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Europa. Wir und die anderen.

Die Essay-Reihe "Europa. Wir und die anderen" gibt fünf ebenso subjektiven wie beispielhaften Betrachtungsweisen Raum. Der deutsche Rechtshistoriker Dieter Simon beleuchtet im ersten Essay die Verfassungsfrage.

Von Dieter Simon | 01.04.2007
    Die deutsche Sprache verfügt über eine Eigenschaft, die sie nur mit wenigen anderen Sprachen teilt: sie kann zusammengesetzte Substantive bilden. Dadurch ist sie in der Lage, jederzeit und nach Bedarf neue Wörter zu erzeugen.

    Häufig gelingen treffsichere Bezeichnungen, die sich sofort durchsetzen, selbstverständlich werden, ihren Benutzern als immer schon vorhanden Gewesene gelten. Manchmal entstehen Wendungen, die man wegen ihrer vielgliedrigen Schwerfälligkeit belächelt oder ob ihrer Geschmacklosigkeit ablehnt, und die nach kurzer Zeit spurlos verschwinden. Anderen Fügungen wiederum ist ein langes und aufregendes Schicksal bereitet. Zunächst schwimmen sie unauffällig im Redestrom der Zeit, unversehens erlangen sie Prominenz, verblassen wieder, tauchen ab, um mit erneuertem Inhalt wieder hochzukommen, erstarren zum geläufigen, von jedermann anders interpretierten Zitat, beschäftigen den wissenschaftsgeschichtlichen Seziertisch der Historiker, um endlich, untot, zu neuen Verwendungen aufzubrechen.

    Eine solche außergewöhnliche Schöpfung begehrte im Jahre 1959 Einlass in das Arsenal der politischen Sprache der Bundesrepublik. Sie lautete "Verfassungspatriotismus" und stammte von Dolf Sternberger, dem viel zitierten, 1989 gestorbenen Publizisten und Politikwissenschaftler.

    Erstaunlich war diese Prägung vor allem deshalb, weil ihr zweiter Teil, der "Patriotismus", zu Deutsch: die Vaterlandsliebe, eine Haltung bezeichnete, mit der die Deutschen im Allgemeinen seit 1945 erhebliche Schwierigkeiten hatten. Nicht nur, weil unter der Parole, dass es süß und ehrenvoll sei, für das geliebte Vaterland zu sterben, Millionen junger Menschen verblutet oder an Körper und Seele verstümmelt worden waren, sondern auch, weil die Welt sich einig zu sein schien, dass gerade diese missbrauchte Liebe zum Land der Väter und Mütter als heillose Quelle von Nationalismus und Chauvinismus endgültig abzudichten und zuzuschütten sei.

    Weshalb die Worte "patriotisch" und "Patriotismus" als Bezeichnung für positives Handeln gemieden wurden, und auf entsprechende Befragung sich niemand getraut hätte, zu bekunden, er sei ein Patriot.

    Die Verbindung des schlimmen Ausdrucks mit dem Substantiv "Verfassung" war zwar geeignet, die Schrecken des nackten "Patriotismus" ein wenig zu mildern. Aber der Bezug der Vaterlandsliebe auf die Verfassung blieb irritierend. Zwar hatte man sich daran gewöhnt, dass es seit acht Jahren ein Bundesverfassungsgericht gab, aber man wusste sehr genau, dass die Bundesrepublik nicht eigentlich eine Verfassung besaß. Sie hatte ein "Grundgesetz", das eben deshalb nicht Verfassung genannt worden war, weil seine Autoren mit ihrem Entwurf den Gedanken an eine nur vorläufige Ordnung verbunden hatten. Für eine endgültige, eine "richtige" Verfassung hatten sie sich nicht legitimiert gesehen - diese Verfassung sollte sich das geteilte Land und sein Staatsvolk dann geben, wenn es seine Einheit in Freiheit wieder gefunden haben würde.

    Dass dies alsbald sein würde, glaubten damals, anders als noch 10 Jahre zuvor, schon nicht mehr allzu viele. Aber dass der Tag kommen werde, war doch noch eine starke Hoffnung. Als er dann 30 Jahre später überraschend kam, waren die Hoffnungen von 1949 und 1959 zwar nicht völlig vergessen. Aber man hatte sich an das Grundgesetz gewöhnt.

