Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Ethnologie
Kann Nachhaltigkeit Überleben sichern?

Sie leben in abgelegenen Wildnisregionen und in traditionellen Lebensformen: isolierte Völker oder sogenannte Naturvölker. Mit geringem Ressourcenverbrauch gelingt ihnen das Überleben seit teilweise Zehntausenden von Jahren. Können menschliche Gesellschaften also dauerhaft nachhaltig leben?

Von Lennart Pyritz | 30.05.2019
Ein Eskimo ist auf der Jagd nach Seehunden, aufgenommen 1995 im kandadischen Territorium Nunavut. Undatiert.
Wie halten die sogenannten Naturvölker ein stabiles Gleichgewicht mit der eigenen Umwelt? (picture alliance / Silvia Pecota)
Zwei Welten treffen im November 2018 im Indischen Ozean aufeinander.
"Vor einer Woche kam der US-Amerikaner John Allen Chau ums Leben."
Auf der einen Seite: ein junger Missionar, auf der anderen: die Bewohner einer abgelegenen Andamaneninsel.
"Beim Versuch die Ureinwohner zum Christentum zu bekehren wurde der 27-Jährige im Indischen Ozean mit Pfeilen getötet."
In dem Bild zielt ein männlicher Sentinelese mit Pfeil und Bogen auf einen Helikopter der indischen Küstenwache aus dem heraus das Foto aufgenommen wurde. Der Helikopter überflog die Insel am 28 Dezember 2004 um Schäden durch einen vorangegangenen Tsunami abzuschätzen. Die Sentinelesen gehören zu den wenigen verbleibenden Jägern und Sammlern die in Isolation von der Außenwelt leben. Weil das Volk den Kontakt zur Zivilisation verweigert ist wenig über ihre Lebensart bekannt. Ethnologen schätzen, dass sie seit zur ältesten Bevölkerungsschicht Asiens gehören und damit zur ersten Auswanderungswelle des Homo sapiens aus Afrika. 
Gelten als eines der am stärksten isolierten Völker - und verteidigen ihre Isolation: die Sentinelesen (AP Photo / Indian Coast Guard)
Der tragische Culture Clash zerrt für kurze Zeit eines der am stärksten isolierten Völker der Erde in den Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit: die Sentinelesen, die seit Jahrzehntausenden ihr Auskommen auf einer winzigen Insel finden. Eine beeindruckende Leistung, denke ich – über das Volk, das gerade einen Menschen getötet hat.
Während unsere moderne Industriegesellschaft das Klima anheizt, Wälder rodet und Tiere ausrottet, scheinen die Sentinelesen eine stabile Balance mit ihrer natürlichen Umwelt gefunden zu haben. Das ist schon deshalb beachtlich, weil North Sentinel Island so winzig ist: 60 Quadratkilometer – kleiner als Sylt.
Vom indischen Festland im Westen und Myanmar im Osten trennen die Insel hunderte Kilometer tiefer Ozean. Vor den hellen Sandstränden gefährliche Riffe, landeinwärts dichte tropische Vegetation. Auf den wenigen Aufnahmen, die aus der Ferne von den Sentinelesen gemacht wurden, ist zu erkennen, dass ihre Haut dunkel ist, sie fast keine Kleidung tragen und große Bögen in der Hand halten. Der US-Missionar Chau notierte offenbar kurz vor seinem Tod, die Inselbewohner seien etwa 1,65 Meter groß und ihre Gesichter mit gelbem Puder bemalt.
Isoliert vom Rest der Welt
"Es gibt keine direkten Kontakte, keine direkten Forschungen und natürlich auch keine Volkszählungen bis heute."
Carola Krebs ist Spezialistin für die Inselgruppe der Andamanen im Indischen Ozean, zu der auch North Sentinel Island zählt. Ich treffe sie in Leipzig, im GRASSI Museum für Völkerkunde, wo sie als Kustodin für die südasiatischen Sammlungen arbeitet.
