Samstag, 04. Mai 2024

Archiv

EU-Flüchtlingspolitik
"Wir brauchen ein Quotensystem"

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz spricht sich für eine Quote zur Verteilung der Flüchtlinge in der EU aus. Die Pläne von EU-Kommissionspräsident Juncker seien notwendig, sagte der SPD-Politiker im DLF. Einzelnen EU-Ländern warf er Egoismus vor. Dieser verhindere Hilfe für die Flüchtlinge.

Martin Schulz im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 13.05.2015
    Er empfehle Juncker dringend, den Druck auf die Mitgliedsstaaten so aufrechtzuerhalten, dass es irgendwann eine Lösung in der Flüchtlingsfrage gebe. Schulz kritisierte die ablehnende Haltung einiger Länder: "Der Egoismus einzelner Teile der Europäischen Union verhindert seit 20 Jahren eine effektive und humane Lösung dieser Probleme." Es passe nicht zusammen mit der viel beschworenen Wertegemeinschaft EU.

    "Hoffnungslosigkeit der Schlepperbanden"
    Der Sozialdemokrat betonte: "Wer legal nach Europa einwandern will, begeht ja kein Verbrechen." Es gebe ja auch Europäer, die beispielsweise nach Australien auswanderten. Die EU müsse deshalb eine "Einwanderungssituation schaffen, in der Menschen die Hoffnung haben, legal einwandern zu können, statt in die Hoffnungslosigkeit dieser Schlepperbanden getrieben zu werden." Das gleiche gelte für Bürgerkriegsflüchtlinge, die nur temporär Schutz in Europa suchten. "Für beides brauchen wir ein Quotensystem."

