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Europa. Wir und die anderen.

Mit dem alten lateinischen Spruch "post coitum omnia animal triste" kommen wir nicht weit auf der Suche nach einer Erklärung, warum nach dem EU-Beitritt ehemaliger sowjetischer Halbkolonien sowohl die Alt- als auch die Neu-Europäer Mattigkeit und ein dumpfes Gefühl gesättigter Gleichgültigkeit ergriffen hat: Das soll es also gewesen sein?

Von Adam Krzeminski |
    Es mag bessere Metaphern geben, als die erfolgreiche Vereinigung eines bis dato zerrissenen und von so vielen Kriegen zerfleischten Kontinents mit einem Liebesakt zu vergleichen. Doch wenn man schon die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern so stark personifiziert, dass man von Freundschaft und Versöhnung zwischen ihnen spricht, dann ist auch dieser Vergleich mehr als recht und billig. Schließlich besiegelten über Jahrhunderte politische Ehen zwischen Herrscherhäusern einen Frieden oder gar eine Union zwischen Nachbarn - wie etwa die von Polen und Litauen im 14. Jahrhundert.

    Sie wurde damals nicht nur durch die Ehe der (nach heutigen Maßstäben) minderjährigen Königin Jadwiga besiegelt, die übrigens eigentlich für einen Habsburg schwärmte, aber auf Geheiß der polnischen Magnaten einen zwar betagten, doch militärisch tüchtigen Heiden aus Litauen heiraten musste, damit der Deutsche Ordensstaat in die Schranken gewiesen werden konnte, sondern auch durch zahlreiche Vermählungen zwischen polnischen und litauischen Adelsgeschlechtern. Und wenn es nicht zu einer regelrechten Ehe reichte, dann wurde zumindest die Aufnahme eines Nachbargeschlechts in das eigene Adelswappen inszeniert.

    Und diese Vereinigung hielt fünfhundert Jahre lang, länger als die polnisch-litauische Union formal bestand. Erst fast hundert Jahre nach der endgültigen Aufteilung und Liquidierung der polnisch-litauischen Res publica wurde die polnisch-litauische Ehe geschieden. Ihre Nachkommen mussten sich nun entscheiden: Und so wurde ein Miłosz - Oskar - nach 1918 zu einem litauischen Dichter und Diplomaten, und ein anderer - Czesław - nach 1945 erst zu einem polnischen Diplomaten, dann zum Emigranten und Literaturnobelpreisträger.

    Selbst heutzutage wird man bisweilen noch an die archaische Sitte erinnert, die Freundschaft zwischen Politikern und Völkern mit Kindern zu besiegeln. Schließlich stand der russische Staatspräsident höchstpersönlich bei der Suche des deutschen Bundeskanzlers nach dessen beiden Adoptivkindern Pate.

    Nichts dergleichen wurde 2004 nach der vollzogenen Osterweiterung der EU inszeniert. Die Kindergärten mit Nachwuchs der Brüsseler EU-Bediensteten lieferten keine Kulisse für die europäische Megahochzeit. Und als am 1. Januar 2007 auch noch Rumänien und Bulgarien nachzogen, flüsterten die Fanfarenstöße nur noch, da die Bereitschaft, noch irgendjemanden mehr aus dem Osten "ins EU-Wappen aufzunehmen", sich im Westen der Union doch sehr in Grenzen hält.

    Bei uns im Osten wiederum war ja erst einmal ein Hochgefühl durchaus vorhanden. Den Umfragen nach waren die Polen 2003 bereit, einen europäischen Präsidenten direkt zu wählen, der Eurozone sofort beizutreten und eine Europäische Armee sowie eine gemeinsame Außenpolitik der EU mit zu tragen.

    Dann aber mehrten sich gallige Trotzreaktionen: Die da in ihren Metropolen gewesener Kolonialmächte - in Paris, Berlin, Rom oder Brüssel - halten uns wohl für Aschenputtel, die sie aus dem postkommunistischen Armenhaus auflasen, um sie dann im Salon an einem Katzentisch zu platzieren. Sie stellen sich als unsere großen Gönner, sprich Nettozahler, hin, lassen uns gegenüber aber ständig anklingen, dass unser Ahnennachweis zweifelhaft sei und dass wir uns für die uns erwiesene Gunst artig bedanken sollten, im übrigen aber "die Chance, erst einmal den Mund zu halten", hätten. So sprach Jacques Chirac 2003 zur Amerika-Option der Ostmitteleuropäer im Irak-Konflikt.

    Die Aufsteiger schluckten die Demütigungen, solange sie noch draußen vor der Tür des Salons standen. Sie ließen sich von Kammerdienern verspotten und nachsichtig belehren.

