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Etagen einer Stadt

Berlin wächst, nicht nur in die Breite, sondern vor allem in die Höhe: Der neue Hauptbahnhof lässt ICEs und S-Bahnen gleich auf vier Etagen ankommen, so dass sich die Züge übereinander zu stapeln scheinen, auch im Sony-Center gibt es eine unterirdische und überirdische Welt. Und gleich daneben können Touristen ein Hochhaus mit dem schnellsten Aufzug Europas hinaufsausen.

Von Thomas Gith | 13.07.2008
    Auf mehreren Etagen fahren hier Züge ein: der Berliner Hauptbahnhof.
    Auf mehreren Etagen fahren hier Züge ein: der Berliner Hauptbahnhof. (DRadio - Thomas Gith)
    Anfahrt zum neuen Berliner Hauptbahnhof: Die S-Bahn rattert über Gleise, die über Viaduktbögen führen, sie fährt durch Häuserschluchten, vorbei an Bürofenstern im zweiten und dritten Stock. Als die Häuser verschwinden, öffnet sich der Blick in die Ebene. Einige Meter versetzt unter der Hochbahn führt eine Straße an der Spree vorbei, dahinter: die Silhouette des Regierungsviertels mit Reichstag und Bundeskanzleramt.

    "Nächste Station Hauptbahnhof, Übergang zum S-Bahn und Fernverkehr."

    Die Straße und die vielleicht acht Meter darüber liegende S-Bahn-Trasse führen direkt auf ihn zu: Auf den Hauptbahnhof. Mit quietschenden Bremsen fährt die S-Bahn unter das fast halbrunde, gewölbte Glasdach des Bahnhofs. Ankunft im zweiten Obergeschoss, auf einer Höhe, auf der sich auch viele Berliner Hausdächer befinden.

    Unter dem lichtdurchfluteten, etwa 300 Meter langen und hoch gewölbtem Glasdach sind Touristen mit Rucksäcken und Geschäftsreisende mit Rollkoffern unterwegs. Auch eine Reisegruppe aus Hannover ist gerade angekommen - angereist, um den Bahnhof zu besichtigen. Sie gruppiert sich um einen Schacht, durch den der Blick bis ganz nach unten fällt: vier Stockwerke tief. Dort unten fahren ebenfalls Züge, unterirdisch fahren sie von Nord nach Süd und nicht - wie hier im zweiten Obergeschoss - von West nach Ost.

    Auch die anderen Etagen sind einzusehen: Die drei Galerien zwischen den beiden Bahnhofsebenen, auf denen es zahlreiche Restaurants, Boutiquen, Cafes gibt. Die transparenten Fahrstühle, die in gläsernen Röhren durch den Bahnhof führen, die Rolltreppen, die den leeren Raum zwischen den Etagen kreuzen, die Etagen miteinander verbinden. Auch Reinhard Koppman aus Hannover guckt nach unten. Er ist mit der Reisegruppe hier und das erste Mal am Berliner Hauptbahnhof.

    " Ja, das ist enorm, die ganze Bauweise hier, die Glasfassaden, die vielen Ebenen hier, das ist überwältigend so was. Das ganze Bauwerk, die vielen Stockwerke, wie das alles gebaut wurde. Wahnsinn!"

    Mit der Rolltreppe fährt die Gruppe eine Etage nach unten, ins erste Obergeschoss. Andreas Reikowski geht den etwa 25 Männern und Frauen voran, er ist Bahnhofsführer und fast täglich vor Ort. Er leitet die Gruppe - führt sie sicher vorbei an Menschen, die in alle Richtung laufen, vorbei an Geschäften und Cafes, hin zu einer hohen Brüstung. Dort bleiben alle Gruppenmitglieder stehen. Der Blick schweift in die Ebene, nach oben und unten. Karin Leicht, die mit der Gruppe angereist ist, ist beeindruckt.

    "Es ist einfach toll, einfach irgendwie überwältigend, wenn man hier reinkommt und das Ganze sieht, fantastisch: einmal das Lichtdurchflutete, dann die verschiedenen Ebenen, dass die Züge mitten durch fahren, diese offene Bauweise und dann eben auch diese vielen schönen Details, die schönen Aufzüge und eben auch das Hallendach, dass man immer in den Himmel gucken kann."

    Über die Galerien an der rechten und linken Bahnhofsseite, über die Brücken, die sich über die tiefer gelegenen Etagen spannen und die die Galerien miteinander verbinden, gehen die Männer und Frauen weiter in den Bahnhof hinein. An einer der Panorama-Balustraden zeigt Bahnhofsführer Andreas Reikowski nach unten.

