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"EU-Richtlinie mit Verfassung konform"

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, sieht keinen Widerspruch zwischen der europäischen Richtlinie zur Vorratsspeicherung und der Verfassung Deutschlands. Die Richtlinie könne "in voller Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht umgesetzt werden".

Hans-Jürgen Papier im Gespräch mit Stephan Detjen | 07.03.2010
    Stephan Detjen: Herr Präsident, das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung, das Sie am Dienstag dieser Woche als letztes Urteil Ihrer Amtszeit verkündet haben, war eine - sprichwörtlich - vernichtende Kritik an der Arbeit des Gesetzgebers.

    Wie müsste ein Urteil über den Anschlag der Politik auf Grundrechte, den Sie da konstatiert haben, aus strafrechtlicher Sicht lauten - Fahrlässigkeit, Vorsatz, Heimtücke?

    Hans-Jürgen Papier: Also ich möchte einfach die Angelegenheit etwas entdramatisieren. Sehen Sie, wir hatten in den letzten Jahren eine ganze Reihe von wichtigen Entscheidungen zu treffen auf dem Gebiet Freiheit und Sicherheit, also zum Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit.

    Das lag einfach daran, dass aufgrund der terroristischen Angriffe und Anschläge in Amerika und anderswo das Gefahrenpotenzial oder das Gefährdungspotenzial sich verändert hatte, massiv angestiegen war und auch im Bereich der global agierenden organisierten Kriminalität neue Gefährdungsstufen erreicht waren, sodass der Gesetzgeber des Bundes und der Länder sich verpflichtet gefühlt hatte, auf diese veränderten Gefährdungspotenziale mit, zum Teil jedenfalls, neuartigen Abwehrmöglichkeiten zu reagieren - Abwehrmöglichkeiten, wie etwa die Onlinedurchsuchung, Vorratsdatenspeicherung, automatisierte anlasslose Erfassung aller Kfz-Kennzeichen auf öffentlichen Straßen und so weiter und sofort.

    Und das Bundesverfassungsgericht hatte nun die Aufgabe, die verfassungsrechtlichen Maßgaben oder die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und die Grenzen dieser neuartigen Eingriffsinstrumente zu formulieren, herauszuarbeiten.

    Und ich gehe mal davon aus, wenn ich das noch sagen darf, ich gehe mal davon aus, dass nach der Klarstellung, die durch eine ganze Reihe von Entscheidungen unseres Hauses erfolgte, was nun von verfassungswegen geboten ist, welche Grenzen einzuhalten sind aufgrund der Freiheitsrechte, sich auf die Gesetzgebung stabilisieren wird, sich auf diese Vorgaben reagieren wird, sodass wir nicht mehr so häufig Diskrepanzen zwischen der Gesetzgebung auf der einen Seite und der verfassungsmäßigen Rechtsprechung auf der anderen Seite vorfinden werden.

    Detjen: Es ist ja eine Häufigkeit, es ist ja in der Tat nicht das erste Mal gewesen, dass das Bundesverfassungsgericht die Maßstäbe formuliert hat, die Sie jetzt an dieses Gesetz angelegt haben, also die verschärften Schutzvorschriften, richterliche Kontrollbefugnisse, die Beschränkung von Eingriffen in Daten auf besonders schwerwiegende Delikte.

    Das hat doch schon eine Dramatik, wenn ein Gesetzgeber das jetzt zum wiederholten Male in einem solchen Maß übersieht, dass Sie ein komplettes Gesetz für nichtig erklären müssen.

    Papier: Man muss allerdings sehen, dass es auch immer wieder neue gesetzgeberische Maßnahmen waren, die der Gesetzgeber formuliert hatte. Und es ist ja richtig, dass das Bundesverfassungsgericht in all den genannten Fällen gar nicht die Eingriffsinstrumente als solche von verfassungswegen verworfen hatte, wohl aber die Ausgestaltung, die konkrete Ausgestaltung.