"Die Zahl der Leute wird auf ungefähr 100 geschätzt, aber es gibt überhaupt keine gesicherten Erkenntnisse. Es gibt auch Schätzungen von 40 bis 150. Also diese Zahl 100 ist ein grober Querschnitt aller Schätzungen."
Zum ersten Mal reiste Carola Krebs nach dem Mauerfall auf die Andamanen. Die Sentinelesen lebten da längst in selbst gewählter Isolation. 1996 erklärte die indische Regierung die Insel zum Sperrgebiet.
Luftaufnahme der Insel North Sentinel, teil der Andaman-Gruppe im indischen Ozean. Das betreten der Insel war bis vor kurzem von der Indischen Regierung verboten um den Schutz der dort lebenden Ethnie von Sammlern und Jägern zu gewährleisten. Die Sentinelesen gehören zu den ältesten Völkern der Welt und leben in strikter Isolation von der Zivilsation. 
(AP Photo/Gautam Singh) |
Luftaufnahme der Insel North Sentinel im Indischen Ozean. Die Insel ist nur 60 Quadratkilometer groß – kleiner als Sylt (AP Photo / Gautam Singh)
"Die hatten offensichtlich früher auch Kontakte zu anderen Inseln. Also, wir wissen aus Berichten der englischen Kolonialregierung, dass es Anzeichen für Handelsbeziehungen oder andere Kontakte mit benachbarten Gruppen gegeben hat. Die müssten dann per Boot stattgefunden haben. Und wir vermuten, dass diese Kontakte während der englischen Kolonialzeit abgebrochen sind. Also erst seitdem sind sie wirklich weitgehend isoliert. Abgesehen von den möglicherweise illegal stattfindenden Begegnungen mit Fischern, die dort an Land gehen oder auch nicht. Wir wissen es eben einfach nicht genau."
Die Vorfahren der Sentinelesen erreichten die Insel vermutlich mit einer der ersten Auswanderungswellen aus Afrika – also zehntausende Jahre, bevor die Bibel geschrieben wurde, von deren Lehre der Missionar die Insulaner überzeugen wollte. Naheliegend wäre, dass die Sentinelesen heute noch weitgehend so leben wie ihre Vorfahren – und ursprünglich auch ihre Nachbarn auf den anderen Andamanen-Inseln: als Jäger und Sammler.
Carola Krebs: "Die Bevölkerung wächst halt nicht. Es ist ja keine expansive Wirtschaftsweise wie bei landwirtschaftlich strukturierten Bevölkerungen. Auf den Andamanen gibt es eine endemische Schweineart, die gejagt wird. Das ist eines der wichtigsten Jagdtiere gewesen und auch heute noch. Also, vor allem auf Sentinel Island wird es immer noch aufrecht erhalten sein, nehme ich an. Bei den Jarawa, die nebenan auf Great Andaman leben, ist es inzwischen schwierig, auf Schweinejagd zu gehen, weil durch die indischen Siedler die Tiere dezimiert werden. Also die Schweinejagd im Waldinneren, die Fisch- und Meerestierjagd an den Küsten und das Sammeln von Schalentieren, Knollen, Beeren und Früchten. Das bildet die Nahrungsgrundlage."
Ein Leben als kleine Gruppe von Jägern und Sammlern, isoliert vom Rest der Welt – sind das die Zutaten für ein stabiles Gleichgewicht mit der eigenen Umwelt? Die Antwort darauf hängt auch davon ab, was wir unter Nachhaltigkeit verstehen.
Nicht nur Nachhaltigkeit zählt
"Ob eine ganze Gesellschaft nachhaltig ist oder nicht, ist sehr schwer zu messen. In der Geschichte der Anthropologie ist das aber eine sehr wichtige Frage, die großes Interesse ausgelöst hat."
Elspeth Ready ist Anthropologin und Archäologin. Gerade hat sie von der kalifornischen Stanford University ans Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig gewechselt. Für ihre Forschung reist sie immer wieder in die eisigen Regionen an der Nordspitze Quebecs, um dort das Leben der Inuit zu untersuchen.