    Nun aber haben wir - sagen die Neuzugänge -es geschafft. Wir sind drin. Wir schauen uns die Kronleuchter und das Familiensilber an und merken uns die Sitz-, sprich: die Hackordnung. Wir nehmen kaum verdeckte, ironische Blicke zur Kenntnis. Wir hören uns - gedolmetschte - Gesprächsfetzen an und merken beschämt, dass wir nur mit Mühe mitkommen, weil wir noch nicht mit allen Gepflogenheiten hinreichend vertraut sind. Zuerst verschnürt uns eine bedrückende Verlegenheit die Kehle. Dann aber packt uns die Wut: Sachte!

    So setzen die Neuen nun ihre Duftmarken. Sie sind bockig. Runzeln die Stirn und kramen unbeglichene alte Rechnungen aus ihren Taschen hervor. Alles schön und gut, aber dieses Silbertablett haben ja eure Großväter unseren Großmüttern geklaut! Die Initialen kann man noch lesen! - platzen sie mitten im Streichkonzert heraus. Und dann seht euch auch noch diese Dokumente an! Mit einem lässigen Strich auf der Landkarte habt ihr euch mit dem Halunken von nebenan gemein gemacht, als er uns ausraubte, vergewaltigte und verschleppte. Tut also jetzt bitte nicht so etepetete ...

    Diese höfische Geschichte aus dem heutigen EU-ropa ist nur um einen Deut überzogen. Das Problem zwischen dem "alten" und dem "neuen" Europa ist viel älter als Donald Rumsfelds Formulierung aus dem Frühjahr 2003. Der amerikanische Verteidigungsminister wollte damals die Ostmitteleuropäer als das "neue", "zukunftsträchtige" Europa hätscheln, weil sie zusammen mit den Briten, Spaniern und Italienern das proamerikanische Europa stellten, während Deutsche und Franzosen angeblich das senile, in seiner Impotenz verkalkte "alte Europa" vertraten.

    Manchmal allerdings stehen "eingetragene Warenzeichen" nicht für die, sondern beinahe anstelle der zu verkaufenden Produkte. Und so ist es zum Teil auch jetzt mit dem Etikett "altes und neues Europa".

    Auf der einen Seite gibt es keinen unsinnigeren Spruch: Immerhin haben auch Polen, Tschechien oder Ungarn ihre tausendjährige europäische Geschichte absolviert. Sie ist zwar kürzer als die deutsche oder griechische, doch auch wieder nicht so kurz, dass die "Westmitteleuropäer" - also Deutsche und Franzosen - sie völlig aus ihrem Geschichtsbewusstsein verdrängen dürfen. Bisher allerdings schreiben sie sie noch so, als ob alles Lichte und Gute bei ihnen seinen Ursprung gehabt hätte, und wundern sich, wenn wir ihnen ständig einbläuen wollen, dass beispielsweise das polnische Gesetz neminem captivabimus, das dem König untersagte, ein Mitglied der politischen Nation, das heißt des Adels, willkürlich festzunehmen, zweihundert Jahre vor dem englischen habeas corpus act verabschiedet wurde. Oder dass nicht erst das Edikt von Nantes von 1598 den Grundstein der europäischen religiösen Toleranz legte, sondern die 25 Jahre ältere "Warschauer Konföderation". Oder dass der polnische König Stanisław Leszczyński ein halbes Jahrhundert vor Kant den Entwurf für einen "ewigen Frieden" skizzierte. Oder dass die erste Verfassung in Europa 1791 in Polen verabschiedet und eine erste Verfassung für Europa 1831 während des polnischen Aufstandes gegen die russische Bevormundung geschrieben wurde ...

    Ich zähle dies nicht auf, um auf das ius primae noctis für die polnischen Wegbereiter republikanischer Regelungen in Europa zu pochen, denn umgekehrt wiederum bildeten etwa das Lübecker oder Magdeburger Recht auch im mittelalterlichen Polen das juristische Fundament für modernen Stadtgründungen und -verwaltungen. Ich erwähne es nur, um zu zeigen, dass die "Neuen" seit langem, und nicht erst seit 1989, ein Teil der europäischen kommunizierenden Röhren sind.

    Auf der anderen Seite machen die Ostmitteleuropäer selbst kein Hehl daraus, dass sie tatsächlich ein "jüngeres Europa" sind: so zum Beispiel der polnische Historiker Jerzy Kłoczowski in einem vergleichenden Exkurs über die polnische, böhmische und ungarische Geschichte im Mittelalter. Er grübelt darüber nach, warum Ostmitteleuropa so lange an der Peripherie Europas blieb, ohne es zustande zu bringen, das zivilisatorische Zentrum des Kontinents - trotz Hus oder Kopernikus - zumindest zeitweise etwas nach Osten zu verschieben ...

