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Europa hat gewählt
"Ein Weckruf an die Regierenden"

Die EU-Gegner haben Aufwind. Dennoch sieht der Ökonom Friedrich Heinemann im Erstarken Euro-kritischer Kräfte nicht zwangsläufig eine Gefahr für die europäische Solidarität. Angesichts von "nur sechs, sieben Prozent" für die AfD sei es ein stark proeuropäisches Wahlergebnis.

Friedrich Heinemann im Gespräch mit Birgid Becker | 26.05.2014
    Die griechische und die europäische Flagge wehen am 06.03.2014 vor dem Parlamentsgebäude in Athen. Foto: Wolfgang Kumm/dpa
    Friedrich Heinemann: "Wenn Griechenland jetzt den weiteren Reformkurs verweigert, das ist kein besonders dramatisches Ereignis aus ökonomischer Sicht." (dpa/picture-alliance/Wolfgang Kumm)
    Birgid Becker: Deutschland wählt in der Mehrheit proeuropäisch. Frankreich aber rückt nach rechts, Griechenland nach links. Wo steht Europa nach der Wahl und wie wirkt sich das Wahlergebnis aus auf den laufenden Reformprozess? Mitgehört hat Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Guten Tag.
    Friedrich Heinemann: Guten Tag.
    Becker: Ein Kernergebnis der Wahl: In Frankreich erstarkt die Rechte, in Griechenland die Linke. In beiden Seiten mit Reformdruck wachsen also Parteien, die sich diesem Reformdruck verweigern, oder ihn so nicht akzeptieren, wie das EU-seitig gewollt wird. Bedeutet das, Herr Heinemann, dass der Reformkurs verändert werden muss oder aufgeweicht werden muss?
    Heinemann: Ich denke, so kann man es eigentlich nicht interpretieren, denn es deutet im Grunde darauf hin, nehmen wir mal das französische Ergebnis, dass ganz offensichtlich diese Haltung der französischen Regierung, Passivität, die fehlenden Reformen, das hat die Wähler nicht überzeugen können. Diese große Niederlage auch für die regierenden Sozialisten ist ja eigentlich auch ein Zeichen dafür, ihr habt keine Problemlösungsfähigkeit an den Tag gelegt, und dieser Einschätzung kann man ja an sich nur zustimmen. Frankreich tut viel zu wenig. Die positive Lesart ist, das ist ein Weckruf an die Regierenden, hier eine überzeugendere Politik überhaupt erst mal in Angriff zu nehmen.
    Becker: Wie verkraftbar wäre denn ein Griechenland, das den Reformkurs verlässt, oder auch ein Frankreich, das sich Reformen womöglich gar nicht stellt?
    "Griechenland ist nicht mehr systemrelevant"
    Heinemann: Das muss man unterscheiden. Wenn Griechenland jetzt den weiteren Reformkurs verweigert, das ist kein besonders dramatisches Ereignis aus ökonomischer Sicht. Daher haben die Finanzmärkte ja auch so cool reagiert heute. Griechenland ist nicht mehr systemrelevant, wie wir es nennen würden. Die Schulden der Griechen, das sind keine Forderungen mehr, die heute Banken irgendwie noch gefährden können, weil die Banken sich ja weitgehend von diesen Forderungen getrennt haben. Das wäre für das Land sehr bedauerlich, aber es würde die Finanzmärkte nicht mehr schocken oder in Turbolenzen stoßen. Bei Frankreich liegt der Fall anders. Frankreich ist ja kein akutes Krisenland, aber leidet an so einer fortschreitenden Auszehrung und ist auf Dauer natürlich ein enormer Risikofaktor, wenn dieses große, nach Deutschland wichtigste Land der Euro-Zone nicht dann doch auf einen entschlossenen Reformkurs einschwenkt. Da kommt es darauf an, dass hier jetzt die herrschende Politik auch richtig reagiert.
    Becker: Nun könnte es ja durchaus sein, dass auch in den ökonomisch starken EU-Staaten, Deutschland vor allem, das Erstarken Euro-kritischer Kräfte politische Konsequenzen hat. In Berlin könnte ja eine erstarkte AfD die politische Reaktion nach sich ziehen, dass sehr europafreundliche Maßnahmen, Maßnahmen, die stark der europäischen Solidarität verhaftet sind, künftig weniger hoch im Kurs stehen, womöglich noch weniger. Sehen Sie das als Konsequenz?
    Heinemann: Nein, das sehe ich nicht als Konsequenz. Man darf ja nicht vergessen: Deutschland hat sich im starken Maße engagiert, bis an die Grenzen von dem, was ja viele auch gut fanden, und dennoch haben die ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Wähler, die zur Wahl gegangen sind, ja proeuropäisch gewählt. Es ist eigentlich doch erstaunlich, dass wir im Land, was ja auch im Grunde ein ganzes Stück an Risiken eingegangen ist, am Ende nur sechs, sieben Prozent für eine AfD wählen. Ich denke, das ist ein sehr stark proeuropäisches Wahlergebnis, und das ist vielleicht auch etwas, weshalb die Finanzmärkte heute so ruhig waren, dass sie sagen, aha, seht ihr, Deutschland ist ganz stabil proeuropäisch.
    Becker: Kurz vor halb sechs gucken wir auf die Reaktion der Finanzmärkte noch im Detail. Nun fällt ja, Herr Heinemann, die Wahl in eine Zeit, da die akute Krise erst einmal überwunden scheint. Es gibt nicht mehr diesen akuten Krisenmodus im politischen Handeln. Aber Ihre Einschätzung: Wie ruhig ist es denn in Europa im Moment? Wie beruhigt, ökonomisch betrachtet, ist die Lage?
    Garantien der EZB bieten Rückhalt
    Heinemann: Das ist eine Mischung. Zum einen ist die Beruhigung tatsächlich auf Fortschritte zurückzuführen. Die Krisenländer, Irland, Portugal, Spanien, haben viel gemacht. Zum anderen ist es aber auch natürlich zugedeckt mit den Garantien der Europäischen Zentralbank, und hier ist ein Risikofaktor das anstehende Urteil des Europäischen Gerichtshofs über die EZB-Stützungsmaßnahmen, dieses berühmte OMT-Programm. Hier ist damit zu rechnen, dass das Programm stark eingeschränkt wird, und wenn das ein sehr weitgehendes Urteil würde, dann könnte das die Märkte erschüttern. Das zweite Risiko wäre, wenn eines der Krisenländer, mal abgesehen von Griechenland, Spanien oder Portugal, jetzt den Reformkonsens aufkündigen würde. Das wäre auch sehr gefährlich, aber ist auch akut nicht abzusehen.
    Becker: Danke! Einschätzungen waren das von Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Ihnen einen schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.