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EU-Flüchtlingspolitik
"Dublin II hat sich im Prinzip selbst erledigt"

Nach dem Dublin-II-Verfahren werden die Flüchtlinge dort registriert, wo sie die EU-Außengrenzen überschreiten. Das Abkommen habe nie richtig funktioniert, sagte der Europaabgeordnete Markus Ferber. Der CSU-Politiker fordert eine europäische Lösung mithilfe einer Quote zur Verteilung der Flüchtlinge.

Markus Ferber im Gespräch mit Jochen Spengler | 01.09.2015
    Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber spricht im Mai 2014 vor der weiß-blauen Flagge Bayerns
    Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber (dpa/Daniel Karmann)
    Jochen Spengler: Gestern hatte Ungarn überraschend seine Fernzüge für Flüchtlinge geöffnet. Tausende Menschen, die in Budapest gestrandet waren, stürmten die Züge. Und nach Polizeiangaben aus Wien kamen allein gestern Abend 3650 Asylsuchende in Wien an. Davon haben bloß sechs Afghanen Asyl in Österreich beantragt. Der Rest - das wären dann 3644 - wollte nach Deutschland.
    Am Telefon ist Markus Ferber, langjähriger Europaabgeordneter und für die CSU in Brüssel und Straßburg. Servus, Herr Ferber.
    Markus Ferber: Hallo, Herr Spengler.
    Spengler: Sagen Sie doch: Gestern hat die Bundeskanzlerin mit Blick auf die Flüchtlingskrise gesagt, wir schaffen das. Gilt das heute auch noch, angesichts dieser Zahlen?
    Ferber: Es ist natürlich zu schaffen, aber nur in einer Kraftanstrengung, wo alle Ebenen, von der Kommune, die ja dann die dezentrale Unterbringung durchführt, die Bundesländer, die die Erstaufnahme gestalten, der Bund, der für die Verfahren zuständig ist, und die Europäische Union, die für die Außenpolitik, für die Grenzsicherung und Ähnliches mehr zuständig ist, miteinander zusammenarbeiten, und das ist momentan das Hauptproblem, das wir haben. Das ist ja auch gerade im Bericht deutlich geworden.
    Spengler: Die Zusammenarbeit soll ja erst auf dem Flüchtlingsgipfel Mitte September stattfinden. Müsste das nicht eigentlich schon jetzt in den nächsten Tagen erfolgen?
    Ferber: Wir haben ja schon längst Spielregeln verabredet. Nur wir erleben zurzeit eine Welle von Flüchtlingen, die mit den bestehenden Spielregeln nicht mehr bewältigt werden kann, und genau das haben wir jetzt erlebt. In dem ganz konkreten Beispiel von gerade eben geht es ja darum, dass aus Budapest jetzt Züge Richtung München rollen. Das ist nicht die Spielregel, sondern die Spielregel heißt, die Erstregistrierung müsste in Ungarn erfolgen, und dann ist unser Ziel ja, zu einer dezentralen Verteilung auf die Mitgliedsstaaten zu kommen. Wir können das auch nicht alles Ungarn auf Ungarn abwälzen. Aber auch Österreich lässt die Züge einfach durchfahren. Man kann das nicht nach dem Motto machen, München ist dann der Gelackmeierte oder Deutschland, weil da ein Sackbahnhof ist und alle aussteigen müssen. So kann Asyl- und Flüchtlingspolitik in der Europäischen Union nicht funktionieren.
    "Eine europäische Lösung muss jetzt her"
    Spengler: Dann lassen Sie uns bei den Spielregeln noch einen Moment bleiben, Herr Ferber. Wozu genau wäre Ungarn laut EU-Recht verpflichtet, zur Registrierung der Flüchtlinge und dann auch zur Unterbringung, oder wozu?
    Ferber: Zunächst mal zur Registrierung und hätte dann das Recht, diejenigen, die offensichtlich keine Chance haben, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in der Europäischen Union zu bekommen, also Flüchtlinge aus dem westlichen Balkan, sofort zurückzuschicken, was Ungarn auch tut, und hat dann allerdings die Verpflichtung - darum machen sie die Erstregistrierung nicht mehr -, für die Flüchtlinge, die eine realistische Aussicht auf ein dauerhaftes Bleiberecht haben, auch das Verfahren abzuwickeln. Das ist genau der Punkt, wo wir in Europa jetzt sagen müssen, wir können das nicht den grenznahen Staaten, Italien, Griechenland, Ungarn, auferlegen, dass die jetzt alle Verfahren durchzuführen haben, sondern genau da muss eine europäische Lösung jetzt her. Das ist diese Quote, über die wir ja seit Monaten schon diskutieren.
    Spengler: Das war bislang ja geregelt in diesem sogenannten Dubliner Abkommen, dass die Flüchtlinge dort registriert werden sollen, wo sie die EU-Außengrenzen überschreiten. Man kann aber sagen, dieses Dubliner Abkommen ist tot, toter geht's nicht?