    Es sind im Grunde fast immer drei wesentliche Aspekte gewesen. Zum einen wurde festgehalten, dass den Freiheitsrechten ein unantastbarer Menschenwürdekern eigen ist - ob das nun das Grundrecht der Unverletzbarkeit der Wohnung ist oder Telekommunikationsgeheimnis oder Schutz der Vertraulichkeit der informationellen Systeme.

    Es sind in der Rechtsprechung unseres Hauses unantastbare Menschenwürdekerne herausgearbeitet worden, und die sind vom Gesetzgeber in aller Regel nicht hinreichend beachtet worden.

    Detjen: Sie sagen "in aller Regel". Ich will noch mal darauf zurückkommen. Muss man da nicht doch konstatieren: Es hat in der letzten Zeit ein Phänomen gegeben, das Ihre Vorgängerin Jutta Limbach einmal als eine "Datensammelwut des Staates" beschrieben hat, in der er dann eben die immer wieder formulierten Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts übersehen oder ausgelassen hat.

    Papier: Also ich hoffe, dass die Maßgaben, die wir jetzt in der grundlegenden Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung formuliert haben, dass die künftig auch die Gesetzgebung prägen werden und dass wir nicht ständig solche Fälle der Diskrepanz haben. Aber ich gehe nicht so weit, dass ich als Repräsentant eines Verfassungsorgans die Arbeit anderer Verfassungsorgane mit Zensuren belege. Dort bitte ich um Verständnis, das steht mir nicht zu, das möchte ich auch nicht hier gewissermaßen nachholen.

    Detjen: Man kann diese Problematik in der Tat, Sie haben das angedeutet, Herr Professor Papier, aus zwei Perspektiven betrachten. Es gibt nicht nur die Gefahr, Freiheitsrechte, die das Grundgesetz verbürgt, den Sicherheitsbedürfnissen des Staates zu opfern, sondern umgekehrt auch nach wie vor die Gefahr terroristischer Bedrohung.

    In Ihrem Urteil kann man einiges lesen über die diffusen Bedrohungsgefühle und Ängste, die die Menschen angesichts der Datenmassen, die über sie gesammelt werden, empfinden. Was ist mit der Angst, die viele Menschen nach wie vor, und zwar vollkommen zu Recht, vor terroristischer Bedrohung empfinden?

    Ihr Urteil wurde etwa von Polizisten auch kritisiert, weil es die notwendigen Strafverfolgungs- und Vorfeldaufklärungen unnötig behindere.

    Papier: Da sprechen Sie ja ein Dilemma an, das natürlich wirklich die Spannungslage verdeutlicht. Und gerade auch der Gesetzgeber ist diesem Dilemma ausgesetzt.

    Es ist ja völlig richtig, dass wir auf der einen Seite die Garantie der Grundrechte im Grundgesetz vorfinden. Und ich pflege eigentlich immer zu sagen, dass der Zweck des grundgesetzlich verfassten Staates im Grunde und letztlich in der Gewährleistung der Freiheit seiner Bürger besteht.

    Aber zur Freiheit gehört untrennbar auch ein hinreichendes Maß von Sicherheit der Bürger. Also der Staat hat nicht zuletzt aufgrund der Freiheitsrechte selbst und der aus ihnen fließenden Schutzverpflichtungen des Staates für seine Bürger, für die Freiheit seiner Bürger, auch für ein hinreichendes Maß an Sicherheit zu sorgen. Und deshalb besteht dieses von mir immer wieder auch thematisierte Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit.

    Und in diesem Spannungsverhältnis für einen gewissen geradezu harmonischen Ausgleich zu sorgen, ist zunächst mal Aufgabe der Politik. Und sie hat in den letzten Jahren nicht immer das Maß an harmonischem Ausgleich gefunden, das wir - das Bundesverfassungsgericht - eigentlich verlangen müssen. Und deshalb hat es diese Aufhebungsfälle oder diese Divergenzfälle gegeben zwischen der Gesetzgebung einerseits und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts andererseits.

    Detjen: Herr Professor Papier, Sie haben vorhin gesagt, der Gesetzgeber hatte angesichts neuer terroristischer Bedrohung das Gefühl, er müsse darauf mit Sicherheitsgesetzen reagieren.