    Die Vorstellung, dass es die Ordnung für eine Übergangszeit sei war verblasst zugunsten der Idee, dass man sich mit ihm erfolgreich und auf Dauer von der Vergangenheit verabschiedet habe. Das "Provisorium" war zur "Verfassung" erstarkt.

    Deshalb wurde die Frage, die gegenwärtig leidenschaftlich unter Europäern diskutiert wird: "Brauchen wir eine Verfassung?", für das erneuerte Deutschland von den Meisten mit einem entschiedenen "Nein!" beantwortet.
    Schließlich war auch nicht abzusehen auf welche Verfassungsideen das frisch vereinte Staatsvolk verfallen würde. Da war der "Beitritt" zum Grundgesetz die bequemere und besser kalkulierbare Angelegenheit - mit der Folge, dass die "Verfassung" der Väter des Grundgesetzes auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wurde.

    Was aber konnte unter den Bedingungen von 1959 der Ausdruck "Verfassungspatriotismus" bedeuten? Sollte sich die Vaterlandsliebe auf den am 8. Mai 1949 beschlossenen Text des Grundgesetzes beziehen, also auf die Gesetzesartikel in einer Urkunde, was doch schwer vorstellbar war, oder auf "Verfassung" im Sinne von Zustand des Landes und seiner Verhältnisse, etwa so, wie man von einem Menschen sagt, er sei in einer bestimmten, guten oder schlechten Verfassung, was auch nicht recht plausibel gewesen wäre.

    Um genaueres zu erfahren, hätte man Sternberger zuhören oder seine Arbeiten studieren müssen, dabei wäre aufgefallen, dass er schon 1947, also zwei Jahre vor dem Grundgesetz, verfassungspatriotische Gedanken geäußert hatte. Es hätte sich ergeben, dass Sternberger weder an eine Urkunde noch an Land und Volk dachte, sondern dass er beabsichtigte, ein Gegenbild zum völkisch-nationalen Patriotismus zu entwerfen. Weil er diesen entehrten Patriotismus zu Recht immer noch in den verschwiegenen Anschauungen seiner Zeitgenossen vermutete, versuchte er, die historische Existenz eines politischen Patriotismus zu beweisen, der sich nur auf die Gesetze des Staates und die persönliche Freiheit richten sollte, lange bevor Nation und Nationalstaat die patriotische Alleinherrschaft antraten.

    Ob die Historiker dem zustimmen, kann dahinstehen. Sternberger wollte keine historischen Forschungen vorlegen, sondern eine politische Botschaft zur, wie man später sagte, Vergangenheitsbewältigung in die deutsche Seele pflanzen.
    Die Botschaft kam nicht an. Weder bei der politischen Linken, die bei "Patriotismus" sofort "Nation" und "Volk" hörte, aber nicht hören wollte, noch bei der politischen Rechten, die dasselbe hörte, aber es für unklug hielt, zuzuhören. Das Wort "Verfassungspatriotismus" blieb ein zusammengesetzter Ausdruck, geformt aus zwei Substantiven, die in dieser Fügung auf keine sachliche Überzeugung trafen. Eine originelle Prägung, die korrespondenzlos im Strom der politischen Sprache trieb.

    Aber Sternberger gab nicht auf. Zwanzig Jahre später, 1979, als der 30. Geburtstag, des inzwischen fast einhellig als "Verfassung" akzeptierten Grundgesetzes gefeiert wurde, wiederholte er seine Idee vom "Verfassungspatriotismus" als einer Vaterlandsliebe, die sich auf eine rechtsstaatlich verfasste Republik fixiert und nicht auf die völkische Nation. Und zu seiner eigenen Überraschung erzielte er nur wenige Jahre danach einen überwältigenden Erfolg. Warum? Der Schrecken, den schon das Wort "Patriotismus" einst ausgelöst hatte, war verblasst.

    Das voreilige "Wir sind wieder wer" aus der Fußballweltmeisterschaft von 1954 hatte sich subkutan konsolidiert. Terror und Turbulenzen der 70er Jahre waren von der Republik maßvoll und souverän abgewehrt worden. Die Wiedervereinigung war aus der Kategorie des Ersehnten in die des Erwünschten abgestiegen.