"In den 60er Jahren wurde der Begriff Nachhaltigkeit nicht genutzt. Aber es gab die Vorstellung, dass viele Gesellschaften vielleicht im Gleichgewicht mit ihrer natürlichen Umwelt leben."
Elspeth Ready ist Anthropologin und Archäologin. Von der kalifornischen Stanford University wechselte sie ans Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Elspeth Ready ist Anthropologin und Archäologin. Von der kalifornischen Stanford University wechselte sie ans Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. (privat)
Also hätten sich Forschungsteams aufgemacht um zu untersuchen, welche Mechanismen es menschlichen Gruppen erlauben, eine gleichbleibende Größe und stabile Beziehungen mit ihrer Umwelt zu erhalten. In vielen Fällen hat sich gezeigt: Die untersuchten Gesellschaften waren gar nicht so stabil und autark wie gedacht. Das ergab etwa die Studie des US-Anthropologen Robert Netting für ein kleines Bergdorf in den Schweizer Alpen.
Elspeth Ready: "Das vermittelte den Eindruck, als ob dort Menschen über hunderte Jahre in Harmonie auf dem Berggipfel existierten. Aber als Netting die historischen Aufzeichnungen durchkämmte, erkannte er, dass das Dorf einen Bevölkerungsüberschuss hatte, der seit langem den Berg verließ. Das Dorf sah so aus, als seien Größe und Ressourcenverbrauch stabil. Aber tatsächlich wanderten Menschen ab."
Die Vorstellung von menschenbewohnten Ökosystemen, die über lange Zeiträume in einem unveränderten Zustand existieren, hält Elspeth Ready weitgehend für einen Mythos. Die Sentinelesen könnten ihrer Ansicht nach eine Ausnahme darstellen, weil sie selbst entschieden hätten, auf ihrer Insel isoliert von benachbarten Gruppen zu leben. Nur nachhaltig zu sein, erklärt für die Anthropologin aber noch nicht, warum Völker so lange in ihrer Umwelt bestehen. Offenbar muss es noch andere Qualitäten geben.
"Selbst wenn wir eine Zeitlang eine nachhaltige Nutzung von Ressourcen haben, können externe Störungen auftreten. Die Umlaufbahn der Erde führt zu unterschiedlichen Klimamustern, die wir nicht kontrollieren können. Das langfristige Überleben ist damit nicht nur eine Frage der Nachhaltigkeit. Auch Resilienz spielt eine Rolle, also unsere Fähigkeit, uns an wechselnde Bedingungen anzupassen."
Was haben die Maya falsch gemacht?
Scheitert diese Anpassung, droht der Kollaps. Mir kommen die Maya in den Sinn. Über Jahrhunderte blühte deren Kultur in Mittelamerika mit ausgedehnten Siedlungen, Bewässerungssystemen und Handel – bis sie vor gut 1.000 Jahren zusammenbrach. Die Ursachen sind bis heute umstritten.
Eine Hypothese: Im 9. und 10. Jahrhundert setzten verminderte Niederschläge dem indigenen Volk zu. Simulationen der NASA zeigen, dass die Dürren offenbar durch das Roden des Regenwaldes für Ackerland noch verstärkt wurden. Die Maya machten sich das Leben also selbst noch schwerer. Andererseits: Haben sie alles falsch gemacht?
Patrick Roberts: "Wir nehmen die Maya oft als anschauliches Beispiel dafür, wie menschliche Gesellschaften kollabieren. Aber eigentlich haben sie viel länger existiert als jede unserer Industriegesellschaften in den Tropen."
Maya-Stätte auf der Halbinsel Yucatan, in Belize. 
Über Jahrhunderte blühte die Kultur der Maya in Mittelamerika (imago / Imagebroker)
Die Maya-Städte bestanden im historischen Vergleich sehr lang, erzählt Patrick Roberts vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Und auch wenn die alten Mauern inzwischen überwuchert sind, leben Angehörige der Maya noch heute in Mittelamerika. Die Menschen sind also nicht untergegangen. Sie haben die Städte verlassen, weil die Bevölkerungsdichte nicht mehr tragbar war.
