grüße zurück natürlich.
Schulz: Das digitale Klassenbuch, das Sie da benutzen, das heißt eKool, also "e" und "kool", das estnische Wort für Schule. Beschreiben Sie mal vielleicht kurz, wie funktioniert dieses System?
Informationsaustausch mit dem Klassenlehrer
Rundu: Also ich fang mal von der Schülerperspektive an. Da kann ich sehen, alles – also alle meine Hausaufgaben, Kommentare, Noten, die die Lehrer eingetragen haben. Ich kann auch sehen zum Beispiel, wann meine Prüfungen sind oder wie lange die Hausaufgaben mir zu dem nächsten Tag aufgegeben wurden. Und ich habe auch Zugriff auf Zusatzmaterial, das Lehrer vielleicht da hinzugefügt haben – sei es Videos oder PDF-Dateien oder Links und so weiter. Auch wenn ich zum Beispiel krank bin, kann ich gucken, was haben die in Mathe gemacht heute in der vierten Stunde.
Wenn ich aus der Elternperspektive Informationsaustausch mit dem Klassenlehrer mache, ich kann da zum Beispiel Entschuldigungen schicken, ich kann die Durchschnittsnoten von meinem Kind sehen oder auch die Durchschnittsstatistiken zu größeren Klassenarbeiten. Und wenn ich sehr besorgt um mein Kind bin, dann kann ich das auch auf mein Handy als App haben und zum Beispiel dort einstellen, dass ich eine SMS kriege, wenn mein Kind, was weiß ich, zwei, drei Stunden nicht im Unterricht war. Dann bekomme ich eine SMS und kann mein Kind anrufen und fragen, wo bist du gerade, was machst du, warum bist du nicht in der Schule.
Wenn ein Schüler sozusagen die Schule verlässt, kann ich Noten direkt in die nächste Schule schicken, die zum Beispiel auch das eKool hat. Es müssen keine Papiere, gedruckten Zeugnisse hin- und hergeschickt werden, die noch abgestempelt werden müssen.
"Das Vertrauen ist mit den Jahren gewachsen"
Und die Klassenlehrerperspektive: Das heißt, ich kann gucken, wie geht es den Schülern, wo stehen sie in welchem Fach, welche Kontrollarbeiten oder Prüfungen liegen an. Die neueste oder die wichtigste Zusatzfunktion war jetzt auch, dass die – wir nennen das Zusatzpersonal, also Schulpsychologe, Sonderpädagoge, Sozialpädagoge, den Kinderschutz –, dass die dann Zugriff haben oder sich mit der Familie in Kontakt setzen können, wo es zum Beispiel große Fehlzeiten gibt, dass der Schulpsychologe oder Sozialpädagoge da eine Anmerkung machen kann und die Information geht dann direkt an das Jugendamt weiter. Und die können sich dann damit weiter auseinandersetzen.
Schulz: Ja, dieses System wurde ja auch erstellt oder auch erstellt von privaten Unternehmen, und die Daten liegen ja nicht auf Schulservern, sondern eben auch auf privaten Servern. Das würde in Deutschland ziemlich große Skepsis hervorrufen – warum nicht bei Ihnen in Estland?
Rundu: Also ich glaube, die Esten vertrauen den digitalen Lösungen, weil auch, falls da irgendwas falsch gelaufen ist oder dass die Unternehmen auch sehr schnell von den Fehlern lernen und die Plattform halt besser machen. Am Sonntag haben wir Wahlen, die größte Zahl, die jemals auf der Welt mit dem E-Voting abgestimmt hat. Und ich glaube, dass die ganzen Zusatzangebote, dass das nicht nur im Bildungssystem ist und nicht nur eKool, sondern alles drumherum: die digitalen Rezepte, die digitale Unterschrift, dass ich 24 Stunden Zugriff auf meine Gesundheitsdaten habe oder nachgucken kann, wann ich das nächste Mal zum TÜV muss. Alles ist zugreifbar, und ich glaube, das hat auch mit den kleinen Schritten angefangen, das heißt, das Vertrauen ist mit den Jahren gewachsen. Datenschutz ist ein großes Thema, und auch im Schulunterricht hängt das alles daran, also wie schütze ich mich, auf was muss ich achten, wie schütze ich meine Geräte und so weiter und so weiter.
"Ein bisschen ist es so gegenseitige Kontrolle"
Schulz: Was sagen denn eigentlich Ihre Lehrerinnen und Lehrer? Die Eltern haben Zugriff auf die Daten, das heißt ja auch, dass die Lehrer auch liefern müssen. Fühlen die sich nicht manchmal auch ein bisschen kontrolliert von den Eltern?
Rundu: Ja, aber es ist auch ein, sagen wir mal, Geben und Nehmen. Das heißt, ich als Klassenlehrer kann zum Beispiel auch gucken, wann die Eltern das letzte Mal das Notenblatt angeguckt haben oder so. Das heißt, ein bisschen ist es so gegenseitige Kontrolle, wobei das gar nicht so eher Kontrolle ist, sondern schneller Informationsaustausch, würde ich mal sagen.
Am Anfang, wenn man das das erste Jahr macht, braucht es schon ein bisschen Einarbeitung, aber da ich dann meine ganzen Unterrichtsmaterialien ergänzen und zum Beispiel ins nächste Jahr übertragen kann, macht das die Sache viel einfacher und zeitsparender. Ich muss nicht mehr irgendwie mit meinem Kind eine Entschuldigung dem Lehrer schicken, sondern ich trage das ein, der Lehrer sieht, wer das und wo – also nicht wer wo, sondern weil ich kann gucken, okay, gestern um 17 Uhr hat die Mutter mir geschrieben, und wenn ich da noch Fragen habe, kann ich sie anrufen. Oder ich kann gucken, ja, zwei Wochen hat die Mutter jetzt da nicht reingeguckt, dann müsste ich mich mit der Mutter in Kontakt setzen, vielleicht muss da was geklärt werden.
Die Lehrer empfinden das nicht als Kontrolle. Ich glaube, das macht auch den Eltern die Sache hier einfacher, dass sie Zugriff haben und gucken können, wie die Lernfortschritte sind, welches Zusatzmaterial sie zum Beispiel bei Hausaufgaben benutzen können, oder dass sie sich nicht nur auf das Wort ihres Kindes verlassen müssen, sondern ein bisschen auch … Ich denke, das ist eine Zusammenarbeit von Schule und Zuhause.
Schulz: Das war der Schulleiter des Tallinna Saksa Gümnaasium, des deutschen Gymnasiums in Tallinn, Kaarel Rundu, über das digitale Klassenbuch eKool, seit mehr als 15 Jahren erfolgreich flächendeckend dort im Einsatz.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.