    Das beschreibt die Gestaltungsspielräume, die der deutsche Gesetzgeber - der nationale Gesetzgeber - hat, vielleicht nicht ganz vollständig. Denn der deutsche Gesetzgeber hat mit diesem Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung eine europäische Richtlinie umgesetzt und hat sich im Rahmen dessen, was er da gemacht hat, eigentlich am unteren Rand dessen bewegt, was diese Richtlinie an Möglichkeiten eröffnet hatte.

    Wäre es nicht konsequent gewesen, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren die Richtlinie selbst geprüft und am Ende möglicherweise verworfen hätte? Oder haben Sie einfach den Konflikt gescheut, der dann mit dem Europäischen Gerichtshof entstanden wäre?

    Papier: Nein, wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass die Richtlinie des Gemeinschaftsrechts in einer Weise umgesetzt werden kann, und zwar in voller Konformität, in voller Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht umgesetzt werden kann - und zugleich die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gewahrt wird.

    Es gibt, das ist die Grundaussage dieser Entscheidung, es gibt durchaus eine grundgesetzkonforme Möglichkeit der Umsetzung der Richtlinie. Und wenn Sie sagen, dass der deutsche Gesetzgeber am unteren Rande tätig geworden ist, der von der Richtlinie vorgegeben ist, dann stimmt das nur zu einem gewissen Teil.

    Das gilt nur für die Speicherungsfristen. Da sieht in der Tat die Richtlinie eine Speicherungsfrist von sechs Monaten bis zwei Jahren vor, und der deutsche Gesetzgeber hat die Frist von sechs Monaten gewählt.

    Aber das steht in der Entscheidung auch sehr deutlich: Der deutsche Gesetzgeber ist, was die Zielsetzung und die Zwecksetzung der Speicherung anlangt, weit über das hinausgegangen, was mit der Richtlinie intendiert war.

    Die Richtlinie hatte die Vorratsdatenspeicherung den Mitgliedsstaaten aufgegeben zum Zwecke der Verfolgung schwerer Straftaten. Im Hintergrund stand wieder die effektive Terrorismusbekämpfung. Und der deutsche Gesetzgeber ist darüber weit hinausgegangen. Er hat nicht nur wegen der Verfolgung schwerer Straftaten, sondern auch wegen weiterer Straftaten die Verwendung gespeicherter Daten zugelassen, zum Beispiel für alle Straftaten, die mittels Telekommunikation begangen werden. Das kann heutzutage ja geradezu jede Straftat sein, auch die der - wie ich mal sage - geringeren oder mittleren Kriminalität.

    Also, eine Begrenzung auf die schweren Straftaten ist im deutschen Recht gerade nicht vorgesehen gewesen. Und zum Zweiten sind auch die Verwendungen zu polizeilichen Zwecken und zu Zwecken der Nachrichtendienste vorgesehen gewesen - alles Verwendungszwecke, die in der Richtlinie überhaupt gar nicht anklingen.

    Also, man muss schon sagen, der deutsche Gesetzgeber ist insoweit, und zwar in einem sehr beachtlichen Umfang, über die Richtlinie hinausgegangen. Und deshalb hat das Bundesverfassungsgericht auch feststellen können, dass die Richtlinie gemeinschaftsrechtlich korrekt umgesetzt hätte werden können, aber unter gleichzeitiger Wahrung des Grundgesetzes.

    Deshalb ist das deutsche Gesetz aufgehoben worden wegen Verfassungswidrigkeit, und es ist zugleich gesagt worden: Auf die Frage der Gültigkeit der Richtlinie und ihres eventuellen Vorrangs vor dem deutschen Recht, insbesondere auch vor dem deutschen Verfassungsrecht, kommt es nicht an.

    Detjen: Sie haben eben noch mal angesprochen die Gefahr des Missbrauchs von Daten durch Polizei, durch Verfassungsschutzbehörden, also durch den Staat. Ist der Datenschutz oder das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das das Bundesverfassungsgericht 1983 aus der Taufe gehoben hat in seinem Volkszählungsurteil, heute tatsächlich noch am meisten durch den Staat bedroht, oder nicht viel mehr durch Unternehmen wie Google oder durch Menschen selbst, die sich in sozialen Netzwerken wie Facebook und anderen Internetforen freiwillig selbst entblößen und alle ihres Datenschutzes berauben?

