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Etappenort für Jakobspilger

Das kleine Örtchen Châlus mitten in Frankreich, nahe der Stadt Limoges, war vor 810 Jahren Schauplatz eines Zwischenfalls von weltpolitischer Bedeutung: Der ebenso legendäre wie berüchtigte König von England Richard I., genannt Löwenherz, wurde bei der Belagerung der Burg Châlus von einem Armbrustschützen schwer verwundet und starb bald darauf am 6. April 1199. Chalus stand auch als Etappenort in den Wegebeschreibungen der deutschen Jakobspilger eingetragen.

Von Franz Nussbaum |
    Wir reisen nun genau in die Mitte Frankreichs, in die Nähe der Stadt Limoges. Unser Reiseziel ist das kleine Örtchen Châlus. Hätte es vor 800 Jahren schon "Tagesschau" und "heute-journal" gegeben, dann wären die TV-Übertragungswagen mit den besten Nachrichtenkommentatoren nach Châlus gefahren und hätten tagelang berichtet. Hier wurde vor 810 Jahren der ebenso legendäre wie auch berüchtigte Richard I., König von England, den man "Richard Löwenherz" nannte, von einem Armbrustschützen tödlich verwundet. Er starb am 6. April 1199. Wir wollen in unserem Sonntagsspaziergang nicht nur die Ereignisse um "Richard Löwenherz" kennen lernen. Chalus stand auch als Etappenort in den Wegebeschreibungen der deutschen Jakobspilger eingetragen. Und auch manche andere deutsche Spur führt hier vorbei.

    Es ist eine nur dünn besiedelte Landschaft. Vom heutigen Tourismus kaum berührt, vom "Tourismus" der Jakobspilger vor 1000 Jahren dagegen stark frequentiert. So ändern sich die Zeiten. Ein langsamer Anstieg zu einer Hochebene. Sattgrüne Hänge mit saftigen Weiden. Große Waldgebiete lösen sich mit kleinen Kastenwäldchen ab. Ein paar Seen, einige Flussläufe. Die Vienne, die dann in die Loire, einmünden wird. Die Loire, der Schicksalsfluss Franreichs.

    Ich nenne diese Landschaft des Limousin hier mal eine "Erlkönig-Landschaft". Aber wir suchen ja nicht Goethes Erlkönig, sondern König Richard I. von England. Gleichzeitig ist er auch französischer Herzog, dem zusätzlich die ganze Westhälfte Franreichs, mit der Normandie und der Bretagne, mit dem Anjou und Aquitanien gehört. Das heißt Richard hat mehr Quadratkilometer Frankreich als der französische König Philipp selber. Aber Richard Löwenherz wäre - an sich - als französischer Herzog auch Untertan der französischen Krone. Eine umzankte, heute kaum vorstellbare politische Gemengelage.

    Wir sehen hier versprenkelte Gehöfte. Und nur alle zehn Kilometer gibt es kleinere döselige Ortschaften. Und ein Hinweisschild sagt uns, noch acht Kilometer bis Chalus.

    Eine berühmte Rinderrasse käut sich hier gemächlich durch den Tag. Die munteren Kälbchen auf der Weide haben noch Menuwahl. Junges Gras zum Wiederkäuen oder warme Frischmilch bei der Mama. Und der nächste Gedanken ist so unromantisch wie jene Brutalität, die man speziell diesem König Richard I, genannt Löwenherz, als Markenzeichen eines Herrschers seiner Zeit nachsagt. Diese friedlich grasenden Kühe und Kälbchen werden uns demnächst abgepackt in den Supermärkten begegnen. "Sein oder nicht sein" - das hätte auch der Taufspruch des kleinen Richard 1157 in Oxford sein können. Pierre Liput:

    "Richard war der Lieblingssohn seiner Mutter, der berühmten Eleonore de Aquitaine. Eleonore war ja zuerst selber Königin von Frankreich. Diese Ehe wird kinderlos wieder getrennt. Und Eleonore heiratet den zehn Jahre jüngeren Herzog Henri II. Plantagenet. Der erbt den englischen Thron. Und von Schottland bis zu den Pyrenäen entsteht ein neuer Machtbereich, zudem auch dieses kleine Châlus gehört. Dieses Reich erbt und regiert dann Richard."