    Habermas pries im von ihm ausgelösten "Historikerstreit", die Erfolgsgeschichte der Republik und machte auf der Linken den Verfassungspatriotismus als postnationale Befindlichkeit der nach Europa strebenden Deutschen salonfähig.

    Die Rechte trauerte zwar nach wie vor, wenn auch noch stiller als früher, um Volk und Nation, war aber gern bereit, mangels absehbarer Alternativen, den wieder vernehmlich bekennbaren Patriotismus ersatzweise auf die Verfassung zu beziehen.

    So hatte, als Sternberger im Juli 1989 starb, zwar keineswegs seine Sache, aber doch sein dreißig Jahre zuvor fabrizierter Ausdruck auf breiter Front gesiegt. "Verfassungspatriotismus" war fester Bestandteil der politischen Sprache und wurde, wie viele der dort beheimateten Blankette, von den Redeschreibern routiniert und regelmäßig eingesetzt.

    Doch schon ein Jahr nach Sternbergers Tod begann der Sieg sich in eine Niederlage zu verwandeln. "Wir sind ein Volk" hatte der Osten gerufen. Der Westen hatte es gehört und - da die anderen Völker nicht intervenierten - entsprechend gehandelt. Der Beitritt erfolgte. Jetzt wuchs das Volk, das zusammengehörende, in seinem, wenn auch geschrumpften Vaterlande wieder zusammen. Es wurde geweint. Solidarität wurde verlangt. Patriotisches Denken und patriotische Opferbereitschaft waren das Gebot der Stunde. Von draußen lugte sogar die "Nation" in den festlich geschmückten Saal.

    Der "Verfassungspatriotismus" erblasste angesichts solchen Überschwangs. Unversehens klang schäbig, was eben noch rechtschaffen gewirkt hatte. "Abstrakt", "dürr" und "luftig" lauteten die Prädikate von rechts und links. Ralf Dahrendorf, der große deutsche Liberale in England brachte den Sachverhalt auf den Begriff: eine "Kopfgeburt", sagte er, sei der Verfassungspatriotismus.

    Womit er erbarmungslos Recht hatte. Genau dies hatte Dolf Sternberger schließlich gewollt. Er strebte weg von den unheiligen, romantischen und mythologischen Emotionen. Nicht dumpfer Irrationalismus, sondern die Vernunft des freien Bürgers sollte die Herrschaft übernehmen. Der Kopf also, nicht der Bauch.

    Aber Kopfgeburten überzeugen nicht. Ihnen mangelt es an sinnlicher Wärme. die Gemeinsamkeit stiftenden Wehen fehlen. Die Deutschen wollten aber jetzt endlich sein, wie ihre Nachbarn auch. Keine nervtötenden entschuldigenden Debatten mehr. Stattdessen: Zusammengehörigkeit, Identität, Schicksalsgemeinschaft, Bindung, Tiefe, Loyalität.

    Patriotismus? Natürlich! Aber richtig! Zum Vaterland, nicht "bloß" zu dessen Verfassung.

    Die politische Sprache begann, den Verfassungspatriotismus vorsichtig wieder zu eliminieren. Der Abstieg des zusammengesetzten Substantivs setzte ein.

    Aber: so wenig wie sich das bereits jauchzend verkündete Ende der Geschichte einstellte, so wenig war 1989 das Finale unserer spannenden Begriffsgeschichte gekommen.

    Sie läuft weiter. Das zusammengesetzte Substantiv formiert sich von neuem, rafft vertraute Deutungen zusammen, stellt sie um und positioniert sich in neuer Form auf transnationaler Ebene in der aktuellen Verfassungsdebatte der Europäer.

    Nach mehrjähriger Ruhe im Halbverborgenen erschien der "Verfassungspatriotismus", zunächst zögernd und mündlich, inzwischen aber selbstbewusst und literarisch abgesichert, wieder auf der Bühne. Er hat sich um ein Adjektiv bereichert und heißt jetzt: "Europäischer Verfassungspatriotismus".

