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EU-Beitritt als lockende Perspektive

Rumänien ist eines der ärmsten und am schlechtesten entwickelten Länder in Europa. Nach offiziellen Angaben arbeiten 36 Prozent der Beschäftigten in einer unproduktiven Landwirtschaft. Doch es gibt weitaus mehr strukturelle und soziale Probleme. Dennoch wird die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht feststellen, dass Rumänien auf einem guten Weg sei. Ein Beitritt zum 1. Januar 2007 rückt damit näher.

Von Keno Verseck | 10.05.2006
    Das Dorf Csíkcicsó im siebenbürgischen Szeklerland, einer besonders ländlich geprägten und industriearmen Region Rumäniens, mehrheitlich bewohnt von der ungarischen Minderheit. Der Rentner András Györffi macht im Stall hinter seinem Haus sauber und füttert die Tiere. Er hat eine Kuh, ein paar Schweine, Schafe und Ziegen, zwei Dutzend Hühner. Der 59-Jährige und seine Frau bekommen zusammen 150 Euro Rente im Monat. Wie Millionen Menschen im Land bessern sie ihr Einkommen mit altertümlicher Landwirtschaft auf. Sie arbeiten nur von Hand oder mit Pferd und Wagen, auch auf dem Kartoffel- und Heuacker am Dorfrand. Einen Teil ihrer Produkte behalten sie, Milch, Schweinefleisch und Schafswolle verkaufen sie an die Nachbarn. Über die Europäische Union weiß Györffi wenig. Ab und zu kommt jetzt der Tierarzt und impft sein Vieh. Dem Beitritt Rumäniens sieht Györffi mit Sorge entgegen:

    "Natürlich darf man nie in der Entwicklung stehenbleiben, sondern muss immer vorwärts gehen. Aber für uns kleine Bauern wird es nach dem Beitritt schlechter werden. Wir können mit den Großen nicht mithalten, ich glaube, wir Kleinen werden langsam aussterben. Die Nachbarn wissen, dass wir keine Chemie verwenden. Natürlich hoffe ich, dass sie nach dem Beitritt auch weiterhin unsere Produkte kaufen."

    Ein paar Kilometer weiter, im Dorf Rákos, lebt Sándor Sebestyén mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Der 41-Jährige ist Tierzüchter und einer der wenigen professionellen Landwirte in der Gegend. Was der EU-Beitritt Rumäniens bedeutet, bekam Sebestyén gerade eben selbst schon schmerzhaft zu spüren. Im Januar musste er seinen kleinen Schlachthof schließen und aufgeben.

    " Mit dem Beitrittsprozess wurden die Regeln verschärft, deshalb mussten alle diese kleinen Schlachthöfe geschlossen werden. Ich selbst hätte einen völlig neuen Schlachthof bauen müssen, weil – wie es hieß - die Entfernung zu Wohnhäusern und zum Stall zu gering war. Das wäre eine sehr große Investition gewesen, für die ich kein Geld hatte. Ich habe also dichtgemacht und mich umorientiert. Ich habe die Rinderzucht ausgeweitet und mit der Ferkelzucht begonnen. Das ist zur Zeit ein ganz gutes Geschäft auf dem Markt."

    Rumänien vor dem EU-Beitritt. Es ist eines der ärmsten und am schlechtesten entwickelten Länder in Europa. Nach offiziellen Angaben arbeiten 36 Prozent der Beschäftigten in einer unproduktiven Landwirtschaft, meistens mit vorsintflutlichen Methoden. Dies beschreibt nur das größte von vielen strukturellen und sozialen Problemen. Seit langem kritisieren Brüsseler EU-Beamte die in Rumänien weitverbreitete Korruption. Die Infrastruktur des Landes ist marode. Viele Industriebetriebe stellen Produkte her, die kaum konkurrenzfähig sind.

    Dennoch wird die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht Anfang kommender Woche feststellen, dass Rumänien insgesamt auf einem guten Weg sei. Derzeit ist noch ungewiss, ob die Kommission bereits eine Empfehlung zum Beitrittstermin abgeben wird. Brüssel favorisiert aus politischen Gründen den 1. Januar 2007. Eine Beitrittsverschiebung, so lautet die Überlegung der Kommission, könne zu innenpolitischem Chaos führen und die Nationalisten im Land stärken.

