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Eugène Ysaÿe - Sonates pour violon solo

Wir bleiben innerhalb der Frankophonie und auch bei ECM; der Geiger Thomas Zehetmair hat bei diesem Label die sechs Sonaten für Violine solo von Eugène Ysaÿe eingespielt. Zehetmair steht ein wenig in dem Ruf, der Salzburger Nigel Kennedy zu sein, wobei er unzweifelhaft der sehr viel bessere Geiger ist. In Wahrheit ist er auch sehr viel sperriger als Kennedy, und seine Eigenwilligkeiten entspringen in erster Linie einem sehr konsequenten musikalischen Denken und weniger marktpolitischen Überlegungen.

    Nun sind die Sonaten zwar von Ysaÿe, aber jede von ihnen ist einem anderen Kollegen des großen Belgiers gewidmet. Das schlägt sich sowohl in den musikalischen Gestalten wie in der Faktur nieder. Ein Geiger wie Frank Peter Zimmermann verstand es vor etlichen Jahren, den Charakter eines Joseph Szigeti oder eines Fritz Kreisler durch die jeweilige Sonate hindurchscheinen zu lassen. Damit hat Zehetmair offenbar wenig im Sinn. Er ist auch von der bestechenden Noblesse einer Mirijam Contzen Äonen entfernt. Die bringt den Ysaÿe auf den Begriff der Varga’schen Violinenkosmologie, und plötzlich klingt alles wie aus einer anderen Welt. Zehetmair ist diesseitig, und das Diesseits besteht aus einem Leben am Abgrund. Er ist auch nicht eigentlich ein Erzähler, und so etwas wie eine Ballade, also die dritte Sonate, die Ysaÿe für Enescu schrieb, ist in seinen Ohren doch wohl eher pfui und igitt; Zehetmair kann damit jedenfalls relativ wenig anfangen. Der lineare Erzählton liegt offenkundig etwas außerhalb seiner Interessensphäre. Man muss ihn - sagen wir - mit den Rosenkranzsonaten eines Heinrich Ignaz Franz von Biber gehört haben, um zu wissen, dass dieser Geiger auf den vier Saiten, die ihm zur Verfügung stehen, vorwiegend Fraktur redet.

    Zehetmair spielt, wenn diese Bemerkung gestattet ist, Geige im Zeitalter nach Jimi Hendrix. Und da bedauert man es schon ein wenig, dass Eugene Ysaÿe seine zweite Sonate in a-moll nur über das in Salzburg seit Jahrhunderten geläufige "Dies irae" geschrieben hat und nicht beispielsweise über die amerikanische oder wenigstens die österreichische Nationalhymne. Packend ist das alles in hohem Maß, und zwar vom Grave der 1. Sonate in g-moll bis zur abschließenden einsätzigen 6. Sonate in E-dur - mit der kleinen Einschränkung, dass Zehetmair eben kein enescuesker Balladensänger ist. Da werden Doppelgriffe bis zum Geräusch getrieben, und die Akzente sind gelegentlich von einer physischen Gewalt, dass man um den Bestand des Instruments fürchten möchte. Der Bestand der Intonation ist in solchen Momenten ohnehin nicht immer gewährleistet. Ysaÿe extrem also - aber der Gute war in seinem Innern ja wohl nicht ganz so gemütlich, wie die äußere Verklärung ihn immer erscheinen lässt. Aus der zweiten Sonate die ersten beiden Sätze, obsession und malinconia, und noch der Beginn des dritten Satzes, des Schattentanzes.

    • Musikbeispiel: Eugène Ysaÿe - Ausschnitt aus der Sonate Nr. 2 a-moll für Violine solo

    Das war Thomas Zehetmair mit einem Ausschnitt aus der Sonate Nr. 2 a-moll für Violine solo von Eugène Ysaÿe. Auch diese CD mit allen sechs Solosonaten von Ysaÿe ist bei ECM erschienen. Das heißt: hier wie im Fall der französischen Klaviermusik mit Alexander Lonquich gibt’s jeweils auch höchst lesenswerte Essays im Booklet, wobei Peter Cossé über Lonquich, Fauré und Ravel vielleicht ein paar Stil-Koloraturen zu viel geschrieben hat - sein Kollege Paul Griffith, der den englischsprachigen Essay zum Thema Ysaÿe verfasste, lässt einen die Vorteile des angelsächsischen Idioms genießen: Subjekt - Prädikat - Objekt. Das war’s für heute in der neuen Platte im Deutschlandfunk. Am Mikrofon bedankt sich Norbert Ely für Ihre Aufmerksamkeit.

    CD 2:
    Titel: "Eugène Ysaÿe - Sonates pour violon solo"
    Solist: Thomas Zehetmair, Violine
    Label: ECM
    Labelcode: LC 02516
    Bestell-Nr.: 1835 (4726872)