    Auch dieser Ausdruck ist erstaunlich, scheint er doch, ganz wie die semantisch bescheidenere nationale Wendung, Liebe, "Vaterlandsliebe" für etwas zu fordern, was nicht vorhanden ist: eine Europäische Verfassung.

    Zwar haben wir einen "Vertrag über eine Verfassung für Europa" der durch die europäischen Regierungschefs am 29. Oktober 2004 unterzeichnet wurde und der dann in Kraft treten soll, wenn der letzte der 25 Vertragspartner die Ratifikationsurkunde bei der italienischen Regierung hinterlegt hat.

    Das ist bisher nicht geschehen. Dass es geschehen wird ist zu bezweifeln, denn man sieht auch ohne Anstrengung und detaillierte Kenntnisse, dass das knapp 500 Seiten und ebenso viele Artikel umfassende Vorschriftenpaket für die gängigen Verfassungskonzepte, seien es jene der Bürger, oder die ihrer juristischen und politikwissenschaftlichen Experten, eine ziemliche Herausforderung darstellt.

    Aus der Perspektive des Rechts handelt sich um einen majestätisch geschminkten völkerrechtlichen Vertrag, der mit der Präambel seine Ziele tief in den besten Erinnerungen der europäischen Geschichte verankert:
    "SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben [...]".

    So beginnt der Text. Stimmungsvoller kann der Einstieg in einen Vertrag kaum erfolgen: Völkerschaften, die sich unbegrenzt vertragen wollen, treten zusammen und legen fest, wie ihre gemeinsame staatliche Ordnung in Europa aussehen soll.

    Und doch fällt sogleich ein Schatten des Zauderns auf den festlichen Beginn. Europa? Bislang haben die Europäer sich nicht darauf einigen können, wie groß Europa wirklich ist, wo es beginnt und wo es aufhört, wer wesenhaft dazugehört und wer eigentlich doch eher nicht. Das Land Europa ist "irgendwo".

    Es gibt lediglich die Europäische Union - und selbst für die ist ungeklärt und strittig, wo die Beitrittsfähigkeit enden und die Nachbarschaft beginnen soll. Und das Wesen der Union selbst ist "irgendwie". Was immer die EU "ist" - sicher ist sie kein Staat.

    Wer sich also in seiner Verfassungskonzeption darauf festgelegt hat, dass er von "Verfassung" nur dort sprechen will, wo eine einzelstaatliche Gesamtordnung in Rede steht, der wird schon an dieser Stelle kaum noch in der Lage sein, in einem Vertrag zwischen 25 Staaten, aus denen inzwischen 27 geworden sind, eine Verfassung zu erkennen.

    Die meisten denken weniger streng. Sie können sich eine Verfassung nicht nur für einen Bundesstaat, sondern auch für einen Staatenbund oder, schwächer, für einen Staatenverbund oder, noch schwächer, sogar für einen Staatenverband im Sinne des "Europa der Vaterländer" vorstellen. Wer einem solchen Verfassungsbegriff huldigt, der könnte das vertragliche Normenkonvolut sicher als Verfassung der europäischen Staatengruppe akzeptieren.

    Aber noch ist es nicht so weit. Bislang wurde der Vertrag, wie erwähnt, noch nicht einmal ratifiziert, sondern durch Franzosen und Niederländer sogar abgelehnt - zweifellos unter der zunächst klammheimlichen, mittlerweile aber auch laut geäußerten Zustimmung sehr vieler aus der Menge derjenigen, die von ihren Regierungen nicht um ihre Meinung gefragt worden waren.

    Auf eine bestehende Verfassung kann sich demnach der jetzt immer häufiger angemahnte Europäische Verfassungspatriotismus - nicht anders als einst sein bundesrepublikanischer Vorgänger - nicht beziehen.

    Da zudem vermutet werden darf, dass der Verfassungsvertrag in der vorliegenden Form niemals verabschiedet werden wird, können wir zuversichtlich davon ausgehen, dass sich hinter dem Verfassungspatriotismus nicht etwa eine Hoffnung auf die gesamteuropäische Ratifizierung dieses Papiers verbirgt.

