Burkhard Müller-Ullrich: Nachdem die Politiker sich als härtnäckig Plan-B-frei erwiesen haben, bleibt das Nachdenken über Alternativen also mal wieder an den Intellektuellen hängen. Daher die Frage an Adolf Muschg: Können Sie sich ein Europa ohne Verfassung vorstellen?
Adolf Muschg: Ich denke, das Europa, das ich mir wünsche, hätte eine sehr viel knappere Verfassung, etwa in der Art der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. England hat überhaupt keine geschriebene Verfassung, es geht also auch ohne. Aber ich finde, es wäre wichtig und auch bürgernah, wenn man die Europäer auf ein paar gemeinsame Leitsätze verpflichten könnte. Das ist ein anspruchsvolles Projekt, aber es sollte nicht unmöglich sein.
Burkhard Müller-Ullrich: Jetzt hat Ihr Land, die Schweiz, gar nicht über eine europäische Verfassung abgestimmt, aber doch einen kleinen Schritt Richtung Europa getan, indem nämlich am Sonntag der Schengenvertrag, wie es immer heißt, angenommen wurde. Aber das ist ja auch kein richtiger Vertrag, sondern, besser gesagt, ein Schengenbesitzstand, der mindestens genauso unlesbar und umfangreich ist, nämlich knapp 500 Seiten, wie diese europäische Verfassung.
Adolf Muschg: Ja, sicher. Wenn man die Abstimmungspropaganda aus der Nähe betrachtet hat, ging es eigentlich um Sicherheit, das heißt zu Deutsch um Angstmache. Man kann aus Angst Ja oder Nein gestimmt haben. Das ist natürlich keine zureichende Basis für die Zugehörigkeit für Europa. Nur, denke ich, die List der Vernunft war dabei auch am Werk. Es sieht so aus, als hätte sich die Schweiz auf Europa zu bewegt, und faktisch ist es auch so. Also die Errungenschaft eines gemeinsamen, offenen Raumes, auf die konnte die Schweiz nicht verzichten.
Burkhard Müller-Ullrich: Mit unterschrieben bei der Annahme des Schengenbesitzstands haben die Schweizer implizit auch Rechtshilfe. Darüber wurde wenig gesprochen. Man möchte natürlich immer die offenen Grenzen, die Praktikabilität des Reisens, aber dahinter steckt natürlich auch etwas, was in der Schweiz für Unruhe sorgen kann, wenn die ersten direkten Rechtshilfsersuche gestellt werden, über die man gar nicht mehr zu befinden hat, ob man mit ihnen umgehen will oder nicht.
Adolf Muschg: Ja, davor hat auch die SVB, die Schweizerische Volkspartei, den Bürgern Angst zu machen versucht, die berühmten fremden Richter, die bereits im so genannten Bundesbrief von 1291 stehen. Es heißt einfach, dass man sich mit den Tatsachen arrangieren muss, und vielleicht ist das überhaupt die hoffnungsvollere Linie für den europäischen Zusammenschluss. Die Bürger müssen das Gefühl haben, Europa bringt ihnen etwas, es ist dringend nötig. Auf dieser pragmatischen Grundlage ist beispielsweise auch die Schweiz selbst geschichtlich zusammengekommen. Sie hat bis heute keine leitende Idee gehabt und sie offenbar auch nicht gebraucht.
Burkhard Müller-Ullrich: Das heißt aber doch, dass eben dieser Pragmatismus ganz gut funktioniert und das Verlangen nach Emphase, was jetzt immer in der Verfassungsdiskussion im Hintergrund steht, eigentlich überflüssig wäre.
Adolf Muschg: Vielleicht nicht ganz. Wenn die Gewohnheit sich eingebürgert hat - und das ist ja das Notwendige, nicht nur auf der Ebene der gemeinsamen Währung -, dann stellt sich auch das Bewusstsein dazu ein. Die Schweiz hat ja auch an ihren eigenen Mythen gebastelt, von Tell an abwärts. Man kann nicht auf gemeinsame Bilder, auf gemeinsame Fantasien verzichten. Ich stelle mir aber vor, dass sie nicht den Charakter einer gewissermaßen rechtskräftigen Verfassung hätten, sondern mehr den Charakter einer Präambel, einer gemeinsamen Beschlussfassung, die im tieferen Sinne kulturelle Rechtskraft besitzt.
Burkhard Müller-Ullrich: Ist die Vorstellung von Autonomie, die ja in der Schweiz eine sehr große Rolle spielt, aber auch bei den Franzosen mit ihren regionalen Käsesorten usw., ein Mythos?
Adolf Muschg: Es kommt darauf an, wie man es betrachtet. Dass der Ort und die Zeit, in der man lebt respektive an dem man lebt, von der Globalisierung entwertet wird in jedem Sinn des Wortes, nicht nur monetär, ist wohl ein Grundgefühl, das die Europäer mit vielen anderen Bewohner des Planeten teilen, und darauf gibt es auch die entsprechenden radikalen und fundamentalistischen Reaktionen. Also ich glaube, wir brauchen einen Ort, nicht nur einen Standort, der uns eine Heimat sein kann. Aber diese Heimat ist durchaus nicht nur lokal. Sie besteht aus Beziehungen, aus Erfahrungen, die man beim Reisen macht. Ich glaube, dass Europa viel vernetzter ist auf dieser Ebene, etwa auf der Ebene der Städtepartnerschaften, als jetzt sozusagen die Unkenrufe fürchten lassen. Ich glaube, dass auf dieser Basis, einerseits auf einer pragmatischen, andrerseits schon auch auf einer die Bürger etwas verpflichtenden, Europa nicht zurückzubuchstabieren ist.
