Heinlein: Herr Professor Alkan, kurz vor der Entscheidung am Freitag scheint es ja noch einmal eng zu werden für die türkischen Europa-Ambitionen. Halten Sie es für möglich, dass Brüssel Ihnen tatsächlich noch einmal kurz vor Schluss die Tür vor der Nase zu schlägt?
Alkan: Ich glaube es persönlich nicht. Ich glaube, es geht ums Taktieren und darum, dass bestimmte Staaten der Europäischen Union, Griechenland, Frankreich versuchen, noch einige Sachen heraus zu schinden. Armenien-Sachen oder wann Zypern anerkannt wird. Es ist ein reines Taktieren. Aber ich glaube nicht, dass in Brüssel am 17. etwas schief geht, es kann vielleicht sein, dass das Datum ein paar Monate vorgeschoben wird oder nachgeschoben wird aber darum soll es jetzt nicht mehr gehen. Es geht rein um die Entscheidung, dass die Türkei sobald die Beitrittsverhandlungen beginnen im Jahre 2005, denn darauf wartet die gesamte türkische Gesellschaft. Das ist ein riesengroßes Thema in der Türkei. Mittlerweile wird in der Türkei nur noch über die Europäische Union diskutiert und man kann in der Türkei niemandem mehr erklären, warum die Europäische Union "Nein" sagen sollte. Es gibt von türkischer Seite nichts mehr, was die Türkei außer Kopenhagener Kriterien machen könnte. Themen wie Zypern und wie die Armenienfrage haben nichts mit den Kopenhagener Kriterien zu tun.
Heinlein: Was ist denn für die Türken wichtiger, ein genaues, möglichst rasches Datum für den Beginn der Beitrittsverhandlungen oder die klare Definition des Ziels einer EU-Mitgliedschaft?
Alkan: Erst mal ist das genaue Datum wichtig, denn die Türkei wartet seit über 40 Jahren auf so ein Datum, wartet darauf, dass die Beitrittsverhandlungen beginnen. Es ist auch in der Türkei klar, dass wir nicht sofort Mitglied werden, wir sprechen von zehn oder zwölf Jahren. Es geht gar nicht darum, dass wir in den nächsten drei bis vier Jahren Mitglied werden wollen, können oder sollen. Es geht einfach darum, dass wir sehen, dass die Europäer zu dem stehen, was sie der Türkei versprochen haben.
Heinlein: Könnte denn die Regierung Erdogan damit leben wenn gesagt wird, wir beginnen 2005 in der ersten oder zweiten Hälfte mit Verhandlungen, was dann am Ende, in zehn bis 15 Jahren nach Abschluss der Verhandlungen dabei herauskommt, bleibt weiter offen?
Alkan: Normalerweise kann man natürlich damit leben, denn es sind ja Verhandlungen und Verhandlungen haben es an sich, dass man nicht genau weiß, wie sie enden. Es kann ja auch sein, dass nach sechs oder sieben Jahren die Türkei sagt, es tut uns leid, wir haben kein Interesse mehr. Das haben Verhandlungen ja an sich und da finde ich, dass die Türkei natürlich damit leben kann. Ich bin mir auch sicher, dass die Europäische Union ein bisschen versucht, die europäische Gesellschaft dem Thema anzunähern, indem nicht sofort von einem Beitritt gesprochen wird, sondern erst mal von Verhandlungen. Ich glaube auch, dass wir in der Türkei noch nicht von einer Mitgliedschaft sprechen sollten, darum geht es noch gar nicht, sondern rein um die Beitrittsverhandlungen. Die können ja dauern. Aber es hat doch heute noch keinen Sinn heute schon über ein Thema zu sprechen, dass in zehn oder zwölf Jahren auf uns zu kommt. Da sollte man noch nicht die Angstrolle aufbauen.
Heinlein: Was wären denn die Folgen, wenn am Freitag, also in zwei Tagen, das Verhandlungsziel, also eine Aufnahme der Türkei, nicht klar und deutlich formuliert wird und auch kein Datum genannt wird? Besteht dann tatsächlich die Gefahr, dass die eingeleiteten Reformen in Frage gestellt werden? Dass man sagt, Europa will uns jetzt nicht, wir gehen dann unseren eigenen Weg, vielleicht in Richtung Reislamisierung. Der deutsche Außenminister hat ja solche Andeutungen gemacht.
Alkan: Darf man den Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten Glauben schenken? Er spricht ja davon, wenn wir keine Kopenhagener Kriterien mehr haben, dann werden sie Ankara-Kriterien. Nach dem Motto, wenn die Europäer uns nicht wollen, dann machen wir uns für uns selber und ich habe letztens wieder gehört wie er sagt, die Kriterien sind auch für das türkische Volk wichtig, nicht, weil es die Europäer haben wollen. Das ist finde ich die ganz richtige Denkweise, denn die türkische Gesellschaft fühlt sich ein bisschen in die Ecke gedrängt nach dem Motto, die Europäer wollen und wir müssen es machen. Es geht einfach darum, dass die gesamten Werte, die die Europäer haben auch Werte sind, die für die Türken wichtig sind.
Heinlein: Was sind denn diese "Ankara-Kriterien", die dann ins Spiel kämen?
Alkan: Das ist Demokratie, das sind mehr Menschenrechte, mehr Minderheitenrechte. Die gesamten Probleme oder Rechte, die wir auch in den Kopenhagener Kriterien haben. Mehr Demokratie, mehr Rechte für den Einzelnen, mehr Minderheitenrechte, mehr Meinungsäußerungsfreiheit. Die gesamten Sachen, die wir auch in den Staaten der Europäischen Union haben. Mittlerweile ist die türkische Gesellschaft so weit, dass sie gar nicht nur Abstriche machen würde, auch wenn die Europäische Union Nein sagt, denn auch die türkische Gesellschaft hat eingesehen, dass sie die ganzen Rechte auch für sich haben will.
Heinlein: Ganz kurz zum Schluss, weil die Leitung immer schlechter wird. Hier in Deutschland hat die konservative Opposition angekündigt, sie wolle im Falle eines Wahlsieges 2006 alles unternehmen, um eine türkische Mitgliedschaft in jedem Fall zu verhindern. Wird diese Position in der Türkei wahrgenommen? Wie wird sie denn gewertet?
Alkan: Natürlich wird sie wahrgenommen. Das ist natürlich keine schöne Äußerung, gerade zu diesen Zeiten, aber es ist ja auch keine neue Äußerung. Wir hatten ja auch von der CDU die privilegierte Partnerschaft, die diskutiert wurde und jetzt wird davon gesprochen, dass das das Bundestagsthema 2006 wird. Natürlich sind das keine positiven Sachen und ich hoffe, dass die CDU sich so langsam mal dem Thema Türkei annähert und ich meine, man sollte auf beiden Seiten zu einem Dialog kommen und zu versuchen, sich zu verstehen in einem Annäherungsprozess. Die CDU ist gegen die Türkei, es leben 2,5 Millionen Türken in Deutschland, was ist dann mit diesen Menschen?
Heinlein: Der türkische Politikwissenschaftler Professor Nail Alkan heute morgen hier im Deutschlandfunk. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Ankara.
Alkan: Ich bedanke mich.