    Papier: Das Grundrecht auf Schutz der informationellen Selbstbestimmung ist in der Tat zu einem ganz beachtlichen Teil heute bedroht durch Dritte, durch Private, durch Unternehmungen und nicht durch den Staat. Ich will nicht sagen, dass die Freiheitsrechte allgemein und speziell dieses Grundrecht des Datenschutzes nur noch von privater Hand bedroht wird. Das ist nicht so festzustellen, sondern die Grundrechte haben nach wie vor ihre Bedeutung als Freiheitsrechte gegenüber staatlichen Eingriffen und staatlichen Übergriffen. Die Bedeutung, das ist die klassische Bedeutung der Freiheitsrechte, ist nach wie vor wichtig und immens und wird auch nach wie vor vom Bundesverfassungsgericht durchgesetzt.

    Aber es ist völlig richtig, dass dieses Grundrecht heute zu einem erheblichen Teil gar nicht durch den Staat, sondern durch private Organisationen, durch private Unternehmungen, ja durch Zivilpersonen im gesellschaftlichen Bereich bedroht werden und zum Teil, das muss man auch sagen, nicht ganz ohne Mitwirkung, nicht ganz ohne Verschulden der betroffenen Grundrechtsträger selbst, weil diese zu freimütig, zu freigiebig ihre persönlichen Daten preisgeben und sich dann im Grunde nicht wundern müssen, wenn mit diesen Daten dann allerhand Missbrauch getrieben wird.

    Der Staat hat wie bei den Freiheitsrechten, die körperliche Unversehrtheit, das Leben oder die Gesundheit schützen, auch hier beim Grundrecht auf Datenschutz eine Schutzverpflichtung. Der Gesetzgeber hat für ein hinreichendes Maß an Schutz der Bürger in ihren Grundrechten zu sorgen, auch so weit die Gefährdungen von dritter Seite erfolgen. Hier ist in der Tat der Gesetzgeber gerufen und gefordert. Aber ich muss noch mal sagen, auch der einzelne Freiheitsträger, Grundrechtsträger trägt ein hohes Maß an Selbstverantwortung.

    Detjen: Also eine Ermunterung des scheidenden Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier im Deutschlandfunk im Interview der Woche.

    Zu Beginn Ihrer Amtszeit vor zwölf Jahren, Herr Professor Papier, haben Sie angekündigt - zumindest habe ich Sie damals immer so verstanden -, sich mit politischen Äußerungen außerhalb Ihrer richterlichen Entscheidungen eher zurück zu halten.

    Wenn ich das richtig beobachtet habe, haben Sie diese Zurückhaltung irgendwann aufgegeben. Sie haben sich immer wieder sehr politisch geäußert. Wie politisch haben Sie das Amt des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts verstanden?

    Papier: Man muss nun unterscheiden. Der Begriff politisch ist mir ein wenig zu allgemein. Es ist ein ehernes Gesetz, dass sich Richter des Bundesverfassungsgerichts und auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes nicht in tagespolitische Fragen einmischen.

    Detjen: Aber Sie haben, wenn ich jetzt einfach mal zitieren darf, in Reden, in Interviews, ohne dass das jetzt einen konkreten Zusammenhang zu Verfahren hatte, Reformen der deutschen Gesellschaftsordnung - Zitat – "an Haupt und Gliedern" gefordert. Sie haben sich eingesetzt für eine Verlängerung der Wahlperiode des Bundestages, für die Stärkung der Persönlichkeitswahl in unserer Demokratie, für - noch einmal ein Zitat - eine grundlegende Neugliederung des Bundesgebiets, für eine Ersetzung des Bundesrates durch einen Senat nach amerikanischem Vorbild. Das sind ja sehr politische Äußerungen.