Burkhard Müller-Ullrich: Vielen Dank für das Gespräch.
Adolf Muschg: Ich denke, das Europa, das ich mir wünsche, hätte eine sehr viel knappere Verfassung, etwa in der Art der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. England hat überhaupt keine geschriebene Verfassung, es geht also auch ohne. Aber ich finde, es wäre wichtig und auch bürgernah, wenn man die Europäer auf ein paar gemeinsame Leitsätze verpflichten könnte. Das ist ein anspruchsvolles Projekt, aber es sollte nicht unmöglich sein.
Burkhard Müller-Ullrich: Jetzt hat Ihr Land, die Schweiz, gar nicht über eine europäische Verfassung abgestimmt, aber doch einen kleinen Schritt Richtung Europa getan, indem nämlich am Sonntag der Schengenvertrag, wie es immer heißt, angenommen wurde. Aber das ist ja auch kein richtiger Vertrag, sondern, besser gesagt, ein Schengenbesitzstand, der mindestens genauso unlesbar und umfangreich ist, nämlich knapp 500 Seiten, wie diese europäische Verfassung.
Adolf Muschg: Ja, sicher. Wenn man die Abstimmungspropaganda aus der Nähe betrachtet hat, ging es eigentlich um Sicherheit, das heißt zu Deutsch um Angstmache. Man kann aus Angst Ja oder Nein gestimmt haben. Das ist natürlich keine zureichende Basis für die Zugehörigkeit für Europa. Nur, denke ich, die List der Vernunft war dabei auch am Werk. Es sieht so aus, als hätte sich die Schweiz auf Europa zu bewegt, und faktisch ist es auch so. Also die Errungenschaft eines gemeinsamen, offenen Raumes, auf die konnte die Schweiz nicht verzichten.
Burkhard Müller-Ullrich: Mit unterschrieben bei der Annahme des Schengenbesitzstands haben die Schweizer implizit auch Rechtshilfe. Darüber wurde wenig gesprochen. Man möchte natürlich immer die offenen Grenzen, die Praktikabilität des Reisens, aber dahinter steckt natürlich auch etwas, was in der Schweiz für Unruhe sorgen kann, wenn die ersten direkten Rechtshilfsersuche gestellt werden, über die man gar nicht mehr zu befinden hat, ob man mit ihnen umgehen will oder nicht.
Adolf Muschg: Ja, davor hat auch die SVB, die Schweizerische Volkspartei, den Bürgern Angst zu machen versucht, die berühmten fremden Richter, die bereits im so genannten Bundesbrief von 1291 stehen. Es heißt einfach, dass man sich mit den Tatsachen arrangieren muss, und vielleicht ist das überhaupt die hoffnungsvollere Linie für den europäischen Zusammenschluss. Die Bürger müssen das Gefühl haben, Europa bringt ihnen etwas, es ist dringend nötig. Auf dieser pragmatischen Grundlage ist beispielsweise auch die Schweiz selbst geschichtlich zusammengekommen. Sie hat bis heute keine leitende Idee gehabt und sie offenbar auch nicht gebraucht.
Burkhard Müller-Ullrich: Das heißt aber doch, dass eben dieser Pragmatismus ganz gut funktioniert und das Verlangen nach Emphase, was jetzt immer in der Verfassungsdiskussion im Hintergrund steht, eigentlich überflüssig wäre.
Adolf Muschg: Vielleicht nicht ganz. Wenn die Gewohnheit sich eingebürgert hat - und das ist ja das Notwendige, nicht nur auf der Ebene der gemeinsamen Währung -, dann stellt sich auch das Bewusstsein dazu ein. Die Schweiz hat ja auch an ihren eigenen Mythen gebastelt, von Tell an abwärts. Man kann nicht auf gemeinsame Bilder, auf gemeinsame Fantasien verzichten. Ich stelle mir aber vor, dass sie nicht den Charakter einer gewissermaßen rechtskräftigen Verfassung hätten, sondern mehr den Charakter einer Präambel, einer gemeinsamen Beschlussfassung, die im tieferen Sinne kulturelle Rechtskraft besitzt.
Burkhard Müller-Ullrich: Ist die Vorstellung von Autonomie, die ja in der Schweiz eine sehr große Rolle spielt, aber auch bei den Franzosen mit ihren regionalen Käsesorten usw., ein Mythos?
Adolf Muschg: Es kommt darauf an, wie man es betrachtet. Dass der Ort und die Zeit, in der man lebt respektive an dem man lebt, von der Globalisierung entwertet wird in jedem Sinn des Wortes, nicht nur monetär, ist wohl ein Grundgefühl, das die Europäer mit vielen anderen Bewohner des Planeten teilen, und darauf gibt es auch die entsprechenden radikalen und fundamentalistischen Reaktionen. Also ich glaube, wir brauchen einen Ort, nicht nur einen Standort, der uns eine Heimat sein kann. Aber diese Heimat ist durchaus nicht nur lokal. Sie besteht aus Beziehungen, aus Erfahrungen, die man beim Reisen macht. Ich glaube, dass Europa viel vernetzter ist auf dieser Ebene, etwa auf der Ebene der Städtepartnerschaften, als jetzt sozusagen die Unkenrufe fürchten lassen. Ich glaube, dass auf dieser Basis, einerseits auf einer pragmatischen, andrerseits schon auch auf einer die Bürger etwas verpflichtenden, Europa nicht zurückzubuchstabieren ist.
Burkhard Müller-Ullrich: Vielen Dank für das Gespräch.