Europa als Transmissionsriemen der Globalisierung?

Mit einer künftigen EU-Verfassung sind viele Wünsche und Befürchtungen verbunden sind. Wo das gegnerische Lager besonders gut hörbar ist, etwa in Frankreich oder den Niederlanden, sind auch immer wieder die gleichen Argumente zu vernehmen. Eines der häufigsten lautet: Die EU-Verfassung fördere den Neoliberalismus. Ist dieser Vorwurf berechtigt? Dieser Frage ist Peter Kapern nachgegangen.

    Laut und bunt zog der Menschenstrom durch Europas Hauptstadt Brüssel. 50.000 Gewerkschafter waren es, die Mitte März für eine soziale Europäische Union demonstrierten:

    " Wir brauchen eine Sozialpolitik in Europa. Wir brauchen Politik, der wir vertrauen können. Sonst brauchen wir keine Europäische Union."

    Sie demonstrierten gegen die Dienstleistungsrichtlinie, die mittlerweile in den Papierkörben der Kommissionsbeamten gelandet ist. Aber es ging den Demonstranten um mehr: Sie wollten ihrem Unmut Luft verschaffen, ihrem Unmut über Massenarbeitslosigkeit und über den sozialen Abstieg, von dem sie sich bedroht fühlen. Und vielen ging es auch um einen Protest gegen die Europäische Verfassung, in der ihrer Auffassung nach zu viel die Rede ist von Wettbewerb und Liberalisierung und zu wenig über Mechanismen, die die kleinen Leute vor dem rauen Wind des Freien Marktes schützen.

    Neoliberalismus - das ist einer der zentralen Vorwürfe der Verfassungsgegner in allen EU-Staaten. Und die haben auch Fürsprecher im Europaparlament. Zum Beispiel Tobias Pflüger:

    " In diesem EU-Verfassungsvertrag wird die bisherige Wirtschaftspolitik der EU, die ja jetzt schon sehr neoliberal ist, quasi auf Verfassungsebene gehoben. Und es gibt diese berühmt, berüchtigte Formulierung, dass eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb festgeschrieben wird. Bisher war das offen, hätte man auch verschiedenen Wirtschaftsmodelle durchführen können im Bereich der Europäischen Union. Jetzt mit diesem Verfassungsvertrag wird dann eine bestimmte Art und Weise, Wirtschaftspolitik zu machen, in Verfassungsrang erhoben."

    Tobias Pflüger ist als Parteiloser über die Liste der PDS ins Europaparlament gekommen. Mit seiner Argumentation trifft er unter seinen Abgeordnetenkollegen auf massiven Widerspruch. Beispielsweise bei Martin Schulz, dem Fraktionsvorsitzenden der Sozialisten:

    " Es gibt viele Argumente, die man gegen die Verfassung hört. Das gehört zum Dümmsten, was ich bislang gehört habe. Diese Verfassung verpflichtet zum ersten Mal in der Geschichte der Verträge in Europa die europäischen Institutionen zur horizontalen Sozialstaatlichkeit - also dem liberalen Modell wird zum ersten Mal ein Sozialmodell hinzugefügt."

    Die Ursprungsidee des Europäischen Einigungsprozesses war es, die nationalen Volkswirtschaften Schritt für Schritt zu verflechten, um durch diese Integration Konflikte, die zu oft blutig ausgetragen worden waren, abzubauen. Deshalb finden sich der Binnenmarkt und der Freie Wettbewerb auch als Kerngedanken in der Europäischen Verfassung wieder. Aber: Die Zielsetzungen der Verfassung gehen, was die soziale Komponente der Marktwirtschaft angeht, deutlich über das hinaus, was bislang in den europäischen Verträgen verankert war:

    " Im Bereich der Sozialpolitik geht diese Verfassung weiter als der Vertrag von Nizza es ermöglicht. Und im Übrigen sind die Fragen, die bei der Zielsetzung der Union genannt wurden: Vollbeschäftigung, die Frage des sozialen Ausgleichs, der Nicht-Diskriminierung - all das ist in der Verfassung festgelegt, sehr viel besser festgelegt, als dies bisher im Vertrag ist."

    So Elmar Brok, der für die Christdemokraten im Verfassungskonvent saß. Insbesondere im zweiten Abschnitt der Verfassung sind viele Rechte verbrieft, auf die sich europäische Arbeitnehmer berufen können. Rechte, die alle europäischen Institutionen bei ihrer Arbeit beachten müssen, falls die Verfassung je in Kraft tritt. Der zweite Abschnitt - das ist die so genannte Grundrechte-Charta, die vor gar nicht langer Zeit vom europäischen Gewerkschaftslager massiv unterstützt worden ist, wie sich Martin Schulz erinnert:

    " Die Grundrechte-Charta sichert alle Arbeitnehmerrechte, die in Europa in den Mitgliedsstaaten existieren, auf europäischer Ebene ab. So schnell vergisst man, warum die Gewerkschaften in Europa vor einigen Jahren zu einer Großdemonstration für die Grundrechte-Charta in Brüssel aufgerufen haben. Kann sich kaum noch einer dran erinnern. Da ich da war, weiß ich das noch: Da waren 150.000 Gewerkschaftler."

    In der Grundrechte-Charta ist das Recht von Arbeitnehmern festgeschrieben, sich gewerkschaftlich zu organisieren und zu streiken. Sie gibt jedem das Recht auf Zugang zu einer Arbeitsvermittlung und auf Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung. Die Charta sichert Arbeitnehmern gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen zu und regelt - ganz ähnlich dem deutschen Grundgesetz die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Von all diesen Dingen findet sich nichts im Verrag von Nizza, der die Rechtgrundlage der EU bleibt, falls die Verfassung nicht ratifiziert wird. Verfassungsgegner aber verweisen auf eine Formulierung in der Grundrechte-Charta, die sie für unzureichend halten. Dort steht, dass jeder EU-Bürger das Recht habe, zu arbeiten. Tobias Pflüger fordert aber, an diese Stelle das Recht auf Arbeit zusetzen:

    " Der zentrale Unterschied ist: Ein Recht auf Arbeit kann man einklagen und man kann sagen: Ich will Arbeit und verschiedene Institutionen müssen mir dabei helfen."

    Eine Fehlinterpretation, sagen die Verfassungsbefürworter. Das Recht auf diese Hilfe sei durch den Anspruch auf Arbeitsvermittlung bereits in der Verfassung verankert. Ein einklagbares Recht auf einen Arbeitsplatz, das es in keinem einzigen der 25 EU-Mitgliedstaaten gibt, wäre nicht nur unvereinbar mit der marktwirtschaftlichen Ausrichtung der EU, es wäre auch eine soziale Utopie.