    "Ja, schwindelfrei sollte man schon sein, da man an keiner Stelle dieses Bahnhofs den Blickachsen hier entgehen kann. Der Blick geht 30 Meter etwa in die Tiefe. Man blickt auf den Betrieb der unteren Bahnsteige. Ich sehe gerade eine Kollegin vom Service-Personal mit einer roten Mütze, die kümmert sich gerade um einen Fahrgast, der sich da vor der Bank hingestellt hat. Es läuft zurzeit ein Zug aus Frankfurt ein.""

    Natürlich hört man die Züge auch hier im ersten Obergeschoss noch. Dem Geräuschpegel im Bahnhof können sich die Besucher kaum entziehen. Immer wieder hallen Ansagen und Zuggeräusche durch die Luft, vermischen sich mit den Gesprächsfetzen, Schritten, Rufen der Besucher.

    Über eine Treppe gelangt die Gruppe ins Erdgeschoss. Andreas Reikowski führt sie in eine verhältnismäßig stille Ecke. Hier erzählt er die Geschichte des Ortes, an dem heute der Bahnhof steht, denn noch bis 1990 war hier Niemandsland.

    "Ja, während der Zeit, als die Mauer stand, während die Stadt geteilt war, da war hier eigentlich eine große Brache. Das einzige, was stand, war die letzte Station im Westen, Lehrter Stadtbahnhof. Unmittelbar nebenan, sobald man über die Brücke gefahren ist, über den Humboldthafen, war man bereits im Osten, in Sichtweite von hieraus bereits die Station Friedrichstraße, der frühere Grenzübergang. Hier aber war die Welt zu Ende, hier war nichts mehr, eine öde, leere Gegend. Hier konnte man experimentelle Filme drehen, hier konnte man sich entfalten, hier war keine Aufmerksamkeit für das Stadtbild da.""

    Eine Aufmerksamkeit, die heute allerdings besteht. Der Bahnhof, der auf der einstigen Brache in mehreren Jahren errichtet wurde, zieht mittlerweile Menschen aus fast allen Ländern der Erde an, sagt Andreas Reikowski. Der Bahnhof ist nicht nur Verkehrsknotenpunkt für Reisende aus aller Welt, sondern auch Besuchermagnet. Diese Erfahrung hat auch Gregor Klässigs gemacht, der im Untergeschoss eins einen Fischimbiss betreibt.

    Hier unten ist es bereits etwas kühler als oben - ruhiger und dunkler ebenfalls: Zwar säumen auch hier Bars und Cafes, Supermärkte und Boutiquen die Galerie, doch es sind deutlich weniger Menschen unterwegs, als auf den beiden oberen Galerien. Eine besondere Atmosphäre, sagt Gregor Klässigs.

    "Wir fühlen uns als Teil des Bahnhofs, man muss dazu sagen, wir fühlen uns als unterer Teil des Bahnhofs. Das heißt, wir sind ja sozusagen in der Ebene minus eins, trotz des großen Daches und des Lichteinwurfes sind wir halt auch eine Minus-Eins-Etage und etwas unter der Erde. Wenn sie sich vorstellen, sie kommen aus Frankfurt am Main mit dem ICE, dann kommen sie einfach auch oben an, und wenn sie nach Berlin Mitte wollen, steigen sie oben in die S-Bahn. Das heißt, wenn sie keine Zeit haben, frequentieren sie natürlich nicht alle Etagen gleichzeitig.""

    Immer sonntags ist auf allen drei Galerien allerdings gleichviel los, fügt Gregor Klässigs hinzu. Dann kommen Besucher, die zwischen den Etagen wechseln, um durch den ganzen Bahnhof zu schlendern.

    Abfahrt mit dem Fahrstuhl zur untersten Etage - auf der es ausschließlich Bahngleise gibt.

    "Untergeschoss zwei, Bahnsteig fünf und sechs."

    Nachdem die Fahrstuhltür aufgegangen ist, umfängt den Besucher eine frische Kühle. Kein Wunder: Die letzte Etage des Bahnhofs liegt 15 Meter unter dem Boden - und nicht nur das, sagt Bahnhofsführer Andreas Reikowski.

    "Wenn sie auf den Tiefbahnsteig gehen, stehen sie übertragen gesagt im Wasser. Denn wenn sie in Berlin anfangen zu graben, stehen sie frühestens nach eineinhalb Metern und spätestens nach drei Metern im Wasser, so hoch ist hier der Grundwasserspiegel.""