    Und Richards Mutter, diese Eleonore von Aquitanien, zählt zu den drei großen Frauengestalten im männlich überbetonten Mittelalter. Dazu zählt auch Hildegard von Bingen und die deutsche Kaiserin Theophanou.

    Liput: "Richard Löwenherz hat eine Schwester. Sie wird die Frau von Heinrich dem Löwen in Deutschland. Ein deutscher Löwe mit einem Löwenherz. Und Heinrich der Löwe ist ein Vetter von Kaiser Friedrich Rotbart. Und Richard zieht, zusammen mit Kaiser Rotbart, und zusammen mit seinem Rivalen, dem französischen König, gegen Jerusalem. Bei diesem Kreuzzug ertrinkt der deutsche Kaiser. Und Philipp von Franreich reist heimlich wieder ab. Und Richard -alleine- erobert - zwar nicht Jerusalem, aber den Namen Löwenherz. Den Namen erkämpft er gegen die Araber von Saladin. Und man sagt, Richard Löwenherz wird damit zum Idol der Ritter des Abendlandes."

    Ist das ein Leben? Und ich lese ein Gedicht, vielleicht Teil eines Heldenepos, das seine Kriegsberichterstatter vielleicht an einem Lagerfeuer sitzend geschrieben haben:
    "O, still, mich deucht, ich sehe König Richard stehen
    in goldener Rüstung, befleckt vom Heldenblut,
    auf einer Galeere Bug, gleich des Krieges grimmiger Gott"

    Und diesem grimmigen Gott begegnen wir hier auf dem Weg nach Chalus. Eine alte steingemauerte Brücke. Und rückwärts öffnet sich der Blick auf ein etwas verstecktes altes Landschlösschen. Die Fensterladen sind geschlossen, so als sei auch jene Episode geschlossen.

    Ein Straßenschild "Route Richard Coeur du Lion". Ein Wappenschild, ein gelber Löwe mit Krone auf rotem Grund. Durch das rote Löwenherz geht ein Pfeil.

    Und über diese Brücke muss vor 810 Jahren, in noch kühlen Märztagen, real ist es der 26. März 1199 eine wütige Meute mit dem 41-jährigen Richard I. (Löwenherz) als Tempobolzer auf verschwitzen Rössern über diese Brücke Richtung Chalus gebolzt sein. Es ist neun Jahre nach dem Kreuzzugsabenteuer. Richard soll Tag und Nacht, fast ohne Rast, nur fliegende Pferdewechsel, durchgeritten sein. Wut im Bauch. Weil seine Militärs bei der Belagerung dieser popeligen Burg von Chalus so viel kostbare Zeit verplempert haben? Seit 20 Jahren muss Richard immer wieder kleine Aufstände im Limousin eindämmen. Warum hat man die Burgbesatzung eines doppelzüngig agierenden Grafen von Limoges, der zu Richards Reich gehört, nicht längt zur Aufgabe gezwungen? Und wenn Richard zuschlägt, dann ist er "des Krieges grimmiger Gott", da geht es zur Sache und endet oft fürchterlich. Richard fordert in Chalus sofort die bedingungslose Kapitulation. Gefangennahme der Aufständischen, Strafe oder/und Lösegeld. Und er fragt sich, warum hat man diesen Stänkerern nicht ihren 35 Meter hohen Burgturm in Chalus unter dem Hintern so unterhöhlt, dass er wie ein Kartenhaus in der Kölner Severinstrasse zusammenstürzt? Zitat aus der breiten Löwenherz-Literatur:

    "Richard gilt damals in der Feind-Propaganda als eine Tötungsmaschine, als der brutalste Burgenzerstörer seiner Zeit. Er ist kein Diplomat, der graue Eminenzen und Advokatenklugscheißer monatelang etwas aushandeln lässt. Richard ist ein impulsiver Tatmensch."