    Ferber: Es funktioniert hinten und vorne nicht, weil die Erstaufnahmeländer sich weigern, weil nach Dublin dann zum Beispiel Deutschland, Österreich das Recht hätte, Flüchtlinge wieder nach Ungarn oder nach Griechenland oder nach Italien zurückzuschicken, weil dort die Erstaufnahme stattgefunden hat. Es ist auch deswegen tot, weil andere Länder, die sich zwar in Konferenzen rege zu Wort melden wie Frankreich, aber was die Aufnahme von Flüchtlingen betrifft zurückhalten, plötzlich Grenzkontrollen wieder einführen. Wir hatten ja vor ein paar Wochen den Fall, dass an der italienisch-französischen Grenze, an der Riviera die Grenzen zugemacht wurden für Flüchtlinge und die Franzosen gesagt haben, ihr seid in Italien, ihr seid also in der EU, ihr dürft zu uns nicht rein. Ich will wirklich Ihre Wortwahl aufgreifen, Herr Spengler: Dublin II hat nie richtig funktioniert und jetzt hat es sich im Prinzip selbst erledigt.
    Spengler: Und Ungarn verhält sich im Prinzip auch nicht anders als Griechenland oder Italien, oder?
    Ferber: Ich will auch jetzt nicht Ungarn kritisieren. Ungarn wird überrollt, auch deutlich mehr, wenn Sie das auf die Bevölkerung umrechnen, als wir in Deutschland, von allen Flüchtlingen, die über den Landweg kommen. Wir haben es ja da mit verschiedenen Personengruppen zu tun. Wir haben es mit Flüchtlingen zu tun, die direkt aus Syrien und Irak kommen. Wir haben es mit Flüchtlingen zu tun, die schon seit eineinhalb, zwei Jahren in Flüchtlingslagern in der Türkei oder in Jordanien hausen und dort keine Perspektive sehen, und wir haben es mit Menschen aus dem westlichen Balkan zu tun, die ökonomisch keine Zukunft in ihrer Heimat sehen und versuchen, in die EU zu kommen.
    "Wir müssen insgesamt im Bereich Außengrenzenschutz unsere Hausaufgaben als Europäer machen"
    Spengler: Herr Ferber, würden Sie denn dann sogar sagen, Ungarn hatte recht, wenn es so einen komischen Grenzzaun mit Stacheldraht etc. baut?
    Ferber: Ja, aber schauen Sie: Die Spanier rühmen sich dadurch, dass sie den Grenzzaun bei den zwei spanischen Enklaven in Nordafrika verbessert haben. Da hätten sie kaum Flüchtlinge aufzunehmen. Und bei den Ungarn sagt man dann, das geht so nicht. Wir müssen insgesamt - auch das gehört ja zu Dublin III dann mit dazu - im Bereich Außengrenzenschutz unsere Hausaufgaben als Europäer machen. Zäune allein lösen die Probleme nicht, aber Außengrenzenschutz gehört zu einem Gesamtsystem mit dazu. Aber es kann auch nicht die alleinige Maßnahme sein. Wir brauchen hier wirklich eine abgestimmte Politik, von der Betreuung der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern außerhalb der Europäischen Union beginnend über Instrumente der Nachbarschaftspolitik, was Nordafrika betrifft. Wir müssen helfen, einen libyschen Staat zu entwickeln, um den Schlepperbanden dort Herr zu werden, plus der Hilfe derer, die heute die direkten Anrainerstaaten sind. Das ist die Aufgabe, die in Europa gemeistert werden muss.
    Spengler: Und was erwarten Sie jetzt konkret von Budapest? Sollen die Züge wieder rollen? Angeblich rollen sie wieder, aber ohne Flüchtlinge?
    Ferber: Die Züge dürfen eigentlich nicht rollen. Was Budapest gemacht hat, ist im Prinzip, ein Ventil zu öffnen, das nach den europäischen Spielregeln nicht geöffnet werden darf. Das erhöht aber nur den Leidensdruck auf andere und ich hoffe, dass auch andere mittelosteuropäische Staaten angesichts der Entwicklung in Ungarn ihre Blockadehaltung aufgeben. Das ist die Slowakei, das ist Tschechien, das ist Polen und die baltischen Staaten. Ich hoffe, dass sich da jetzt etwas Bewegung breitmacht, auch Richtung Südosteuropa solidarisch zu sein.
    Spengler: Wann, glauben Sie denn, erfüllt sich Ihre Hoffnung?
    Ferber: Wir werden ja jetzt das Treffen der Innenminister am 14. September haben. Wir haben nächste Woche Plenum des Europäischen Parlaments, wo wir uns intensiv auch mit diesen Fragestellungen beschäftigen werden. Das wird jetzt alles im Monat September stattfinden müssen. Sonst werden wir überrannt werden.
    Spengler: Gestatten Sie noch eine Frage zum Schluss. Ungarn und Österreich werfen nun Deutschland vor, dass wir Mitverursacher der Krise sind, weil wir signalisieren, dass wir ja angeblich kein Problem damit haben, die Flüchtlinge aufzunehmen. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
    Ferber: Ich halte das für sehr zynisch, wenn ich es deutlich sagen darf.
    Spengler: Okay. - Das war Markus Ferber, Abgeordneter im Europaparlament für die CSU. Danke, Herr Ferber.
    Ferber: Gerne, Herr Spengler.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.