    Mit einem Druck von 20 Tonnen pro Quadratmeter presst hier das Wasser gegen die Wände. Doch die Fahrgäste sind davor gut geschützt - in diesem mit Neonlicht kalt beleuchtetem Raum. Von den oberen Etagen sieht man nur an einigen Stellen etwas: Eine Decke versperrt vielenorts den Blick nach oben. Daher ist es nicht nur dunkler - es ist auch leiser. Geräusche machen nur die Züge, die hier ein- und ausfahren und die Lautsprecheransagen.

    "Auf Gleis eins fährt jetzt ein: Regionalexpress von Wismar nach Ludwigsfelde. Nächster Halt: Potsdamer Platz."

    Mit dem Regionalzug geht es weiter. Unterirdisch: Der Weg dorthin führt durch einen insgesamt 3,4 Kilometer langen Bahntunnel. Auf der Hälfte der Tunnelstrecke hält der Zug.

    "Wie erreichen jetzt den Bahnhof Potsdamer Platz. Ausstieg links."

    Ausstieg am Potsdamer Platz - zusammen mit einer Gruppe japanischer Touristen, die ebenfalls im Regionalzug gesessen hat. Mintgrünes, kaltes Licht empfängt die Besucher im Untergeschoss zwei. Durch eine Glastür und über eine nachfolgende Treppe gelangt man von der Bahnhofshalle in die ebenfalls vom Tageslicht abgeschottete Passerelle im Untergeschoss eins.

    Hier unten betreibt Christiane Rasmus ein kleines Bistro. Die mit Digitalkameras behängten Japaner sitzen bei ihr, trinken Kaffee. Passerelle samt Bistro gehören zum Sony-Center, einem überdachten Hochhaus-Komplex und dem wohl bekanntesten Ort am Potsdamer Platz. Ein Ort, der vor allem Berlin-Besucher anlockt, sagt Christiane Rasmus. In den vier Jahren, die sie das Cafe betreibt, hat sie schon viele Besucher bewirtet.

    "Also normalerweise kommt ein Berliner nicht hierher, ins Sony-Center, das würde er eher tun, wenn er Besuch hat. Also das erfahren wir immer wieder von Besuchern des Sony-Centers, der Berliner interessiert sich nicht wirklich für das Sony-Center. Es sind wirklich hauptsächlich Touristen, oder eben Berliner, die Berlin zeigen möchten und dann gehört das Sony-Center mit dazu."

    Aufstieg vom Untergeschoss eins ins Tageslicht. Auf ebener Erde erwartet die Besucher der oberirdische Teil des Sony-Centers: Ein kreisförmiger Platz, umrundet von Hochhäusern aus Glas und Stein. Überdacht ist der Platz durch eine in vielleicht 50 Meter Höhe angebrachte Konstruktion aus Glas und Gewebebahnen, die zwischen den Dachfassaden der Hochhäuser gespannt ist. Von einer großen Videoleinwand dringt Musik herüber. In zahlreichen Cafes auf dem überdachten Platz sitzen Gäste und trinken Kaffee. Durch die Häuserschluchten kommt Luft herein, mit ihnen weitere Besucher, die die Köpfe in den Nacken legen und nach oben blicken.

    Mitten auf dem Platz steht Sönke Magnus Müller - vor allem für an Architektur interessierte Besucher bietet er Führungen durch das Sony Center an. Sönke Magnus Müller kennt die Geschichte des Platzes, weiß, wie das Sony-Center hier am Potsdamer Platz in Berlin entstanden ist. Bis 1989 teilte die Berliner Mauer den Platz, der öde und verwildert war. Allerdings: Vier Stockwerke des alten Hotel Esplanade standen hier noch - und sie stehen auch heute noch hier. Sie sind integriert in ein modernes, mehr als zehnstöckiges Geschäftsgebäude aus Glas und Stahl.

    "Sie sehen, vor dieser alten Fassade haben wir eine richtige Glashängewand, die eigentlich nur da ist, um das Alte zu integrieren in das Neue. Das heißt, wir haben fast so einen Eindruck, als wenn die Fassade des alten Gebäudes fast so ein bisschen zurückversetzt ist - und wie in so einer Vitrine steht, fast wie im Museum."

    Die alte viergeschossige Fassade fügt sich ein in die neue Architektur, überbaut ist sie von sieben weiteren Stockwerken. Sönke Magnus Müller geht um das Gebäude herum. Auf der Rückseite zeigt er auf den ebenfalls in Glas verpackten Kaisersaal, der zwischen den Hochhäusern steht. Auch er gehörte ehemals zum Hotel Esplanade - hat aber nicht immer hier gestanden.