"Denken Sie auch an Orte wie Rom. Gedanklich verbinden wir damit den Kollaps des Römischen Reiches. Aber eigentlich ist sie immer noch die Hauptstadt Italiens."
Oder das Königreich der Khmer in Kambodscha: Auch dessen Struktur zerfiel im 14. Jahrhundert, als sich die Umweltbedingungen änderten. Heute überrankt der Dschungel die einstmals größte Metropole des Mittelalters mit ihrer berühmten Tempelanlage Angkor Wat.
Patrick Roberts: "Ein Ort wie der Großraum Angkor, diese riesige bewirtschaftete Landschaft, produzierte seine eigenen landwirtschaftlichen Produkte. Aber er war anfällig für interne Schwächen: seine politische Kontrolle über die eigenen lokalen landwirtschaftlichen Gemeinschaften. Die waren so unabhängig, dass sie schließlich auseinander drifteten. Insbesondere als die landwirtschaftlichen Erträge durch Klimaveränderungen getrübt wurden – und damit auch der Vorteil des Zusammenlebens an einem Ort."
"North Sentinel Island hatte einfach Glück"
Im Völkerkunde-Museum in Leipzig stehe ich mit Carola Krebs vor einer Vitrine: hinter dem dicken Glas traditionelle Jagdwaffen von den Andamanen-Inseln, darunter S-förmige Bögen – fast so groß wie die Inselbewohner selbst.
Carola Krebs: "Dann haben wir hier im Köcher daneben stehen verschiedene Pfeile für verschiedene Jagdtiere. Allen voran dieses bereits erwähnte endemische Wildschwein. Dann haben wir hier einen harpunenartigen Pfeil, also mit einer loslösbaren Pfeilspitze, weil die Jagd hat folgendermaßen stattgefunden: Man hetzte das Schwein bis man auf erreichbare Nähe herangekommen war. Hatte man es mit dem Pfeil getroffen, löste sich die Spitze im Fleisch steckend vom Schaft, und der Schaft verhedderte sich im Unterholz, so dass das Schwein nicht mehr entfliehen konnte."
Ursprünglich wurden die Pfeilspitzen aus Muscheln oder Holz gefertigt. Durch Kontakt mit der Außenwelt – zum Beispiel in Form von Schiffswracks – gelangten die Andamaner später auch an Eisen, das sie für ihre Waffen verwendeten. Auch die Sentinelesen dürften auf diese Weise an Metall gekommen sein, sagt Carola Krebs. Anfang der 1980er Jahre etwa lief ein Frachter vor North Sentinel Island auf Grund, dessen Gerippe noch heute auf Luftaufnahmen zu sehen ist. Doch näher kamen moderne Technologie und fremde Gesellschaften nicht an die Insel heran.
Carola Krebs: "North Sentinel Island hatte einfach Glück, so klein und unbedeutend – auch wirtschaftlich und infrastrukturell – so unbedeutend zu sein, dass es am längsten völlig in Ruhe gelassen wurde. Sowohl von den Engländern als auch später von den Indern, die die Inseln in ihr Staatsgebiet aufgenommen haben."
Auf anderen Andamanen-Inseln verlief die Geschichte anders: Dort brach die Außenwelt mitunter brutal ein.
Carola Krebs ist Spezialistin für die Inselgruppe der Andamanen im Indischen Ozean.
Carola Krebs ist Spezialistin für die Inselgruppe der Andamanen im Indischen Ozean (Lennart Pyritz / Deutschlandradio)
Carola Krebs: "Es sind immer mal wieder auch Sklavenjäger aus Südostasien auf die Andamanen gelangt und haben Leute entführt, um sie an die Königshöfe zu verkaufen. Und später unter britischer Kolonialherrschaft sind Entführungen vorgekommen zu Experimentzwecken. Da ging es darum, die Herkunft der Andamaner festzustellen bzw. darum zu beobachten, wie sich Leute aus diesem kulturellen Kontext verhalten, wenn sie in die sogenannte Zivilisation kommen. Also die wurden bis nach Kalkutta verschleppt. Es sind einige krank geworden, einige sind gar nicht wieder zurückgekehrt und so weiter."