    Das Interview in voller Länge
    Dirk-Oliver Heckmann: Vor dieser Sendung habe ich gesprochen mit Martin Schulz von der SPD, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, und meine erste Frage an ihn lautete: Ist das nicht eine verrückte Idee, Flüchtlingsströme mit militärischen Mitteln bekämpfen zu wollen?
    Martin Schulz: Ich glaube, dass wir zwei Dinge tun müssen. Diejenigen, die Menschen ihrem Schicksal auf hoher See überlassen, die ihr schmutziges Geld mit dem Schicksal dieser Leute verdienen, daran zu hindern, Menschen sehenden Auges in ihr Unglück fahren zu lassen, ich glaube, die daran zu hindern, das ist sicher erlaubt. Ob man das mit militärischen Mitteln erreicht, weiß ich nicht, aber wenn man es versuchen will, dann wird es sicher nicht gehen ohne ein Mandat der Vereinten Nationen. Insofern hat Federika Mogherini den richtigen Weg beschritten. Aber machen wir uns keine Illusionen: Die Leute, die da ihr Geld mit der Schlepperei verdienen, das ist kein Wohlfahrtsinstitut und mit denen muss man sicher schon hart umgehen. Aber das ändert natürlich nichts an dem ersten Teil Ihrer Frage. Was wir brauchen, ist ein anderes Einwanderungsrecht, als wir es heute haben.
    "Das sind Schrottkähne"
    Heckmann: Da kommen wir später noch intensiv zu. Ich möchte aber bei dem ersten Punkt noch mal bleiben, denn das Ziel ist ja schon, Boote von Schleppern zerstören zu wollen. Deshalb ja auch das UNO-Mandat, das angestrebte nach Kapitel 7. Wie will man denn da ausschließen, dass da Unbeteiligte zu Schaden kommen?
    Schulz: Zunächst einmal geht es darum, dass wir eine Rechtsgrundlage schaffen. Sehen Sie, die Schiffe werden benutzt. Ich habe solche Schiffe gesehen. Ich war in Lampedusa, ich habe mir vor Ort diese Seelenverkäufer angeschaut. Teilweise werden diese Schiffe wieder zurückgeschickt. Das sind seeuntaugliche Schiffe, das spottet jeder Beschreibung. Ich sage es mal ganz salopp: Das sind Schrottkähne. Und wenn man die aus dem Verkehr ziehen kann, wenn man die fahruntauglich machen kann, muss ich Ihnen gestehen, habe ich da nichts gegen. Dass bei solchen Maßnahmen geschaut werden muss, dass da keine Unbeteiligten zu Schaden kommen, das versteht sich von selbst.
    Heckmann: Aber das kann man doch bei keiner militärischen Aktion wirklich garantieren.
    Schulz: Sie können bei einer militärischen Aktion nie garantieren, dass nicht jemand zu Schaden kommt. Aber Sie müssen das auch vom anderen Ende her denken. Es geht ja zunächst einmal darum, dass man die Schiffe, die aus dem Verkehr gezogen werden müssen, mit denen Menschen in den Tod gehetzt werden, unschädlich machen kann. Und wenn das in einer Art und Weise geht, in der niemand zu Schaden kommt, dann kann man das machen. Wenn das Risiko besteht, dass dabei Menschen an Leib und Leben gefährdet werden, dann darf man es natürlich nicht machen.
    "Wir brauchen in Europa ein legales Einwanderungsrecht"
    Heckmann: Sie sprechen von Schrottkähnen, die da eingesetzt werden, und das Motiv ist ja auch absolut nachvollziehbar. Aber, Herr Schulz, wie ist es denn, wenn dann diese Boote zerstört werden sollten? Glauben Sie denn, dass die Flüchtlinge sich abhalten lassen werden, es trotzdem zu versuchen? Die Boote, die würden doch dann nur noch kleiner und noch seeuntauglicher.
    Schulz: Ganz sicher nicht und deshalb habe ich ja auch den ersten Teil Ihrer Frage sehr ernst genommen. Was wir ja tun müssen, ist, am Ende etwas anderes, als Boote zu zerstören. Das ist ein Element einer Strategie, um Schlepperbanden ihr Handwerk zu legen. Aber wir brauchen in Europa ein legales Einwanderungsrecht. Wir brauchen eine bessere Versorgung und einen besseren Schutz für temporäre Flüchtlinge, also solche Leute, die aus Bürgerkriegsgebieten oder aus Umweltkatastrophengebieten zu uns kommen, um einen zeitlich begrenzten Schutz zu finden. Und wir haben eine Regelung für das politische Asyl.
    Aber das alles ist derartig verquast in der jetzigen Situation, weil alles unter dieses sogenannte Dublin-Abkommen geschoben wird, also die Schutzstrukturen für politisch Verfolgte, wo Menschen hingeschoben werden, die nicht dort hingehören. Wer legal nach Europa einwandern will, der begeht ja kein Verbrechen. Der tut etwas, was Europäer zum Beispiel auch tun in anderen Einwanderungsregionen dieser Welt. Es wandern Europäer nach Australien aus, es wandern Europäer in die USA aus oder nach Lateinamerika.
    Aber all diese großen Einwanderungsregionen dieser Erde haben ein legales Einwanderungsrecht, und Europa hat das nicht. Sie können, wenn Sie in die USA wollen, eine Greencard beantragen. Dann haben Sie nicht die Garantie, dass Sie sie bekommen, aber die Chance, dass Sie sie bekommen, und das ist das, was wir in Europa brauchen, dass wir eine Einwanderungssituation schaffen, wo Leute die Hoffnung haben, legal einwandern zu können, statt in die Hoffnungslosigkeit dieser Schlepperbanden getrieben zu werden.
    Das Gleiche gilt für Bürgerkriegsflüchtlinge. Wir haben heute viele, die aus Syrien kommen. Ganz viele von denen wollen nach Syrien zurück, wenn der Bürgerkrieg vorbei ist. Die wollen einen temporären Schutz. Was wir für beides brauchen, sowohl für die legale Einwanderung wie für den temporären Schutz, ist ein Quotensystem. Wenn Sie, ich nehme mal eine Zahl, 500.000 Menschen unter 507 Millionen Europäern verteilen, dann ist das machbar. Wenn Sie die 500.000 nur in ganz wenigen Staaten - fast die Hälfte aller Flüchtlinge kommt zurzeit in vier Mitgliedsstaaten -, wenn Sie die dort in einer konzentrierten Form hinbringen, dann bringt das die Debatten, die wir heute haben. Deshalb: Wir brauchen ein legales Einwanderungssystem, einen besseren temporären Schutz, und dazu brauchen wir Quoten.