    "Der Kaisersaal ist also insofern besonders, weil er eben im Ganzen verschoben ist. Man musste erstmal die aufliegenden Geschosse entfernen und so weiter. Er lag halt teilweise dort, wo heute das Hochhaus steht und teilweise auf der neuen Potsdamer Straße - also hier - man hat ihn dann also entkernt, alles, was man rausnehmen konnte, rausgenommen, mit hydraulischen Pressen hat man die ganze Geschichte 2,4 Meter angehoben und dann sollte es auf einer betonverschiebbaren Ebene hier entlang verschoben werden und neu angedockt werden an den neuen Gebäudeteil, der westlich von dem alten Hotel entstanden ist."

    Beim ersten Mal hat es allerdings nicht geklappt - weil die Statiker sich verrechnet hatten. Beim zweiten Mal ging dann aber alles gut und der Saal rutschte an seinen jetzigen Ort. Entstanden ist so ein mehrgeschossiger, moderner Hochhauskomplex mit historischen Bauteilen.

    An der mehrspurigen Straße am Potsdamer Platz verabschiedet sich Sönke Magnus Müller. Im Tageslicht, unter strahlend blauem Himmel geht er auf dem Bürgersteig zwischen den Hochhäusern davon. Vorher aber hat er noch auf einen der auffälligen Wolkenkratzer auf der anderen Straßenseite hingewiesen: ein aus roten Klinkesteinen gemauertes Haus, mehr als 24. Stockwerke hoch.

    In dem Klinkerbau erwartet die Besucher der angeblich schnellste Fahrstuhl Europas: Zwei Mädchen, zwei Jungen und eine Besucherin aus München steigen ein. Der Fahrstuhl-Chauffeur drückt auf den Knopf, und los geht's.

    "Ja, dass ist hier zurzeit der schnellste Aufzug in Europa. Wir brauchen nur 20 Sekunden, um auf 90 Meter zu kommen. Bei einer Geschwindigkeit von 30 Km/h."

    Nur zwei Etagenknöpfe gibt es: den für das Erdgeschoss und den für den 24. Stock. Oben angekommen empfangen die Besucher frische Luft, ein strahlend blauer Himmel und die Autogeräusche von der Straße am Potsdamer Platz, die selbst hier noch zu hören sind.

    Von hier oben schweift der Blick über die Dächer Berlins: über das Zeltdach des Sony-Centers, über das dahinter gelegenen Meer aus Bäumen im Tiergarten. Zu sehen sind in anderer Richtung die Kuppel des Reichstages, die Stelen des Holocaustmahnmals, am Horizont Hochhäuser, die in den Himmel ragen. Barbara Weiten aus München ist beeindruckt.

    "Ich finde es sehr interessant, weil man so einen Überblick über den Potsdamer Platz gewinnen kann, und das Wetter ist natürlich toll, da macht das auch Spaß runter zuschauen. Ich find es ganz interessant, dass so ein ganzes Stadtviertel quasi komplett aus dem Boden gestampft worden ist, mit lauter neuen Gebäuden. Und ich hab 1996 oder 1997 die Baustelle gesehen und finde das jetzt ganz spannend zu sehen, was daraus geworden ist.""

    Daraus geworden ist ein neues Stadtviertel mit zahlreichen Etagen: mit mehrgeschossigen Hochhäusern, unterirdischer S-Bahn und ebenerdigen Wiesen. Ein letzter Rundgang auf der Panoramaterrasse, ein letzter Blick über die schier zahllosen Dächer, Straßen und Bäume Berlins. Der Fahrstuhl wartet. Gemeinsam mit einigen Jungen und Mädchen geht es nach unten. Den Jugendlichen hat es vorhin gut gefallen, hoch zu fahren - so gut, das eines der Mädchen noch mal fahren möchte - das jedenfalls fragt sie verschämt den Fahrstuhl-Chauffeur.

    "Passen wir da noch rein?"

    "Darf ich noch mal fahren?"

    "Einmal hoch und runter."

    Sie dürfen. Beim zweiten Mal unten angekommen geht die Fahrstuhltür auf, und die Jugendlichen verlassen durch die Empfangshalle das Gebäude. Auf der Straße angekommen, sind sie wieder ein Teil der kleinen Welt zwischen den Hochhäusern, die man von der Panoramaterrasse überblicken konnte. Der Weg von hier führt raus aus den Häuserschluchten, raus unter freien Himmel. Hier endet auch die Erkundung der Etagen Berlins: Genug Stockwerke für heute.