    Manches Gemäuer soll schon beim bloßen Anblick von Richards rotblondem Lockenkopf von selber, aus Angst, zusammengebrochen sein. Und die unglücklichen Burgbesatzer von Chalus (Untertanen von Richard), wissen mit Richards Ankunft, dass sie vielleicht noch höchstens zwei Tage haben und dann gnadet ihnen nicht einmal mehr Gott. Nur Richard, wenn das Lösegeld stimmt. Den weiteren Ablauf vor Chalus aus unterschiedlichen Quellen zusammengefasst

    "Die Belagerten haben sich in den Turm, hinter zwei Meter dicken Mauern zurückgezogen. Der Eingang liegt in sieben Metern Höhe. Wer versucht, von außen Leitern anzulegen, wird von den Burgzinnen aus beschossen. Beide Seiten bedienen sich der Armbrust, der jüngsten Wunderwaffe der Waffenschmieden. Mit der Armbrust kann man bolzenähnliche Metallpfeile verschießen, die eine Rüstung durchlagen können. Trotzdem ist es Richards 'Sappeuren', einer Spezialtruppe, gelungen einen Stollen bis an die Fundamente des Turms zu graben."

    Richard unternimmt dann in provozierender Lässigkeit einen Spaziergang in Richtung seiner Stollengräber. Er trägt dabei keine Rüstung, nur einen Helm. Ein Hasardeur bei einem Tänzchen auf der Rasierklinge. Er mag für Bruchteile von Sekunden zwischen den Zinnen einen Schatten bemerken. Warum Richards Bodyguards keine eigenen Armbrustscharfschützen für ihren tolldreisten König aufgebaut haben, gegen die Gefahren von den Burgzinnen, ist nicht überliefert.

    "Der König dreht sich in einer Reflexbewegung noch ab. Der Bolzen von den Zinnen trifft ihn deswegen genau im Nackenwirbel. Richard taumelt, sucht Deckung, greift an seine Schulter, um das Geschoss mit Widerhacken herauszureißen. Der Schaft bricht ab."

    In der Fußballersprache würde man auch wegen der Entfernung sagen, ein "Sonntagsschuss". Richards Feldscher, mit der Qualifikation jedermann ein Bein ohne Narkose absägen zu können, versucht mit einem erhitzten Operationsmesser der Pfeilspitze beizukommen. Die Wunde entzündet sich, Kamille und Kompressen bringen keine Besserung. Ein Draufgänger wie Richard, der immerfort nur mit Blaulicht durch sein großes Reich galoppiert, weil irgendwo eine Unruhe zu deckeln ist, ist sowieso mit dem Tod per du.

    Liput: "Er hat schon viele Freunde sterben sehen. Und kürzlich war in Limoges ein Konzert mit alter Musik. Und ich habe eine Aufnahme mit einer einfühlsamen Musik, die Richard vor 800 Jahren komponiert haben soll."

    Dieser brachiale Burgenzerstörer mit dem "Herzen eines wilden Tieres, eines Löwen", ist auch ein Troubadour, ein Dichter, ein sensibler Liebhaber, auch wenn ihm orgiastische Nachtübungen nicht unbekannt sind, kinderlos verheiratet.

    Der Ort Chalus sieht zweigeteilt aus. Oben die aus hellen Steinen gemauerte Burg. Mit Ruinenresten einer Ringmauer, mit einem kleinen Oberdorf. Dann sehen wir hier ein verwittertes Holzkreuz. Wieder das Hinweisschild mit dem mit dem gelben Löwen mit der Krone und mit dem Pfeil im Herzen, dessen Spitze nach unten zeigt.

    Die Ortschaft setzt sich dann im Unterdorf fort. Ein paar Restaurants, ein kleiner Supermarkt, eine Bäckerei. Irgendwo mag hier auch vor 800 Jahren eine Pilgerherberge für Jakobswanderer gestanden haben. Chalus war die nächste Station nach Limoges. Chalus stand auch auf den Wegebeschreibungen eingetragen. Wie sollen das Analphabeten damals lesen können, fragt man sich? Auf dieser Route müssen Pilger aus dem süddeutschen und schweizerischen Raum gewandert sein. Sie werden in Chalus noch stark fasziniert gewesen sein, von den großen gotischen Kathedralen und den zahlreichen Reliquien von Limoges.