    Papier: Verfassungspolitische, keine tagespolitischen Dinge. Darauf lege ich schon Wert. Es ist ein Unterschied, ob sich ein Träger eines öffentlichen Amtes äußert zur Frage der Erhöhung der Mehrwertsteuer, zur Senkung eines Mehrwertsteuersatzes, zur Frage des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan und dergleichen mehr. Das sind tagespolitische Fragen, die auch im parteipolitischen Dialog stehen und über die es parteipolitische Auseinandersetzungen geben kann. Dazu werden Sie keine Äußerungen eines Richters des Bundesverfassungsgerichtes finden.

    Aber zu Fragen der grundlegenden Verfassungspolitik, zu der Frage, ist unsere Verfassung in bestimmten Teilen revisionsbedürftig - Verfassung steht in der Zeit, sie darf nicht hektischen Veränderungen unterliegen, das ist klar. Sie darf nicht modischen Zeitströmungen ausgesetzt sein, aber sie muss auch reagieren können auf veränderte politische und gesellschaftliche Verhältnisse. Dies zu beobachten und dies gegebenenfalls zu analysieren, ist für meine Begriffe eines der zentralen Aufgaben eines Trägers eines öffentlichen Amtes, das sich mit dem Verfassungsrecht beschäftigt.

    Ich sehe darin eine ganz wichtige Funktion, auch des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, auf Entwicklungen und gegebenenfalls Fehlentwicklungen in dem verfassungspolitischen Prozess einzugehen. Also, es ging, wie Sie ja anhand der von Ihnen vorgestellten Themen unschwer feststellen können, nicht um Fragen der Parteipolitik, der Tagespolitik, sondern es ging um Fragen der grundlegenden Entwicklung unserer Verfassung und Verfassungspolitik. Und da, meine ich, sind nur wenige so berufen wie gerade etwa auch diejenigen Amtsträger, die sich mit der Verfassung täglich beschäftigen.

    Detjen: Aber die Themen, die Sie angesprochen haben, grundlegende Föderalismusreform, Neukonstruktion des Parlamentarismus mit einer neuartigen zweiten Kammer des Parlaments, einem Senat, das sind ja nicht Teilbereiche. Das wäre doch eine Totalrevision des Grundgesetzes, so wie wir es heute kennen.

    Papier: Nein, das wäre keine Totalrevision. Das wären sicherlich wichtige organisationsrechtliche Verschiebungen, das ist schon richtig. Aber die zentralen Säulen unserer Verfassung sind das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, die Verbürgungen der Freiheitsrechte oder durch die Freiheitsrechte, das Sozialstaatsprinzip, all das ist von diesen Themen nicht berührt.

    Es ging im Wesentlichen um die föderale, um die bundesstaatliche Ordnung Deutschlands. Und allein der Umstand, dass in den letzten Jahren zwei Föderalismusreformen in Angriff genommen wurden, zwei Kommissionen eingesetzt wurden…

    Detjen: Ohne sich auch nur annähernd so intensiv zu Ergebnissen durchgerungen haben, wie es ihnen vorschweben würde.

    Papier: Zum Teil, ja. Das bezieht sich im Wesentlichen jetzt auf die Reform der Finanzverfassung durch die Föderalismusreform II, die ist in der Tat relativ knapp bemessen gewesen. Sie bezieht sich im Wesentlichen auf die Einführung einer rigiden oder rigideren Schuldenbremse.

    Was ich aber nicht nur als Präsident, sondern was auch das Bundesverfassungsgericht als solches gefordert hatte in einer Entscheidung des Zweiten Senats, die Schuldengrenze rigider auszugestalten in der Verfassung - also kurzum, es geht darum, auf dieser seit Jahrzehnten eigentlich zu beobachtenden Großbaustelle Bundesstaatlichkeit eine zeitgemäße Revision zu erörtern. Das halte ich für wichtig.

    Die Bundesstaatlichkeit ist das Element des Grundgesetzes, das sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker als revisionsbedürftig erwiesen hat.

    Detjen: Das politische System hat sich aber gerade in diesem Punkt, im Kern der Gliederung des Bundesgebietes, im Kern des Föderalismus eigentlich immer wieder als reformunfähig erwiesen. Was müsste sich ändern, damit man in diesem politischen System mit den Besitzstandsinteressen, mit den Verkrustungen, die es da gibt, wirklich zu einem solchen Punkt käme, über eine grundlegende Neugestaltung des Föderalismus nachzudenken?