    Bukarest, Boulevard der Einheit. Für die viereinhalb Kilometer lange Paradestraße und für das so genannte "Haus des Volkes", einen gigantomanischen Palast, hatte einst der kommunistische Diktator Nicolae Ceausescu die Bukarester Altstadt abreißen lassen. Auf der Rückseite des Boulevards stehen zwar noch einige schöne, aber heruntergekommene Altbauten. Kinder spielen zwischen Müll und Schutt, Straßenhunde streunen umher. Auf der gepflegten Vorderseite des Boulevards, gleich gegenüber von Ceausescus Palast, ist das Ministerium für Europäische Integration untergebracht. Die Ministerin Anca Boagiu sitzt in einem großen, geschmackvoll möblierten Büro. Sie ist jung und sehr elegant angezogen. Was sie über ihr Land erzählt, klingt nach Idylle.

    "Das Image Rumäniens in einigen EU-Mitgliedsstaaten entspricht nicht der Wirklichkeit. Rumänien hat große Fortschritte gemacht, es ist nicht mehr das Rumänien von 1989. Es ist ein modernes Land, in dem die Menschen europäisch denken. Rumänien wendet die europäische Gesetzgebung mit großem Erfolg an. Wir haben viele neue Strukturen, die im Einklang mit den EU-Vorschriften stehen. Strukturen, die sowohl uns als auch den EU-Staaten die Gewissheit geben, dass wir ein Partner sind, mit dem man von Gleich zu Gleich diskutieren kann."

    Ganz anders hört sich dagegen Anton Niculescu an. Er ist Staatssekretär im Außenministerium und dort zuständig für Reformen und institutionelle Beziehungen. Niculescu gilt als brillanter Außenpolitiker und als einer der besten EU-Experten Rumäniens.

    "Wir müssen ganz ehrlich anerkennen: wir sind nicht auf die EU vorbereitet. Woran es am meisten mangelt, das ist unsere Mentalität, unsere Art und Weise zu denken. Was die konkreten Kriterien anbetrifft, so bin ich optimistisch. Der Bericht im Mai wird Fortschritte feststellen. In kritischen Bereichen wie bei der Justiz oder bei der Wettbewerbspolitik wird die Kommission uns loben. Der Bericht wird aber auch feststellen, dass wir noch sehr viel tun müssen. Insgesamt bin ich allerdings optimistisch. Ich denke, 2007 werden wir EU-Mitglied sein."

    Es wäre eine beachtliche Leistung. Es ist noch gar nicht lange her, da standen die Zeichen ganz auf Beitrittsverschiebung. Doch im Dezember 2004 verloren die bis dahin regierenden oligarchischen und korrupten Wendekommunisten die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. An die Macht kam eine Vier-Parteien-Koalition aus Liberalen, Sozialliberalen, Konservativen und ungarischer Minderheit. Die Koalition ist zwar inzwischen fast wöchentlich in Streitereien verwickelt und macht allgemein einen desolaten Eindruck. Doch dessen ungeachtet gelten einige Regierungsmitglieder in Brüssel als Musterreformer - zum Beispiel die rumänische Justizministerin Monica Macovei.

    Monica Macovei bei einem Streitgespräch in einem Bukarester Radiosender. Fast täglich legt sich die 47-jährige Anwältin und einzige Parteilose in der Regierung mit ihren Kollegen an. Denn niemand im postkommunistischen Rumänien hat bisher so entschlossen gegen die Korruption in den Reihen der politischen Elite gekämpft wie sie.

    Korruption in der politischen Elite hat in Rumänien eine lange Tradition. Die jeweiligen Eliten haben politische Ämter stets für ihre wirtschaftlichen Privatinteressen missbraucht und sich dabei wie Feudalherren aufgeführt. Gleichzeitig aber versprechen die rumänischen Politiker regelmäßig, dagegen etwas unternehmen zu wollen - freilich ohne es ernst zu meinen, schon gar nicht bei sich selbst. Deshalb hat die Europäische Union immer wieder gefordert, die einschlägigen rumänischen Behörden müssten sich endlich auch die "großen Fische" vornehmen. Monica Macovei hat dies getan: Im Herbst vergangenen Jahres schuf sie unter dem Namen "Nationale Antikorruptionsdirektion" ein unabhängiges Amt, dessen Mitarbeiter sich ausschließlich mit Korruptions- und Kriminalitätsvorwürfen gegen Politiker und Beamte befassen.

    Beispiel Adrian Nastase, im März dieses Jahres. Der ehemalige Regierungschef zeigt Bukarester Fernsehjournalisten seine mit Kunst und Kitsch wahllos vollgestopfte Luxuswohnung. Er will beweisen, dass bei ihm alles offen und mit rechten Dingen zugeht. Doch in Wirklichkeit dürfte Nastase vieles zu verbergen haben, vermuten Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörde, die seit Januar gegen ihn ermitteln.