    Im imperial-nationalistischen 19. Jh. bestritten die westeuropäischen Kolonialmächte ihren jeweiligen Peripherien auf der Erdkugel jegliche souveränen Rechte darauf, ein Subjekt der Geschichte zu sein. Sowohl die Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich als auch Napoleon sahen beispielsweise in den Polen eine bloße Verfügungsmasse. Der Heiligen Allianz unter Metternich galten sie als ein Anhängsel des russischen Zaren. Für Marx waren sie für kurze Zeit Träger der revolutionären Hoffnung gegen den "halbasiatischen Despotismus", ansonsten nur eine der "geschichtslosen Nationen" in Ostmitteleuropa. Für seine marxistischen Jünger, die nach 1917 eine translatio revolutionis von Deutschland nach Russland predigten, war der gesamte Raum dazwischen nur ein Objekt der kommunistischen Heilsbotschaft, die von Moskau aus verwirklicht werden würde.

    Doch die Heilsgeschichte steht selten mit der realen im Einklang.
    Stellen wir uns vor, wie die europäische Geschichte verlaufen wäre, wenn die Deutschen nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg - trotz der schmerzlichen Gebietsverluste im Osten, die letztendlich mehr oder weniger nur die Teilungen Polens rückgängig machten - den neuen und zugleich alten Nachbarn im Osten innerlich angenommen hätten: Sie säßen heute weiterhin in Breslau, Königsberg und Stettin, und wir hätten nicht nur ein moralisch und materiell unzerstörtes Mitteleuropa, sondern sicherlich auch eine in sich ruhende Europäische Union, die inzwischen weit nach Weißrussland, in die Ukraine, aber auch über den Balkan bis in die Türkei hineingewirkt hätte.

    Stattdessen bäumten sich die Deutschen gegen dieses neue Europa auf, das wie ein Phönix aus der "europäischen Urkatastrophe des Jahres 1914", wie Thomas Mann es formulierte, entstanden war. Sie versuchten, den polnischen "Saisonstaat" im alt-neuen Einvernehmen mit Russland erst klammheimlich in Rapallo, dann verbrecherisch im Hitler-Stalin-Pakt zu beseitigen, um sich im Osten die Fleischtöpfe zu sichern (wie Marion Gräfin Dönhoff einmal schrieb). Eine Versöhnungsstrategie gegenüber den Nachbarn entdeckten die Deutschen erst, als ihr Land erneut amputiert und geteilt wurde, und durch den - von Hitler geplanten und ausgeführten Völkermord - stigmatisiert war.

    Sicher, die nachträgliche Suche nach Alternativabläufen für die realiter eben so und nicht anders geschehene Geschichte erinnert meist an Sandkastenspiele, in denen greise Generale längst verlorene Schlachten gegen den Lauf der Zeit doch noch gewinnen wollen. Dennoch lohnt es sich bisweilen, die in der Vergangenheit verpassten Friedenschancen im Hinterkopf zu behalten, um die gegenwärtigen nicht zu vergeuden. Die ungeschehene Geschichte, wie Alexander Demandt es ausdrückte, ist - intellektuell in sparsamen Dosen angewandt - auch eine Geschichte.

    Wenn man über das "neue" und das "alte Europa" im heutigen Geflecht der globalen Spannungen und Herausforderungen nachdenkt, sollte man sich nicht voreilig über die infantilen Sprüche mancher "Neueuropäer" - wie "Nizza oder der Tod" - mokieren. Auch nicht über die betont proamerikanische Haltung jener Länder, die in Jalta - nach von Churchill genau festgelegten Prozentsätzen der Bevormundung - an Stalin abgetreten wurden.

    Wenn das "alte" Europa so gerne "geschichtsvergessen" zu sein scheint, ist das "neue" aufgrund seiner Erfahrungen geradezu "geschichtsbesessen". Es ist davon überzeugt, dass es sich par force in das Geschichtsbewusstsein der Euro-Wessis hineinzwängen muss, dass es jede Ignoranz und Klitterung ahnden und das alte Bild der europäischen Geschichte, das im 19. und 20. Jahrhundert allein von den Großmächten geprägt wurde, sprengen muss, wenn es nicht ewig am Katzentisch des EU-Salons sitzen bleiben will.

    Denn schwarze Löcher gibt es nicht nur irgendwo im Weltall, sondern auch in der Wahrnehmung der direkten Nachbarn. Beispiele hierfür findet man sogar bei gut gemeinten Versuchen in der EU, die eigene nationale Geschichtsschreibung mit der des Nachbarn zu teilen.