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründeten die Briten eine Strafkolonie auf South Andaman Island. Zum Teil wurden Einheimische in speziellen Häusern festgehalten, gezielt alkohoabhängig gemacht oder vergewaltigt. Auch neue Krankheiten brachten die Eindringlinge mit, denen die ursprünglichen Bewohner nichts entgegenzusetzen hatten. Von den geschätzten 8.000 Andamanern, die vor 150 Jahren noch die Inseln besiedelten, lebt heute nur noch ein Bruchteil.
Carola Krebs: "Wäre die britische Kolonialherrschaft nicht eingebrochen in diese Welt, würde sie möglicherweise heute immer noch existieren. Leider sind in dieser Zeit sehr viele Menschen gestorben und ganze Kulturen untergegangen bis auf wenige, die heute eben noch versuchen, ihr traditionelles Leben aufrecht zu erhalten."
Gestörtes Gleichgewicht
Zerstörerische Einflüsse können die Balance zwischen Mensch und Umwelt auf viele Arten zerfressen. Gewalt durch aggressive Eindringlinge oder Dürren zählen dazu. Aber auch Mitbringsel anderer Kulturen, die auf den ersten Blick gar nicht bedrohlich wirken. Bei den Ureinwohnern Nordamerikas beeinflussten die Einführung von Pferden und Schusswaffen durch die Europäer die Büffeljagd. Die Ureinwohner jagten nicht mehr zum Eigenbedarf, sondern begannen, Pelze an Handelsunternehmen wie die Hudson`s Bay Company zu verkaufen, was ihre Lebensweise und Sozialstruktur veränderte.
2017 zeigte eine Studie, an der auch der Jenaer Anthropologe Patrick Roberts beteiligt war, dass Menschen bereits seit 10.000en Jahren die Tropenwälder der Erde nutzen. Solange sie dabei auf lokale Pflanzen und Tiere zurückgriffen, hielten sich die Umweltschäden in Grenzen. Das änderte sich vielerorts mit dem Einführen neuer Praktiken und Nutzpflanzen.
Patrick Roberts: "Als sich Reisanbau in tropischen Gebieten Südostasiens etablierte, brachte die Einführung der Eisentechnologie eine Beschleunigung von Entwaldung und Bodenerosion mit sich. Aber eigentlich ist es eher die Praxis dieses Agrarsystems: Wenn Sie Reis in einem tropischen Wald anbauen wollen, kommen sie praktisch nicht daran vorbei, den Wald zu roden."
Der Verlust der Nachhaltigkeit durch übermäßiges Abholzen: Ein Schicksal, das gerne den Bewohnern der Osterinsel zugeschrieben wird. Elspeth Ready vom MPI für evolutionäre Anthropologie warnt allerdings vor voreiligen Schlüssen. Denn es gibt andere wissenschaftliche Theorien, die die Insulaner entlasten. Demzufolge könnten auch äußere Faktoren wie Dürren oder die Einführung der Pazifischen Ratte zu Problemen auf der Insel geführt haben.
Elspeth Ready: "Ich denke, der wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass allein die Tatsache isoliert zu sein oder eine kleine Bevölkerung nicht zwangsläufig einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen garantieren."
Schonzeit für Beutetiere
Carola Krebs: "Das Selbstverständliche bei einer solchen Jägergesellschaft ist, dass alle Materialien des täglichen Bedarfs selbst hergestellt werden."
Carola Krebs zeigt auf ein Sammelnetz für Fische, eine Zange, um geröstetes Fleisch vom Feuer zu nehmen, Körbe und einen Eimer aus einem ausgehöhlten Baumstamm, der zum Honigsammeln genutzt wurde. Die Gegenstände seien in Zeiten hergestellt worden, in denen saisonal bedingt weniger gejagt und gesammelt wurde, sagt die Ethnologin. Der Lebensrhythmus der Menschen richtete sich nach der natürlichen Verfügbarkeit von Nahrung.