    Unwahrscheinlich ist auch, dass die aktuellen, konkreten Zustände und Verfasstheiten der Europäischen Union Gegenstand der transnationalen Vaterlandsliebe sein sollen. Denn es ist kein Geheimnis, dass die Mehrzahl der Europäer an "Europadingen" nur wenig interessiert und deshalb kaum mit ihnen vertraut ist.

    Wer angesichts dieser Lage von sich behauptet, dass er einem Europäischen Verfassungspatriotismus anhinge und anderen eine solche Haltung predigt, scheint demnach nicht das Seiende, sondern das Seinsollende im Sinne zu haben. Er führt Normatives im Schilde und möchte für die Zukunft einen Zustand herbeiführen, den er für wünschenswert hält und deshalb für vorschreibungsbedürftig.

    Das entspricht durchaus der Haltung von Dolf Sternberger, mit der freilich gewichtigen Variante, dass die politische therapeutische Empfehlung von vornherein nicht nur gegen den deutschen, völkisch-nationalen Irrationalismus gerichtet wäre, sondern gegen alle vergleichbaren chauvinistischen und ursprungsmythischen Traditionen, die den anderen europäischen Nationen bekanntlich ebenfalls nicht völlig fremd sind.

    Prüft man dementsprechend, woran diejenigen denken, die behaupten, dass "Verfassungspatriotismus" jetzt erforderlich sei, dann zeigt sich allerdings, dass Sternberger nur ziemlich undeutlich hinter dieser neuen Lesart des Patriotismus auszumachen ist.

    Viele haben einfach einen Traum. Sie wünschen sich in der Europäischen Union Europäer, europäische Patrioten, die sich in absehbarer Zeit gemeinsam dazu durchringen, sich in Einigkeit und Gleichheit eine Verfassung zu geben.
    Die Forderung nach Verfassungspatriotismus ist hier in der Substanz ein Aufruf. Gehofft wird auf eine demokratisch gesonnene Bewegung für eine "klassische", normative Verfassung, wie sie seit der französischen Revolution in Recht und Politik begriffen wird.

    Das heißt also, ein auf Verwirklichung angelegter Text, der die wichtigsten Grundsätze und Organisationsentscheidungen für den Ablauf des Herrschaftsprozesses enthält und der außerdem die grundlegenden Werte für das soziale Leben beschreibt und vorschreibt.

    Der nicht ratifizierte Vertrag enthielt bereits eine große Zahl dieser Elemente.
    Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Verfassung zustande kommen könnte, ist zurzeit leider recht gering, denn die für einen derartigen Akt erforderliche Vereinigungsleidenschaft und Europabegeisterung ist bei den Mitgliedern der europäischen Union offenkundig nicht vorhanden.

    Überwiegend wird die Union als eine mehr oder minder zweckmäßige und durchaus erfolgreiche ökonomische Ordnung des Binnenmarktes betrachtet, aber nicht als ein der Liebe bedürftiges und dieser Liebe würdiges gemeinsames Vaterland.

    Eine Ausdehnung des Wirtschaftsraums auf das gesamte soziale Leben wird nicht allgemein akzeptiert. Selbst das in diesen Zusammenhang gehörende, reichlich blasse Stichwort "westliche Werteordnung" stößt auf Vorbehalte, wie der Umstand zeigt, dass Europäische Intellektuelle der "Berliner Erklärung" Angela Merkels umgehend mit einer "Brüsseler Erklärung" entgegentraten. Bezeichnenderweise zeitigte eine Umfrage nach dem Rang und der Bedeutung der politisch beliebten Formel "westliche Werteordnung" bei den befragten Personen überwiegend ironische oder sarkastische Kommentare, so dass die Meinungsforscher die betrübten Auftraggeber mit der Feststellung trösten mussten, die Umfrage sei nicht repräsentativ gewesen.

    Die Hoffnungen der europäischen Verfassungspatrioten scheinen einstweilen ein Traum bleiben zu müssen.

    Dieser reale Zustand der europäischen Dinge kann allerdings nur wenige Verfassungspatrioten in Trauer und Resignation versetzen. Wo Idealismus auf Realismus trifft, verfärbt er sich das ideale Sein in der Regel zum realen Sollen. Erwartungsgemäß nimmt das Bekenntnis zum Europäischen Verfassungspatriotismus rasch eine strikt normative Fassung an.