    Liput: "Limoges war berühmt für goldene Monstranzen und für Reliquienkästchen. Und es wurde auch Kästchen aus gebranntem Emaile, es war also flüssiges buntes Glas oder Emailpulver gebrannt. Das war eine kostbare Rarität. von Limoges. Und diese Kästchen konnte man in allen Größen in Limoges kaufen".
    Und es wandern oder reiten ja auch gut betuchte Leute auf der Jakobsroute. Da wird mancher in Limoges oder hier in Chalus eine Kerze oder einen Opfergroschen gewidmet haben, wenn er in einem dreiviertel Jahr gesund wieder aus Santiago de Compostela wieder hier vorbeikommt. Und, dass er dann auch ein Reliquienkästchen, nebst einem heiligen Fingerknöchelchen aus Limoges mit in die Heimat nimmt. Über die reichhaltigen Knochenfunde aller Heiligen, die sich in Limoges so wundersam gesammelt und vermehrt haben, mögen die Pilger in abendlicher Weinrunde mit lockerer Zunge gewitzelt haben.

    Ob einer von den Pilgern am 26. März 1199 den Bolzenschuss gegen Richard Löwenherz mitbekommen hat, darf bezweifelt werden. Pilger hielten sich von Soldateska fern, umgingen Belagerungen und Scharmützel. Zumal Belagerungen und Kämpfe in den Wochen der vorösterlichen Fastenzeit an sich untersagt waren, ein Frevel.

    Und wir kreuzen hier noch eine andere Spur. Sehen ein Hinweisschild "Oradour sur Glan". 30 Kilometer von Chalus entfernt. Es ist jener Ort, der bei einem entsetzlichen deutschen SS-Massaker am 10. Juli 1944 als Vergeltungsaktion zerstört wurden. 642 Frauen, Kinder und Alte sind in der Kirche verbrannt, vorher alle Männer des Dorfes erschossen worden. Heute sind die Ruinen eine Gedenkstätte.

    Zugegeben, in Chalus tut sich der deutsche Besucher leichter. Hier schoss ein Franzose auf einen anderen Franzosen, der englischer König war.

    Richard Löwenherz soll sich gegenüber dem Armbrustschützen, auch in Erwartung seines letzten Stündleins, menschlich gezeigt haben.

    Liput: "Nach dem die Burg gefallen war, hat man den Mann dem König vorgeführt. Richard hat ihm verziehen. Er soll befohlen haben, dass er ein Geldgeschenk erhält- und seine Freiheit."

    Einige Quellen sagen, dass nach Richards qualvollem Tod, am 6. April 1199 trotzdem der Armbrustschütze auf dem groben Kopfsteinpflaster hier oben am "Place du Canton" von Pferden zu Tode geschleift worden sei. Und weiter:

    "Die Eingeweide des toten Königs sollen in einer kleinen Kapelle bei der Burg von Chalus beigesetzt worden sein. Seinen Körper bestattet man im Kloster Fontevraud, westlich von Tours, an der Loire, wo auch Richards Eltern, die Plantagenets beigesetzt sind. Richards sprichwörtliches Löwenherz bringt man in die Kathedrale von Rouen."

    In Rouen, am Unterlauf der Seine, wird 230 Jahre später Jeanne d' Arc der Prozess gemacht. Sie wird lebendig dem Scheiterhaufen übergeben. Gleichwohl sind die Jungfrau von Orleans, die die Herrschaft der Engländer in Franreich endgültig beendet wie auch Richard Coeur du Lion, beide sind mit vielen Legenden mythisiert, bis heute "lebendig" geblieben.

    Abschließend noch ein Klagelied von Richard Löwenherz aus der Zeit, als er in deutscher Gefangenschaft, unter anderem auf der Burg Trifels bei Speyer einsitzt und erst gegen ein unermesslich hohes Lösegeld von 34.000 Kilo Feinsilber freigelassen wird.


    Literatur (u.a.):
    Dieter Berg: Richard Löwenherz
    Helmut Domke: Aquitanien