    Nastase war Regierungschef der Ende 2004 abgewählten Wendekommunisten und wurde danach Parlamentspräsident. 1998 soll er in Bukarest ein 700-Quadratmeter-Grundstück zum Spottpreis von nur 11.000 Dollar gekauft haben. Auf dem Grundstück hat Nastase einen luxuriösen Appartementbau errichten lassen. Die Bauleiterin und mehrere andere an dem Neubau beteiligte Personen – so heißt es weiter - sollen von Nastase hohe Behördenposten zugeschanzt bekommen haben. Nastase soll im Gegenzug Baumaterialien als Bestechungsgeschenke angenommen haben.

    In der rumänischen Öffentlichkeit gilt Nastase seit langem als einer der korruptesten Politiker des Landes. Ein so genannter "großer Fisch". Auf Druck seiner eigenen Partei ist er inzwischen von seinen Ämtern zurückgetreten, die Ermittlungen gegen ihn dauern an. Doch das Parlament weigerte sich in den letzten Wochen mehrmals, einer Hausdurchsuchung in Nastases Luxuswohnung zuzustimmen. Bemerkenswert dabei: Koalitions- und Oppositionsabgeordnete votierten bei diesem Beschluss in seltener Einmütigkeit. Für die Justizministerin Monica Macovei ein klares Signal gegen die von ihr vertretene Politik.

    "Ja, ich muss immer wieder feststellen: In dem Augenblick, in dem wir vom Papier zur Praxis schreiten, in dem Augenblick, in dem wir die großen Korruptionsfälle aufrollen, da verhalten sich einige Politiker plötzlich anders als in ihren Äußerungen. Noch spüre ich Unterstützung innerhalb der Regierung. Aber Stimmen werden lauter, die sagen: 'So strikte Antikorruptionsmaßnahmen brauchen wir nun auch wieder nicht!’ Doch wir werden siegen. Die Politiker müssen verstehen, dass sie ihre Parteien von bestechlichen Kollegen säubern müssen."

    Ermittelt wird derzeit nicht nur gegen ehemalige, sondern auch gegen aktive Regierungsmitglieder. Ein Novum in Rumänien, das zeigt, wie ernst Monica Macovei es meint. Die parteilose Justizministerin hätte ihren Posten wohl längst verloren, hätte sie nicht mächtige Fürsprecher. Die EU-Kommission drohte Rumänien mehrfach an, den Beitritt zu verschieben, sollte das Unwesen der Bestechlichkeit nicht konsequent bekämpft werden.

    Unterstützt wird die Justizministerin auch von Rumäniens starkem Mann, dem Staatspräsidenten Traian Basescu. Der ehemalige Schiffskapitän ist ein gewiefter Machtpolitiker und zugleich ein großer Populist. Wohl gerade deshalb hat sich der 54-Jährige mit Macovei verbündet. Mit dem Kampf gegen Korruption lässt sich auch beim Volk hervorragend punkten. Basescu spricht in der rumänischen Öffentlichkeit zuweilen von einem "verruchten System", das in Rumänien herrsche. Auch im Gespräch mit dem Deutschlandfunk übt er sich in demonstrativer Offenheit:

    "Sehen Sie sich an, was jetzt in der Justiz geschieht: Gegen Politiker und Geschäftsleute wird ermittelt. Ich werde über niemand einen Schuldspruch fällen, aber wir sehen, dass die Justiz angefangen hat zu arbeiten. Es geht um Leute, die Politikern Anweisungen gegeben haben, und die wurden dann von den Parteien ausgeführt. Es war ein System politischer Macht ohne Transparenz. Diese Sachen kommen jetzt heraus, und ich werde nicht zögern, noch weitere Schritte zu unternehmen, um solche Vorgänge ans Tageslicht zu bringen. Ich bin ein Präsident, der sich einmischt. Ein starker Präsident, soweit es die Verfassung erlaubt. Ein Präsident, der nicht schweigt."

    Klare Worte wie diese haben Traian Basescu zum beliebtesten Politiker in Rumänien gemacht. Bei seinen Auftritten wirkt er immer ein wenig, als sei er der Anführer der Guten im großen Kampf mit dem Bösen. Doch wie sieht es in den unspektakulären Niederungen des Alltags aus? Dort, wo die vielen Vorschriften der EU regeln, wie Betriebe produzieren müssen und wie Verbraucher und Umwelt geschützt werden sollen? Manches gibt es, das meiste davon aber nur ansatzweise oder überhaupt nicht.