    Wenn bei einem Aufruf die Patrioten fehlen, um sich selbst eine Verfassung zu geben, muss man den Bürgern eine Verfassung verordnen, damit sie zu Patrioten werden.

    Wer in seinem Verfassungsbegriff eine Legitimation durch direkte Beteiligung der Stimmbürger verlangt, wird in diesem Fall von einem Oktroi sprechen, eine Verfassung als Gnadengeschenk des jeweiligen Herrschers, so wie es manche Kritiker über lange Zeit dem Grundgesetz gegenüber taten.

    Aber da gerade aufgrund dieses Gesetzes nach verbreiteter Ansicht die demokratische Westintegration der Bundesdeutschen geglückt ist, könnte sich der deutsche Weg als Modell für die gesamteuropäische Zukunft empfehlen. Der Europäische Verfassungspatriotismus würde nach einer längeren Inkubationszeit von selbst ausbrechen.

    Es wird deshalb nicht mehr von "Verfassungsgebung" gesprochen, was Assoziationen an einen konstituierenden Akt weckt, sondern von dem "Verfassungsprozess", der sich, wie alle Prozesse, in die Länge ziehen darf, aber nicht muss.

    Ob allerdings die Vorstellung tatsächlich realisierbar ist, man könne die Europäer mittels einer Kopfgeburt von Verfassung integrieren und ihnen auf diese Weise, trotz auseinanderstrebender Wertewelten, die immer wieder ebenso verschwommen wie sehnsüchtig zitierte "europäische Identität" verleihen, könnte letzten Endes nur durch einen entsprechenden praktischen Versuch erwiesen werden.

    Die Chancen dafür stehen schlecht, denn das gerade gescheiterte Vertragsunternehmen läßt sich durchaus als ein solcher praktischer Versuch deuten.

    Selbst wenn, wofür einiges spricht, das französische "Non" und das niederländische "Nee" nicht so sehr als Resultate einer europafeindlichen Haltung, denn als Folgen innenpolitischer Abrechnungen der Befragten zu bewerten sein sollten: für ein optimistisches Kalkül bietet diese Misserfolgsgeschichte leider keinen Anhaltspunkt. Denn immerhin wurde auch bekannt, dass eine nicht unbeachtliche Zahl negativer Voten zum Beispiel dem Umstand zu verdanken war, dass der Vertragsentwurf nach langen Debatten auf den so genannten Gottesbezug in der Verfassung verzichtet hat.

    Eine weitere Variante des "europäischen Verfassungspatriotismus" beschwört diese euphorische Haltung zu einer künftigen Verfassung, um die europäischen Bürger zu bewegen, sich in das für unvermeidlich Gehaltene nicht bloß zu schicken, sondern es auch noch zu lieben. Der "Verfassungspatriotismus" ist hier kein Ziel mehr, sondern ein Instrument.

    Ausgangspunkt hier ist die Überzeugung, dass die Europäische Union eine Verfassung "brauche". "Brauchen" wird von den Vertretern dieser Variante des Patriotismus im Sinne von "bedürfen", "benötigen", "nicht entbehren können" benutzt. Anders als viele ihrer Streitgenossen, denken sie dabei nicht daran, dass eine Verfassung für die idealen Ziele der Integration in die Wertegemeinschaft von überragendem Nutzen wäre. Sie sind im Kern nüchterne Technokraten, die davon ausgehen, dass eine Überarbeitung des auf die Organisation der Union zielenden Normenmaterials unumgänglich ist, wenn die Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit der Gemeinschaft gesichert werden soll.

    Das ist eine restlos plausible Haltung, deren Berechtigung sich einfach aus dem Umstand ergibt, dass die eben jetzt, im März 2007, ihren 50. Geburtstag feiernden römischen Verträge in dem halben Jahrhundert ihrer Existenz beträchtliche Altersringe angesetzt haben. Durch die erst sukzessive, dann stürmische Erweiterung der Gemeinschaft, durch Ergänzungen, Korrekturen, Novellierungen und Umstrukturierungen der Anfangssubstanz hat sich eine schwer zu durchdringende, vielfach veraltete, weitgehend ungenügende und steuerungsfeindliche "Verfasstheit" der Union ergeben, die geradezu danach zu verlangen scheint, durch einen Novellierungsprozess adäquat verfasst zu werden.

