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Europa als zentrales Element des Diskurses zu schwach entwickelt

Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm hat in Sachen Europa eine ganz andere Meinung als Jürgen Habermas. Er lehnt eine Verfassung für Europa ab - und begründet das in der Neuauflage seines Buches.

Von Sabine Pamperrien | 13.08.2012
    Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm bezweifelt, dass eine europäische Verfassung zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt leisten könnte, was ihre vehementen Befürworter anstreben. Sein Buch über die Zukunft der Verfassung versammelt aktuelle Aufsätze zu den verfassungsrechtlichen Aspekten von Europäisierung und Globalisierung. Als Diskussionsgrundlage stellt der ehemalige Verfassungsrichter seinen Betrachtungen einen Exkurs über die Geschichte der Verfassung voran. Dabei stellt er heraus, dass die Verfassung eine evolutionäre Errungenschaft ist.

    "Mittels der Verfassung wurde politische Herrschaft dem neuen Legitimationsprinzip der Volkssouveränität entsprechend eingerichtet und mit den Autonomie- und Harmonisierungsbedürfnissen einer funktional differenzierten Gesellschaft kompatibel gemacht."

    Der Autor gibt fünf Kriterien vor, die zwingend sind für eine Verfassung: Erstens ist die moderne Verfassung keine philosophische Theorie, sondern Recht. Zweitens ist der Zweck der Verfassungsnormen, öffentliche Gewalt zu organisieren. Drittens schließt dieses Recht für Grimm jede Art von Herrschaft aus, die außerhalb des Wirkungsbereichs der Verfassung liegt. Viertens: Nur das Volk kann die öffentliche Gewalt legitimieren. Und schließlich fünftens hat das Verfassungsrecht Vorrang vor allen anderen Rechtsquellen und macht Eingriffe unwirksam, die mit der Verfassung nicht vereinbar sind.

    Der Verfassungsstaat ist durch Europäisierung und Globalisierung jedoch von Erosion bedroht, beobachtet Grimm:

    "Öffentliche Gewalt ist nicht mehr identisch mit Staatsgewalt. Infolgedessen kann auch die Staatsverfassung ihren Anspruch, die in ihrem Geltungsbereich ausgeübte Gewalt zu regeln, nicht mehr einlösen."

    Denn Dreiviertel der heute in Deutschland geltenden Gesetze sind bereits EU-Recht. Und damit ist in vielen Bereichen die EU längst an die Stelle des Staats getreten. Zwei Fragen beschäftigen Grimm in diesem Zusammenhang: Was bleibt eigentlich von der Staatsverfassung übrig? Und: Was kann Verfassung jenseits des Staates bedeuten? Für die derzeitigen Entscheidungsstrukturen in der EU konstatiert Grimm Legitimationsdefizite – wie derzeit auch der Soziologe Jürgen Habermas, der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin und der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Grimm schreibt:

    "Von den traditionellen Staatsverfassungen unterscheidet sich die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft darin, dass sie bis heute ein völkerrechtlicher Vertrag ist. Infolgedessen geht die öffentliche Gewalt, die die Europäische Union ausübt, nicht vom Volk, sondern von den Mitgliedsstaaten aus. Sie ist nicht Ausdruck der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und wird auch von keinem Organ der Europäischen Union verantwortet, das dieses repräsentierte."

    Hauptgesetzgebungsorgan der EU ist nicht das von den Bürgern der Mitgliedsstaaten gewählte Europäische Parlament, sondern der aus den Regierungen der Mitgliedsstaaten gebildete Rat. Ob eine Übertragung der Gesetzgebungsbefugnis auf das Europäische Parlament die angestrebte Demokratisierung wirklich leisten kann, bezweifelt Grimm:

    "Die Ausstattung des europäischen Parlaments mit denselben Befugnissen wie die nationalen Parlamente würde noch nicht das eigentliche Kernproblem lösen. Europa als das zentrale Thema des Diskurses, auf den ja dann erst ein Parlament aufbauen kann, ist außerordentlich schwach entwickelt. Und es ist auch nicht sehr einfach, das zu verbessern. Und das hängt natürlich damit zusammen, dass wir es mit vielen Sprachen zu tun haben, die nicht jeder versteht, sodass der gesamteuropäische Diskurs sehr schwer zu organisieren ist. Und es hängt natürlich auch damit zusammen, dass die nationalen Kommunikationsgewohnheiten eben nationale sind und bisher keine gesamt-europäischen."

    Noch gibt es für Grimm keine gesellschaftlichen Voraussetzungen, damit Demokratie in Europa auch wirklich funktionieren kann: Jedes Land schaut – trotz europäischer Perspektiven - weiterhin vor allem auf sich selbst. Zum jetzigen Zeitpunkt - gibt Grimm zu bedenken - können institutionelle Reformen der EU sogar dazu führen, dass sich die EU ihren Bürgern noch weiter entfremdet.

    "Es ist zu befürchten, dass eine aus der Verantwortung der Mitgliedsstaaten gelöste EU sich die Legitimationszufuhr aus den Mitgliedsstaaten abschnitte, ohne anschließend auf ein ähnliches Maß an Eigenlegitimation zurückgreifen zu können. Im Ergebnis stünde sie den Unionsbürgern ferner als zuvor."

    Am Ende seiner Betrachtungen hebt Grimm den Blick von Europa und schaut hin zur Globalisierung, denn auch die hat längst weltumfassende Entwicklungen der Verrechtlichung in Gang gesetzt, die nationales Recht außer Kraft setzen. Die WTO, Weltbank und UNO sind nur einige Beispiele dafür. Es gibt ja bereits Thesen, denen zufolge Völkerrecht und Recht der supranationalen Organisationen zu einer Weltverfassung führen. Grimm widerspricht dem vehement: Auch hier fehlt die demokratische Legitimierung, schreibt er.

    "Die sich herausbildende internationale Ordnung erinnert in ihrer Pluralität unverbundener Herrschaftszentren und Rechtsquellen an vorstaatliche Zustände. Ihre Bündelung und ihre demokratische Legitimierung liegen in weiter Ferne. Der im Begriff der Verfassung enthaltene Anspruch lässt sich hier nicht einmal annähernd verwirklichen."

    Grimms Betrachtungen werden heftigen Widerspruch bei den Verfechtern von europäischer und Weltverfassung bewirken. Statt sich der verbreiteten Euphorie anzuschließen, weist ausgerechnet der Rechtsexperte gerade da Demokratiedefizite und Legitimationsprobleme nach, wo der Traum von der europäischen Integration politische Teilhabe verheißt. Statt Souveränität zugunsten Brüssels aufzugeben, will Grimm weitere Entstaatlichung verhindern. Grimm schreibt das gut verständlich und stringent in der Argumentation – ein juristisches Handbuch für jeden werdenden EU- und Welt-Bürger. Was allerdings fehlt, ist die überzeugende Bewertung eines ganz besonderen Aspekts der deutschen Verfassungsgeschichte. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes konnten anfangs auch nur darauf hoffen, dass die Bürger sich mit dem ihnen vorgesetzten Regel- und Wertekatalog identifizieren. Erst nach und nach wurde das Grundgesetz mit Leben gefüllt. Dieser Erfolg ist das unbestrittene Glanzstück der politischen Geschichte Deutschlands. Den mündigen Bürgern der EU-Mitgliedsstaaten sollte man diesen Lernprozess auch zutrauen.

    Buchinfos:
    Dieter Grimm: Die Zukunft der Verfassung II: Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung, Suhrkamp Verlag, 357 Seiten, 15 Euro, ISBN: 978-3-518-29627-1