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EU-Waisen in Rumänien
Allein gelassen

Eine große Einwanderungswelle aus Bulgarien und Rumänien erwarten Experten nach dem Wegfall der EU-Jobschranken nicht. Denn wer Arbeit sucht, ist ohnehin längst im Westen. Zurück bleiben die Alten - und die Kinder. Viele der Alleingelassenen landen im Kinderheim.

Von Manfred Götzke und Leila Knüppel | 02.01.2014
    Am Busbahnhof der bulgarischen Hauptstadt Sofia besteigen am 1. Januar 2014 Leute einen Bus nach London über Deutschland und Frankreich.
    Ein Bus nach London im Zentrum von Sofia: Seit dem Jahreswechsel können Bulgaren und Rumänen in jedem EU-Land arbeiten (AFP PHOTO / NIKOLAY DOYCHINOV)
    Im Gemeinschaftsraum des Kinderheims „Stern der Hoffnung“ im westrumänischen Alba Iulia geht es lebhaft zu. Die Schule ist aus und einige Kinder lümmeln auf dem Sofa, schauen eine Fernsehserie. Die 13-jährige Christiana Moldovan und ihr Tanzpartner Marcel lassen sich davon nicht irritieren – sie üben Cha-Cha-Cha. Allerdings ohne Musik, um die anderen nicht zu stören. Mit zwei Monaten kam Chistiana ins Kinderheim. Ihre Mutter hatte sie damals hier abgegeben - mit dem Versprechen, sie bald abzuholen. Erst neun Jahre später meldete sie sich wieder. „Meine Mama lebt inzwischen in Spanien mit meiner Oma und meiner Schwester. Ich weiß nicht allzu viel über sie, nur, dass sie in einem Tattoo-Studio arbeitet.“
    Acht von 40 Kindern im Heim sind sogenannten EU-Waisen. Kinder, deren Eltern im Ausland leben und arbeiten. Sie sind die eigentlichen Verlierer der großen Auswanderungswelle in Rumänien, sagt Heimleiterin Sybille Hüttemann-Boca. "Wir kennen viele Leute, wo die Eltern die Kinder in den Wohnungen allein gelassen haben. Die werden dann von den Nachbarn hin und wieder, die gucken dann nach, ob die noch was zu essen haben oder ob es noch irgendwie geht.“Während die Heimleiterin erzählt, schaut sie immer wieder auf die Uhr. Sie muss noch eine Menge erledigen. Auf ihrem Schreibtisch liegen Formulare vom rumänischen Jugendamt, Briefe von Spendern und Rechnungen.Kurz nach der Wende war die gelernte Kinderkrankenschwester aus Deutschland nach Rumänien gekommen, um sich um obdachlose und drogenabhängige Jugendliche zu kümmern. Seitdem werden in ihrem Heim immer wieder Kinder abgegeben, deren Eltern ins Ausland gegangen sind. „Wenn in eine Mama, ein Papa einfach wegfährt, nach Spanien, und die Kinder können das gar nicht begreifen, warum. Den können wir auch nicht erklären von wegen aus finanziellen Gründen. Die sind einfach weg und kommen auch nicht wieder. Dann ist das für ein Kind natürlich ganz schrecklich.“Wie viele dieser EU-Waisen in Rumänien leben, weiß keiner genau. 2008 ging UNICEF von 350.000 Kindern aus. Einige der alleingelassenen brechen die Schule ab, andere werden depressiv oder nehmen Drogen, rutschen in die Kriminalität ab – obwohl die Eltern jeden Monat mehrere Hundert Euro überweisen. Manche fühlen sich so einsam und alleingelassen, dass sie sich das Leben nehmen. „Das Phänomen ist natürlich bekannt, dem Jugendamt auch bekannt. Natürlich. Aber es wird eigentlich so hingenommen.“2,5 Millionen Rumänen leben im AuslandWer durch rumänische Dörfer fährt, sieht überall die Folgen der Migration: Neben den traditionellen Holzhäuschen wachsen moderne Villen empor. Gebaut mit dem Geld aus dem Ausland. Doch abends bleiben die Fenster der meisten Häuser dunkel. In vielen rumänischen Dörfern leben nur noch Alte und Kinder, sagt Gabor Hunya. Er untersucht am „Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche“ die Migrationsströme in Europa. „Da hat sich in vielen Ortschaften eingependelt, dass ein Drittel der arbeitsfähigen im Ausland sind. Und nach ein paar Monaten gehen die zurück und die nächste Gruppe im Dorf geht hin. Also in diesen ländlichen Räumen ist das eigentlich schon ein richtiger Bestandteil des Lebens geworden. Es ist eine Symbiose mit der Migration.“Etwa 2,5 Millionen Rumänen arbeiten in anderen EU-Ländern – etwa jeder Achte. In Spanien oder Italien schuften sie als Saisonkräfte in der Landwirtschaft, putzen Hotelzimmer oder pflegen alte Menschen in Privathaushalten.Denn in Rumänien kommt man mit dem durchschnittlichen Bruttomonatslohn von knapp 500 Euro nicht weit. Zumal die Preise für Lebensmittel, Strom und Gas westliches Niveau erreicht haben. Ohne Geld aus dem Ausland und Nahrungsmittel aus eigenem Anbau könnten viele Rumänen kaum überleben.„Das ist meine Schwester mit meinem Onkel. Und das bin ich, als sie hier waren.“ Die 13-jährige Christiana hat sich im Büro des Kinderheims an den Rechner gesetzt und zeigt Bilder von ihrer Mutter, die in Spanien eine neue Familie gegründet hat. Ab und zu schreibt sie Christiana noch über Facebook. „Sie fragt mich, wie es hier im Heim ist. Ich sage, es gefällt mir hier gut. Ich vermisse sie. Dieses Jahr hat sie mich besucht, im September, das erste Mal seit neun Jahren.“Heimleiterin Hüttemann-Boca hat sich hinter Christiana gestellt schaut sich ihre Facebook-Fotos an: Auf den Bildern habe sich Christiana viel zu stark geschminkt, schimpft sie – genau wie eine Mutter mit ihrer pubertierenden Tochter. Vor allem aber empört sie der Besuch von Christianas Mutter. „Die hat Christiana eine Barbiepuppe mitgebracht, Schokolade und ein paar schöne Sachen aus Spanien. Und für die war das dann wohl irgendwie erledigt. Sie hat gedacht, mein Kind nimmt mich mit offenen Armen auf. und das war es.“ Christiana schweigt dazu. Dass ihre Mutter sie irgendwann abholen und zu sich nehmen wird, daran glaubt sie auch nicht mehr. Anfangs musste sie deswegen oft weinen, mittlerweile gibt sie sich abgeklärt. „Ich weiß nicht, ob sie zurückkommt. Sie hat es mir versprochen, aber ist nicht gekommen. Naja, mir gefällt es hier und vielleicht ist es auch besser, dass sie mich hier gelassen hat. Vielleicht wäre es in Spanien … Ich weiß nicht. Vielleicht könnte ich da nicht mal tanzen, wenn ich da leben würde.“