    Heckmann: Und genau das hat die EU-Kommission ja auch vor mit ihrem Vorschlag, nämlich die Flüchtlinge gerechter zu verteilen innerhalb Europas nach einer Quote. Großbritannien, Irland, Polen und auch andere ost- und mitteleuropäische Staaten, die haben aber jetzt schon gesagt, nein, da sind sie absolut nicht mit einverstanden. Wie passt das aus Ihrer Sicht zusammen mit der viel beschworenen Wertegemeinschaft Europäische Union?
    Schulz: Überhaupt nicht. Es passt nicht zusammen mit der viel beschworenen Wertegemeinschaft Europäische Union. Aber Sie sehen daran, was die Europäische Union ist: Sie ist kein Bundesstaat, in dem ich der Präsident eines Bundesparlaments wäre oder Herr Juncker der Regierungschef einer Bundesregierung.
    "Der Anspruch der Europäischen Union, eine Wertegemeinschaft zu sein, scheitert am Egoismus einiger nationaler Regierungen."
    Wir sind eine Union souveräner Staaten und diese souveränen Staaten haben etwas perfektioniert: Wenn immer etwas nicht funktioniert, dann ist es die Europäische Union. Wenn etwas funktioniert, dann sind es sie, die nationalen Regierungen, die erfolgreich sind. Was hier sichtbar wird, ist, dass der Anspruch der Europäischen Union, eine Wertegemeinschaft zu sein, scheitert am Egoismus einiger nationaler Regierungen, und ich muss Ihnen sagen, das nicht erst seit heute. Ich bin seit 21 Jahren Mitglied des Europäischen Parlaments. Ich war in meiner ersten Wahlperiode der Sprecher meiner Parlamentsfraktion für die Migrationsfragen. Wenn ich meine Reden, die ich vor 20 Jahren hier gehalten habe - die den gleichen Inhalt hatten wie unser heutiges Interview -, wenn ich meine Reden von vor 20 Jahren heute nehmen würde und würde das heutige Datum draufdrucken, könnte ich die gleiche Rede wieder halten.
    Der Egoismus einzelner Teile der Europäischen Union verhindert seit 20 Jahren eine effektive und humane Lösung dieser Probleme.
    Heckmann: Und wen meinen Sie da vor allem?
    Schulz: Die haben Sie ja eben genannt: Nehmen Sie Großbritannien, nehmen Sie Ungarn, nehmen Sie die Länder, das sind aber nicht nur die alleine. Es sind viele andere, die hinter verschlossenen Türen anders reden als in die Mikrofone.
    Heckmann: Was folgt daraus? Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Oder kann man dagegen gar nichts machen? Die polnische Regierungschefin, die hat im April beim Sondergipfel ja plädiert für eine Solidarität in Freiwilligkeit. Kann man Solidarität erzwingen?
    Schulz: Eva Kopacz ist eine Person, die ich sehr respektiere, und ich habe sie auch gefragt, ob sie mir erklärt, was sie damit meint, und ich hoffe, dass sie das noch tun wird. Wenn es denn die Solidarität in Freiwilligkeit gäbe, wäre ich ja froh. Wenn jemand freiwillig sagt, wir nehmen eine gewisse Anzahl von Flüchtlingen, wäre das gut.
    Also man muss noch mal in der Beantwortung Ihrer Frage sagen: Der Preis, der dafür bezahlt wird, ist a) der Verlust an Glaubwürdigkeit und b), dass es in einem ungeordneten Maße weitergeht, und das ist sicher nicht akzeptabel.
    Was kann man dagegen tun? - Sehen Sie, das Europäische Parlament ist seit 20 Jahren der Vorreiter in diesen Vorschlägen, die wir unterbreiten. Die Europäische Kommission hat jetzt, wie ich höre, einen ambitionierten Vorschlag, den sie heute vorlegen will, bei dem die Forderung nach einem Quotenschlüssel, der fair und gerecht ist, der eine Mischung ist aus Einwohnerzahl, aus der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, auch der Aufnahmekapazität der Kommunen in den Ländern - das ist ja unterschiedlich stark ausgeprägt. Wir haben sehr wohlhabende und weniger wohlhabende Länder in der EU. Da muss man Rücksicht drauf nehmen. Das heißt also einen fairen und gerechten Verteilungsschlüssel.
    Ich würde dringend empfehlen, dass Jean-Claude Juncker als Präsident der Kommission, und ich werde auch als Präsident des Parlaments das Gleiche tun, nämlich den Druck auf den Mitgliedsstaaten, endlich zu einer solchen Verteilung zu kommen, so aufrechtzuerhalten, dass es irgendwann eine Lösung geben muss. Dazu gehört auch, dass diejenigen, die sich nicht nur freiwillig, sondern auch bindend an einem solchen System beteiligen wollen, ihre Stimme stärker erheben, als sie das heute tun, also die Regierungen in Berlin, in Paris, in Rom. Die sollten stärker und kämpferischer sein.
    Heckmann: Abschließend gefragt, Martin Schulz: Glauben Sie, dass diese Quote kommen wird?
    Schulz: Ich bin ein Optimist und ich habe die Erfahrung gemacht, dass Vernunft sich am Ende immer Bahn bricht in der Politik. Wie lange das dauert, weiß ich nicht, aber deshalb glaube ich, dass sie am Ende kommen wird.
    Heckmann: Martin Schulz war das, der Präsident des Europäischen Parlaments. Er ist Mitglied der SPD und erhält morgen den Aachener Karlspreis. Dafür schon mal herzlichen Glückwunsch und danke Ihnen, Herr Schulz, fürs Gespräch.
    Schulz: Ich danke Ihnen! Alles Gute.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.