    Miercurea Ciuc, ein 40.000-Einwohner-Städtchen im siebenbürgischen Szeklerland. In dem Fleischverarbeitungsbetrieb der Familie Decean tranchieren Schlachter an großen Arbeitstischen Schweinehälften. In der Halle nebenan steht eine ausrangierte Wurstmaschine, Arbeiter schleppen Zementsäcke herein. Emese und Gheorghe Decean, die Besitzer der Firma, lassen ihren Betrieb umbauen - sie bereiten sich auf die Europäische Union vor.

    Die rumänische Lebensmittelindustrie und das Veterinärwesen des Landes gehören, ähnlich wie die Landwirtschaft, in die so genannten – Zitat: - "Bereiche ernsthafter Besorgnis", wie es im Brüsseler Jargon heißt. Bereiche, in denen vieles noch nicht den EU-Standards entspricht, die aber schon im Laufe des kommenden Jahres alle Brüsseler Normen und Vorgaben erfüllen müssen. Emese Decean erklärt, was das für ihren Betrieb heißt.

    "Wir müssen den ganzen Produktionsablauf ändern, denn er entspricht nicht den europäischen Anforderungen. Wir verlagern jetzt die Fleischzerteilung in den Keller, hier, im Erdgeschoss, wird das Fleisch weiterverarbeitet, im ersten Stock werden die Umkleideräume und die Sanitärschleusen sein. Außerdem müssen wir auch neue Maschinen aus Edelstahl kaufen, weil wir Maschinen aus Gusseisen, wie die alte da in der Ecke, nicht mehr benutzen dürfen."

    Die Deceans gründeten ihren Betrieb vor zehn Jahren. Damals hatten sie nur einen einzigen Mitarbeiter, inzwischen sind es sechzig. Die 40-jährige Emese Decean managt den Betrieb, ihr Mann kümmert sich um die Technik. Bisher haben sie alle Investitionen aus ihrem Gewinn und über private Bankkredite finanziert. Jetzt wollen sie erstmals EU-Fördergelder beantragen, um ihre Firma zu modernisieren:

    "Hinter diesem Modernisierungsprozess steckt eine große finanzielle Anstrengung. Im Land herrscht große Armut, es gibt kaum Kaufkraft. Von der Regierung haben wir nie Unterstützung bekommen. Es ist, als ob sie gar nicht existieren würde. Ich habe zweimal versucht, einen Antrag auf EU-Gelder zu stellen. Aber bei den Beraterfirmen, die den Projektantrag ausfertigen, muss man 5.000 Euro im voraus bezahlen, und man bekommt nicht die geringste Sicherheit, dass das Projekt auch gewinnt und EU-Gelder bekommt. Wir wollen jetzt dennoch einen Projektantrag stellen, um die neuen Maschinen zu kaufen. Wir machen das nicht nur für die EU, sondern auch für uns. Es geht uns mit unserer Firma nicht nur ums Geld, wir machen unsere Arbeit gern. Und alles, was wir produzieren, essen wir auch selbst."

    So wie die beiden Deceans hoffen auch viele andere Unternehmer in Rumänien auf EU-Fördergelder. Überhaupt lässt sich die Europäische Union den Beitritt Rumäniens viel kosten. Allein die so genannte "Vor-Beitrittshilfe" der Jahre 2000 bis 2006 beläuft sich auf vier Milliarden Euro - so viel hat kein anderes osteuropäisches Land bekommen. Weitere Milliarden werden nach dem Beitritt folgen, denn es besteht riesiger Investitionsbedarf. Doch die Kosten-Nutzen-Bilanz für alle Beteiligten bleibt vorerst für viele Beobachter eine offene Frage. Positiv beantworten möchte sie allerdings jetzt schon Cristian Pîrvulescu, einer der prominentesten und zugleich regierungskritischsten Politologen Rumäniens.

    "Ich glaube nicht, dass Rumänien vollständig vorbereitet ist. Es wäre absurd, das zu behaupten. Aber die Kosten eines verzögerten Beitritts wären sehr hoch, viel höher als der Gewinn durch einen umgehenden Beitritt. Der Enthusiasmus für die EU sinkt, aber Rumänien braucht den Modernisierungsprozess, und die EU hat dabei eine außerordentlich große Rolle gespielt. Die EU bringt unserem Land vor allem mehr Kohärenz. Rumänien ist weiterhin ein Land mit Problemen, aber der politische Wille, sie zu lösen, existiert. Dieser Wille wird leider noch nicht genügend von den politischen Institutionen und den Parteien unterstützt, von der Gesellschaft aber wird er sehr stark unterstützt. Deshalb denke ich, dass ein moderater Optimismus im Falle Rumäniens gerechtfertigt ist. Das Schlusslicht-Image muss etwas nuanciert werden."