"Und das wiederum ist mythologisch geschützt, weil – speziell für die Andamanen zutreffend – die Leute eine Weltsicht haben, eine Kosmologie, in der alles beseelt ist. Und verbunden mit dieser Weltsicht sind viele mythologische Überlieferungen, die den Menschen einen Rahmen geben, in dem sie sich bewegen können, um ihr Leben aufrecht zu erhalten. Um ihre Wirtschaftsweise, ihre Gesellschaft zu schützen. Um ihre Umgebung in einem Zustand zu erhalten, der für die Menschen nützlich ist."
Dazu müssen sich die Inselbewohner auch selbst kontrollieren:
"Es gab eine weit verbreitete Praxis der Adoption dort. Das heißt, Kinder wuchsen nicht unbedingt bei Ihren leiblichen Eltern auf, sondern sind von benachbarten, befreundeten Familien adoptiert worden, so dass es zu einer guten Durchmischung dieser an Zahlen kleinen Bevölkerung kam. Biologisch ist es noch nicht wirklich geklärt, aber es gilt zu vermuten, dass das Inzuchtfolgen oder Ähnliches vielleicht vermieden hat. Denn wenn wir Sentinel Island uns betrachten, mit diesen möglicherweise 100 Personen, ist es nach wie vor ein biologisches Rätsel, wie die Leute es schaffen, völlig gesund in dieser kleinen Zahl auf dieser Insel ohne Input von außen zu überleben."
Carola Krebs erzählt von der Schöpfungsgeschichte der Onge auf Little Andaman. Dort glauben die Menschen an ein Geistwesen, das mit den Monsunwinden verbunden ist und früher auf der Insel gelebt hat. Es ist gleichzeitig Schöpfungsgroßmutter, aus der Tiere und Menschen hervorgegangen sind.
"Und mit denen stehen die in ständigem Austausch, denn die Legende sagt – auch die vergleichbaren auf den anderen Inseln – dass diese Geistwesen den Menschen die Insel als Wohnort übergeben haben, aber gleichzeitig auch die Rahmenbedingungen ausgehandelt haben, nach denen sich die Menschen mit diesen Geistwesen die Insel teilen müssen – und zwar nicht nur als Wohnort sondern allem voran als Nahrungsmittelquelle."
Gemäß dieser Vorstellung jagen die Menschen zu bestimmten Zeiten keine Wildschweine, da diese dann den Geistwesen vorbehalten sind – eine Art Schonzeit für die Tiere, die vor der Übernutzung der natürlichen Ressourcen schützt.
"Wir wissen, dass insbesondere die Beziehungen vieler Jäger und Sammler-Gesellschaften zu ihrer Umwelt spirituell geprägt sind." Elspeth Ready vom MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig: "Viele Gruppen glauben, dass Menschen, die exzessiv jagen oder die Natur nicht respektieren, durch übernatürliche Kräfte bestraft werden können. Es gibt auch soziale Verbote, Ressourcen anzuhäufen, oder die Menschen sind verpflichtet, mit den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe zu teilen."
Mit der Vorstellung des "edlen Wilden" und mit bewusstem Naturschutz in unserem Sinn habe das allerdings nichts zu tun. Der schonende Umgang mit der Umwelt sei eher die Konsequenz anderer Faktoren, die nachhaltige Gemeinschaften häufig charakterisieren. Zum Beispiel: Mobil sein.
"Wenn Ihre Jagderträge oder Ernten zu sinken beginnen, ziehen sie an einen anderen Ort. So können sich die lokalen Ressourcen erholen, und das trägt zu einer nachhaltigeren Nutzung bei."
So haben es früher auch die Inuit gehalten, die Elspeth Ready erforscht. Trotzdem erlebten sie in der winterlichen Eiswüste immer wieder Hungersnöte. Die Folge: Menschen starben. Und Eltern hatten Probleme, ihre Kinder zu ernähren. Die gesellschaftliche Antwort waren keine spirituellen Gebote sondern soziale Regeln und Normen – mitunter sehr harte.
