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Europa ist bei der Nahost-Politik ganz vorne mit dabei

Bei der Nahost-Konferenz in Annapolis sollen die Grundlagen für die Bildung eines Palästinenser-Staates gelegt werden. Saudi-Arabien und auch Syrien werden an der Nahost-Konferenz teilnehmen, obwohl beide Staaten keine diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhalten. Auch die Europäische Union ist dabei, doch welche Rolle nimmt sie in diesem Konflikt ein? Die Europakolumne von Victor Kocher, Nahostkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung".

    Letzte Woche taten sich europäische Außenminister in Beirut beim präsidialen Krisenmanagement hervor, der britische Ex-Premierminister Blair stellte große Wiederaufbaupläne für die palästinensischen Autonomiegebiete vor, und der EU-Chefdiplomat Solana kündigte für Ende November weitere Atomverhandlungen mit Iran an. Europa, so scheint es, ist in der Nahostpolitik ganz vorne mit dabei.

    Doch die Libanesen haben sich dann doch an Amerika gehalten. Sie schoben lieber die Wahl eines neuen Präsidenten bis in ein Machtvakuum hinaus, um den mässigenden Einfluss der Nahostkonferenz von Annapolis auf die Syrer abzuwarten. Der gemeinsame Beiruter Auftritt der Aussenminister von Frankreich, Italien und Spanien, die sich mühsam nebeneinander auf ein Sofa zwängten, gibt eher zu denken. Das Ministertrio wollte nämlich in Libanon nicht etwa einem Staatsoberhaupt oder Regierungschef ins Gewissen reden, sondern lediglich dem selbstherrlichen Parlamentarier Michel Aoun. Und erhört hat der sie auch nur in bescheidenem Masse und viel zu spät.

    Solanas Bemühen in Iran um eine Einbindung von Präsident Ahmadinejads Nuklearprogrammen steckt auch eher im Tiefkühler. Als nämlich die Iraner erkannten, dass Europa auf die amerikanische Sanktionenpolitik mit Hilfe des Uno-Sicherheitsrates einschwenkte, öffneten sie die Arme wieder für die internationale Atomenergieagentur IAEA. Sie übergaben deren Generaldirektor Baradei Schätze aus ihrer Giftschublade, nämlich Skizzen für Bestandteile einer nicht existierenden Atombombe. Dafür handelten sie sich einen eher lobenden Bericht der Agentur für den Sicherheitsrat ein - mithin ein Instrument im Ringen mit Amerika, nicht mit Europa.

    Was ist denn die Rolle des Alten Kontinents im benachbarten Nahen Osten? Auf dem Höhepunkt des zweiten Palästinenseraufstands klagte mancher arabische Kommentator sinngemäss: Die Israeli zerstören mit ihren Panzern und Kampfbombern das palästinensische Gemeinwesen, und die Europäer bauen hinterher die Infrastruktur wieder auf. Und zu dieser Karikatur passen Blairs jüngste Pläne für Industriezonen in Hebron und Jericho sowie ein neues Abwassersystem in Gaza. Haben die Europäer auch nur für einen Tag die israelische Würgeschlinge zerschnitten, welche den ganzen Gazastreifen zu einem riesigen Elendsviertel macht? Haben sie den Bau der grossen Sperrmauer im Westjordanland aufgehalten, welche Israel nochmals zehn Prozent des Territoriums zuschlägt und deshalb vom Internationalen Gerichtshof als widerrechtlich verurteilt wurde?

    Ganz im Gegenteil liess sich die EU zusammen mit Amerika, Russland und der Uno ins sogenannte Nahost-Quartett einbinden. Und de facto führte das nicht zu einer Korrektur der selbstherrlichen, das Völkerrecht missachtenden Nahost-Strategie der Administration Bush, sondern umgekehrt. Bald schloss sich die EU den Israeli und Amerikanern an und setzte die Hamas-Bewegung auf die schwarze Liste der Terrororgruppen. Und nach dem Wahlsieg ebendieser Terroristen, der Hamas, im Januar 2006 fand sich die EU unter den Förderern einer Kollektivstrafe gegen die Palästinenser. Als sich das Gewissen doch meldete, bastelte die EU einen Hilfsmechanismus direkt für palästinensische Spitäler und Schulen, doch im Effekt sabotierte dieser genau die straffe Autonomieverwaltung, welche Europa zehn Jahre lang mit vielen Milliarden aufgepäppelt hatte. Und als die Islamisten im letzten Sommer in Gaza die Macht ergriffen, traf der sogenannte gezielte Boykott gegen die Hamas-Regierung erst recht alle Bewohner in dem Streifen.

    So brachte Europa in der sechsjährigen Eiszeit seit dem Zusammenbruch des Oslo-Friedensrozesses keine neuen Ansätze zur Verständigung zustande. Doch schliesslich haben nun die Amerikaner selbst erkannt, dass ihre Anti-Terror-Strategie, die rein polizeiliche Unterdrückung und das militärische Powerplay, den Nahen Osten nicht gefügig macht. Deshalb drängten sie zur Annapolis-Konferenz und zu neuen Verhandlungen über einen Palästinenserstaat. Die israelische Besetzung arabischen Bodens sollte dabei ein Ende finden. Denn solange diese anhält, so lautet die völkerrechtlich abgestützte Maxime der Araber, solange ist auch Widerstand gegen die Besetzung legitim, und er lässt sich nicht als Terrorismus verdammen und auch nicht ausrotten.
    Anders als in Amerika gibt es auf dem Alten Kontinent keine militärische Weltmacht. Dafür steht das alte Europa für die erprobten Werte einer internationalen Rechtsordnung und für einen geregelten Umgang unter den Staaten;