    Die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme wird selbst von ihren Gegnern kaum bestritten, selbst wenn sie - und aus ihrer Sicht durchaus zu recht - mit Hinweis auf die vorhandenen rechtlichen Strukturen behaupten, die Union bedürfe keiner Verfassung, weil sie eine habe.

    Ihre Abneigung gegen die Überarbeitung dieser "Verfassung" beruht auch weit weniger auf irgendeiner Aversion gegen einen emphatischen Verfassungsbegriff, als auf der Furcht, die Neuordnung könne zu einer Usurpation von Positionen und Befugnissen durch das argwöhnisch beäugte "Brüssel" führen, die man den dortigen Regenten nicht einräumen möchte. Dass diese Furcht aus ihrer Sicht nicht völlig unbegründet ist, können alle jene, das "Europa der Vaterländer" fast schon zu weit geht, durch die schlichte Verlesung des gestrandeten Verfassungsvertrags beweisen.

    Die Vorstellung, dass der, nicht nur von den europäischen Gremien und Instanzen, sondern auch von unabhängigen Beobachtern festgestellte Novellierungsbedarf naturgemäß rascher und problemloser zu decken wäre, wenn das Notwendige mit Liebe erbracht würde als wenn es gegen allerlei Widerstände durchgesetzt werden müsste, ist treffend. Dagegen ist die Ansicht, dass eine verfassungspatriotische Maskierung das Ziel schneller in Reichweite rücken würde illusionär.

    Nicht zuletzt die Kommentare zum Scheitern des Verfassungsvertrags haben gezeigt, dass nicht bloß für eine verschwindende Minderheit der Bürger der Europäischen Union die "Verfassung" ein tief in der Geschichte und den kollektiven Instinkten der jeweiligen Nation verankerter Zustand ist, der keineswegs durch einen per Vertragsschluss der Regierungschefs hergestellten Normenkatalog erreicht werden kann, so dass der der Appell zur Mobilisierung von Patriotismus ins Leere läuft.

    Das dürfte eingesehen haben, wer auf deutscher Seite dafür plädiert, einstweilen auf alle Wertebeschwörungen und Sinnverheißungen in Form einer Charta zu verzichten und sich auf die Notwendigkeiten und Dringlichkeiten, die das Funktionieren der Union sichern, zu beschränken.

    Sie stecken vor allem im dritten Teil des Verfassungsvertrages, welcher sich mit den Politikbereichen und der Arbeitsweise der Union befasst. Hieraus allgemein konsensfähige Sachbestände vermittels neuer Verhandlungen nach und nach im "Verfassungsprozess" zu realisieren ist kein unvernünftiger Plan.

    Vermutlich würde es sich empfehlen, das Wort "Verfassung", mit dem so unübersehbar viele rationale und irrationale Vorstellungen, Empfindungen und Konzepte verbunden sind, völlig beiseite zu lassen und von einem "Statut" oder ähnlichem zu sprechen. Man würde sich die Auseinandersetzung über Worte, Begriffe und Definitionen ersparen und könnte sich - statt mit der Sprache - mit der ohnehin noch hinreichend ideologisch belasteten Sache beschäftigen.

    Die Lehre aus dieser komplizierten Geschichte über Verfassung und Patriotismus erweist sich am Ende als denkbar einfach: Die beliebte Frage, ob die Europäische Union eine Verfassung haben solle oder nicht, kann nicht nach Quiz-Manier mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden. Gegen jedes "Ja" lässt sich ein "Nein" mobilisieren und umgekehrt, denn sobald man auf Gründe und Argumente blickt, sieht man, dass sich, wie in einem Kaleidoskop, die bunten Splitter europäischer Geschichte und europäischer Geisteskraft zu ständig neuen Bildern zusammensetzen, die sich überlagern, vermischen, einander ausschließen. Das verbindliche Bild ihrer Zugehörigkeit gemeinsam festzustellen, wird den Mitgliedern und Bürgern der Union nicht erspart bleiben.