"Um in ihren Familien das richtige Gleichgewicht zu bewahren zwischen Leuten, die Nahrung lieferten, und Frauen, die für Kleidung sorgten und Nahrung zubereiteten, hatten die Inuit sorgfältige Praktiken der Familienplanung. Dazu zählte die Adoption von Säuglingen, aber in einigen Fällen auch Kindstötungen."
Soziokulturelle Barrieren ermöglichen Überleben
Je kleiner der Raum, je begrenzter die Nahrungsgrundlage, umso größer die Konkurrenz und die Notwendigkeit für einen regulierenden Rahmen. Dieser Zusammenhang lässt sich klar belegen, sagt Holger Schutkowski, Professor für Bioarchäologie an der Universität Bournemouth in Südengland.
"Daher finden wir sehr häufig, dass Inselgesellschaften – und das können jetzt also wirklich physikalisch Inseln sein oder es können auch kulturelle Inseln sein – dass dort Menschen normalerweise sehr strenge soziokulturelle Barrieren erfinden und errichten, die es ihnen ermöglichen, möglichst lange Zeit innerhalb der Grenzen der verfügbaren Ressourcen zu leben."
Solche Praktiken gab es auch nicht weit entfernt von uns, wie der vor einigen Jahrzehnten veröffentlichte Fall einer griechischen Insel zeigt.
Holger Schutkowski: "Wo zum Beispiel nur die erstgeborenen Söhne und Töchter verheiratet werden dürfen und die nachgeborenen Söhne die Insel verlassen müssen, weil es für sie keine wirtschaftliche Möglichkeit zum Überleben gibt. Und die nachgeborenen Töchter beteiligen sich an der Aufzucht der Kinder ihrer ältesten Schwester. Und so wird ein ausgeklügeltes System der Ressourcenverteilung und vor allem der Ressourcenkonzentration durch sehr strenge soziokulturelle Regeln perpetuiert, unter der Situation, dass die Ressourcen allgemein eben nicht beliebig vergrößerbar sind, sondern einen limitierenden Faktor darstellen."
Regeln für ein nachhaltiges Miteinander braucht es auch in unseren modernen Gesellschaften, wenn eine Gruppe von Menschen etwas nutzt, das niemand exklusiv besitzt.
Holger Schutkowski: "Wo Leute denken, wenn etwas frei verfügbar ist – so wie die Fische im Ozean außerhalb der nationalen Gewässer oder die Atemluft oder Wälder die keinem gehören – dann können wir einfach diese Ressourcen nutzen, weil uns keiner auf die Finger haut. Aber das geht eben auch nur so lange gut, wie diese Ressourcen da sind."
Solch gemeinschaftliches Eigentum wird auch als Allmende bezeichnet. In der Schweiz nutzten Bewohner einer Dorfgemeinschaft teils über Jahrhunderte gemeinsam Alpwiesen, auf die sie ihr Vieh zum Weiden trieben. Dabei war zum Beispiel die Anzahl der Tiere beschränkt, die ein Nutzer grasen lassen durfte. In den Alpen gibt es derartige Allmenden bis heute. Die 2012 verstorbene Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat diese und andere Beispiele erforscht und Prinzipien herausgearbeitet, die offensichtlich dafür sorgen, dass sich Menschen ein kollektives Gut nachhaltig teilen. Dazu zählen: Klare Grenzen zwischen legitimen Nutzern und Nicht-Nutzern. Gemeinschaftliche Entscheidungen. Und abgestufte Sanktionen, um Verstöße gegen gemeinsam vereinbarte Regeln zu ahnden.
Im Rahmen der Climate Lecture 2010 spricht die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom am Dienstag (22.06.2010) im Audimax in der Technischen Universität Berlin (TU Berlin) zu den Studenten und weiteren Gästen.
