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EU-Beitritt ja, aber...

Dass Angela Merkel keinen fulminanten Wahlsieg einfuhr, hat in der Türkei Erleichterung ausgelöst. Denn Merkels Pläne für eine privilegierte Partnerschaft statt einer türkischen Voll-Mitgliedschaft kommen in der Türkei nicht gut an. Niemand würde am Bosporus offen Nein zur EU-Mitgliedschaft sagen. Aber leise Skepsis ist inzwischen hier und da zu hören. Gunnar Köhne berichtet aus Istanbul.

    Selim Sadak ist eigentlich kein Hitzkopf. Eher bedächtig wählt der kurdische Politiker seine Worte. Doch was Sadak gemeinsam mit seinen politischen Freunden von der neu gegründeten kurdischen "Bewegung für eine demokratische Gesellschaft" fordert, ist für die Türkei innenpolitischer Sprengstoff:

    "An einer generellen Amnestie für alle PKK-Mitglieder führt kein Weg vorbei. Auch die Haftbedingungen für Abdullah Öcalan müssen sich ändern. Das ist eine Notwendigkeit - auch für die Annäherung der Türkei an die EU. Überhaupt ist die Kurdenfrage allgemein nicht länger nur ein Problem Ankaras, sondern auch Brüssels."

    Freilassung aller PKK-Gefangenen, Amnestie für die noch aktiven Kämpfer in den Bergen, Hafterleichterungen für den PKK-Chef Öcalan - und das Ganze eine Bedingung der Kurden für erfolgreiche EU-Beitrittsgespräche der Türkei. Eine solche Drohung ist starker Tobak für die türkischen Nationalisten. Seit die PKK den bewaffneten Kampf wieder aufgenommen hat, vergeht kein Tag, an dem nicht Särge mit getöteten Soldaten und Polizisten aus dem Südosten des Landes zurückkommen.

    Kurz vor dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der EU wird die türkische Regierung von unterschiedlichen Seiten unter Druck gesetzt. Die Kurden wollen Ankara mit Hilfe Brüssels mehr Zugeständnisse abringen. Das Militär und die politische Rechte warnen vor eben solchen Zugeständnissen gegenüber den politischen Gegnern im Innern wie im Äußeren.

    Generalstabschef Hilmi Özkök bedauerte öffentlich, dass die Liberalisierung der Strafgesetzgebung den Kampf gegen den Terrorismus geschwächt habe. Mit anderen Worten: Der Reformdruck aus Brüssel sei der PKK zugute gekommen. Und dann ist da noch ein anderes Thema, das den Euroskeptikern in der Türkei Aufwind verschafft hat: Der Umgang der Europäer mit dem Zypern-Problem. Der Istanbuler Politikwissenschaftler Ilter Touran:

    "Selbst die stärksten Befürworter einer EU-Mitgliedschaft finden, dass die EU für die verfahrene Situation die Verantwortung trägt. Sie hat den griechischen Teil Zyperns in die Union aufgenommen, obwohl das Teilungsproblem nicht gelöst war. Sie hat von der Türkei Friedensanstrengungen gefordert und bekommen - doch der Wiedervereinigungsplan scheiterte am griechischen Süden. Sie hat den türkischen Zyprioten Hilfe versprochen - doch gekommen ist so gut wie nichts. Und nun sehen sie tatenlos zu wie Zypern den Streit zur EU-Angelegenheit macht, wo sie als Mitglied mehr zu sagen hat als in den Vereinten Nationen. Dieser Streit hat dazu geführt, dass viele EU-Befürworter, mich eingeschlossen, nicht länger finden, dass die EU eine besonders glaubwürdige Organisation ist."

    Die türkische Regierung hat angekündigt, eher den EU-Verhandlungstisch zu verlassen, als in der Zypern-Frage nachzugeben - und weiß dabei die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Ausdrückliche Gegner einer EU-Mitgliedschaft gibt es am Bosporus nur wenige - doch es kursiert der Verdacht, dass ein loses Netzwerk rechter Nationalisten den Beitrittsprozess zu sabotieren versucht. Dazu soll auch jener Istanbuler Bezirksstaatsanwalt gehören, der den Schriftsteller Orhan Pamuk angeklagt hat wegen einer umstrittenen Meinungsäußerung über die Massaker an den Armeniern vor 90 Jahren. Die Anklage gegen Pamuk hat die türkische Regierung vor aller Welt blamiert.

    Die Zahl der EU-Befürworter in der Türkei ist innerhalb eines Jahres von 75 auf knapp 60 Prozent gefallen. Ilter Touran meint, das sei dennoch kein Grund zur Besorgnis, in anderen EU-Beitrittstaaten sei es ähnlich gewesen:

    "Wenn Reformen gemacht werden, dann ist es unvermeidlich, dass die Verlierer dieser Reformen auf die vermeintlich negativen Folgen aufmerksam machen. Die Reformer ihrerseits brauchen Zeit, um die Reform zu erklären und umzusetzen."