    Papier: Es hat ja über die Föderalismusreform I auf der staatsrechtlichen Ebene schon einige Veränderungen gegeben, die das Ziel verfolgten, die Eigenstaatlichkeit der Bundesländer zu stärken.

    Die Bundesländer haben in verstärktem Maße Gesetzgebungszuständigkeiten gewissermaßen zurück erhalten, zulasten des Bundes. Nun kann man drüber streiten, ob das in hinreichendem Maße der Fall ist, oder ob man gerade die richtigen Materien den Ländern zurückgegeben hat oder ob man das vielleicht lieber auf anderen Gebieten hätte machen sollen. Aber die Tendenz war schon vorhanden, die Zielrichtung stimmte schon.

    Ich will jetzt die Föderalismusreform I hier nicht im Einzelnen bewerten, aber in der Zielsetzung war sie schon in Ordnung. Bei der Föderalismusreform II, die ja ursprünglich die gesamte Finanzverfassung, die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern und der Länder untereinander in Angriff nehmen sollte oder hier über Reformen nachdenken sollte, die ist ja im Großen und Ganzen stehen geblieben bei der Einführung der Verschuldensbremse, der Verschuldensbegrenzung, was ja auch wichtig ist.

    Ich halte das für eine ausgesprochen wichtige Tat des Verfassungsreformgesetzgebers, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in Bund und Ländern einer strikteren verfassungsrechtlichen Grenze zu unterstellen. Das ist ganz wichtig und wir werden sehen, welche Folgen das in den nächsten Jahren haben wird.

    Detjen: Herr Professor Papier, das Bundesverfassungsgericht hat sich, und zwar schon vor Ihrer Amtszeit, in verschiedenen Grundsatzentscheidungen immer wieder mit den Fragen der Parteienfinanzierung beschäftigen müssen.

    Die jetzigen Diskussionen um die Sponsoringpraxis der CDU in Nordrhein-Westfalen und in Sachsen zeigen, dass es da noch viele offene, ungeklärte Fragen gibt. Darf eine Partei ein Geschäft damit machen, dass sie Gesprächszeiten mit dem Ministerpräsident verkauft?

    Papier: Also, wir haben eben darüber gesprochen, dass der Richter des Bundesverfassungsgerichts - und auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes - sich nicht in tagespolitische Fragen einmischen sollte. Und das will ich hier gerade bei dem Thema, das jetzt sehr stark den parteipolitischen Diskurs bestimmt…

    Detjen: Dann lassen Sie mich die Frage noch mal auf eine etwas abstraktere Ebene heben. Die vom Bundespräsidenten eingesetzte Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung hat nach der CDU-Parteispendenaffäre 2001 gesagt, gerade in diesem Bereich der Sponsoringpraxis, mit der wir uns jetzt beschäftigen, gäbe es Regelungsbedarf und den Gesetzgeber zu Regelungen aufgefordert. Sollte man das jetzt noch mal neu beherzigen, bevor der Fall dann bei Ihrem Nachfolger in Karlsruhe landet?

    Papier: Das kann ich so auf Anhieb nicht beurteilen. Ich weiß, dass der Bundestagspräsident selbst sich dahin geäußert hat, dass man das prüfen müsse, ob ein Ergänzungsbedarf auf gesetzlicher Ebene besteht.

    Ich würde mal sagen, auf der politischen Ebene sollte es dann auch bleiben und ich möchte mich da im Augenblick nicht in diese Überlegungen gewissermaßen vorgreiflich einmischen.

    Detjen: Vielleicht können Sie das dann in wenigen Tagen tun, wenn Sie in die Freiheit entlassen sind, in der man ist, wenn man nicht mehr Präsident des Bundesverfassungsgerichts ist.

    Herr Professor Papier, das war nicht das Einzige, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit das letzte Interview, das Sie uns als Präsident des Bundesverfassungsgerichts gegeben haben. Vielen Dank.