Die 2012 verstorbene Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom erforschte, am Beispiel der Schweizer Allemden, wie Gemeinschaften Eigentum erfolgreich nutzten (picture alliance / Rainer Jensen)
Mit der Globalisierung ist mittlerweile die ganze Welt zum Schweizer Alpendorf geworden; und die Atmosphäre und die Weltmeere zu Ressourcen, die niemandem gehören aber von allen genutzt werden. Lässt der Blick auf andere Gemeinschaften und andere Zeiten Rückschlüsse zu, wie wir heute nachhaltiger leben könnten? Es scheint, als fehle uns in einer globalisierten Gesellschaft die Erdung und das Gefühl für Zusammenhänge. Patrick Roberts vom MPI für Menschheitsgeschichte in Jena:
"Wenn Sie in früherer Zeit ein Landwirt oder ein Jäger und Sammler waren, der zum Beispiel im Tropenwald gelebt hat, hatten Sie automatisch eine engere kulturelle Beziehung zu allen Pflanzen und Tieren um sich herum, die Sie genutzt haben. Heute kaufen wir diese Dinge vom Regal und wissen nicht, woher sie stammen. Das macht es schwerer, eine Beziehung zur Umwelt, zu Pflanzen und Tieren aufzubauen und die Folgen zu verstehen, die unser Handeln für sie hat."
Zurück zum Jagen und Sammeln?
Der Kapitalismus zeige weltweit Auswirkungen. Um nachhaltig zu sein, müsse auch die Politik verantwortungsvolle globale Regeln einhalten.
Patrick Roberts: "Aber was wir zunehmend sehen – in Amerika, Großbritannien und anderen europäischen Ländern – ist, dass der Nationalismus zunimmt. Weltweit zeigt also der Kapitalismus seine größten Auswirkungen auf den Planeten. Und doch sind wir politisch nur daran interessiert, uns um uns selbst zu kümmern. Und diese beiden Gesichtspunkte eröffnen wirklich schlechte Aussichten."
Die schlechteste aller Aussichten: Vielleicht entpuppt sich am Ende unsere ganze Spezies – der Homo sapiens – als nicht überlebensfähig.
Patrick Roberts: "Wir sprechen oft vom Homo sapiens als der letzten erfolgreichen Art, dabei sind wir noch nicht einmal so lange auf dem Planeten wie die Neandertaler. Die betrachten wir als gescheitert. Aber wenn wir morgen aussterben würden, wären wir selbst weitaus dramatischer gescheitert."
Vielleicht besteht aber noch Hoffnung. Der Homo sapiens mag durch sein Verhalten und seinen Erfindungsreichtum die Umwelt zunehmend zerstören. Doch ist er mit diesen Fähigkeiten nicht ebenso in der Lage, die eigenen Lebensgrundlagen bewusst zu schonen – Einsicht vorausgesetzt? Technologischer Fortschritt als Fluch und Segen für die Nachhaltigkeit.
Patrick Roberts: "Sie können Abholzsysteme sehr vorsichtig nutzen, um ein paar wertvolle Bäume zu ernten und den Rest des Waldes intakt zu lassen. Oder Sie können sie benutzen, um einfach alles abzuholzen. Ich würde sagen, es sind letztendlich die kulturellen Ziele, die wirtschaftlichen Ziele, die die Probleme verursachen."
Oder es kommt irgendwann die Zeit, in der wir zurück zu unseren Wurzeln als Jäger und Sammler gehen. Dann könnten wir wieder etwas von den Sentinelesen lernen, die seit Jahrzehntausenden damit erfolgreich sind. Warum nicht?
Patrick Roberts: "Sozialwissenschaftler des 19. Jahrhunderts wie Karl Marx haben geglaubt, dass es ein Fortschreiten von Jägern und Sammlern über Kleinbauern bis hin zur Industrialisierung gebe. Diese unilineare Vorstellung von Veränderung ist heute überholt. Wir wissen zum Beispiel, dass es viele Gesellschaften gibt, die Landwirtschaft betrieben haben und dann wieder zum Jagen und Sammeln übergegangen sind. Dieser Prozess ist also nicht zwangsläufig eine Einbahnstraße."