    Einen polnischen Leser bedrückt beispielsweise das 2006 erschienene deutsch-französische Geschichtsbuch über die europäische Nachkriegszeit, weil es den "polnischen Aspekt" der deutschen Nachkriegsgeschichte fast völlig ausblendet. Der deutsche und der französische Schüler erfährt demnach nichts von den langwierigen und schmerzlichen Auseinandersetzungen der Deutschen um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Kein Wort über die EKD-Denkschrift und den Briefwechsel der deutschen und polnischen Bischöfe 1965. Kein Wort über den deutschen Streit um die "Solidarność". Übergangen wird die deutsch-polnische Interessengemeinschaft des Jahres 1989/90 ebenso wie- und das ist wirklich die Höhe! - das 1991 gegründete französisch-deutsch-polnische Konsultativgremium des "Weimarer Dreiecks". All das gilt als nicht erwähnenswert für die "Westmitteleuropäer" aus Deutschland und Frankreich. Die französisch-deutsch-russische Nähe des Jahres 2003 dagegen sehr wohl. Ein großes Bild Chiracs, Schröders und Putins krönt die neue Heilige Allianz für das 21. Jh. Das ist das "alte Europa" in Personen.

    Dieses Beispiel ist nicht willkürlich, herausgepickt aus dem polnischen Schmollwinkel der letzten Monate. Dafür ist die Kette der öffentlichen Kränkungen der "Neuen" durch die "Alten" zu lang. 2005 etwa inszenierte Wladimir Putin die 750-Jahrfeier Königsbergs. Er lud dazu den deutschen Bundeskanzler und den französischen Staatspräsidenten nach Kaliningrad ein, nicht aber die Staatsoberhäupter Polens und Litauens, immerhin direkte Nachbarstaaten der russischen Exklave. Und sowohl Chirac als auch Schröder ließen ihn gewähren. Was geht uns, die Großen, eine Brüskierung der Kleinen an. Wir machen doch die Politik.

    Erst vor diesem Hintergrund der Überempfindlichkeiten und immer noch nicht abgeschlossenen geschichtspolitischen Hängepartien ist der störrische Dissens zwischen den "alten" und den "neuen" EUropäern bei konkreten wirtschafts- oder sicherheitspolitischen Fragen, wie der deutsch-russischen Ostseepipeline oder dem amerikanischen Antiraketenschutzschild zu verstehen.

    Es handelt sich um Vorder- und Rückseite derselben Frage: Wie atlantisch bzw. wie eurasisch wird die EU in 25 Jahren sein? Von welcher Position aus wird sie sich an den Querelen des pazifischen Zivilisationszentrums beteiligen? Werden wir - alte und neue Europäer - uns über die Schulter der Russen oder der Amerikaner anschauen, wie die USA, China, Japan, Korea und Südostasiaten dort ihre Potentiale mal kooperativ, mal konfrontativ messen?

    Für uns "Neue" ist das eine ebenso konkrete Frage wie für die "Alteuropäer", selbst wenn wir dort nach 1945 keine Kolonien in Hongkong, Macao oder Indochina räumen mussten. Auch wenn mein Urgroßvater 1905 in einer russischen Offiziersuniform in der Mandschurei im russisch-japanischen Krieg fiel, assoziierten seine Urgroßenkel den 11. September 2001 mit dem japanischen Angriff 1941auf Pearl Harbor und nicht mit dem 1904 den russischen Stützpunkt Port Arthur.

    Von Ostmitteleuropa aus gesehen ist New York heute viel näher als Moskau, geschweige denn Peking oder Tokio. Von Westmitteleuropa aus - schien das 2003 gar nicht so gewiss zu sein. Die Kritik an dem "Cowboy" im Weißen Haus war in Frankreich und Deutschland jedenfalls viel lauter als die an dem "lupenreinen Demokraten" im Kreml. Und der Versuch "alteuropäischer" Philosophen, Europa als Gegensatz zu Amerika zu definieren, stieß bei den "Neueuropäern" auf Unverständnis und Ablehnung. Trotzdem, als es im November 2004 dann darauf ankam, die ukrainische "Revolution in Orange" gegen massive Wahlfälschungen und russische Einmischung zu stützen, zogen neue und alte EUropäer an einem Strang. Einige Monate lang funktionierte die gemeinsame Ostpolitik. Und sie war erfolgreich.

    Sie zerbrach 2005, als die deutsch-russische Gaspipeline in Deutschland als ein nationales Jahrhundertgeschäft gepriesen und in Polen als Wiederaufleben der unheilvollen deutsch-russischen Achse - diesmal energiepolitisch - auf Kosten Polens gedeutet wurde. Auf die enttäuschten Worte des scheidenden polnischen Staatspräsidenten antwortete der noch amtierende Bundeskanzler damals brüsk: "Deutsche Politik wird in Berlin und nicht anderswo gemacht". Im Wahlkampf 2002 galt die Mahnung Washington, im Wahlkampf 2005 galt sie dann Warschau. Da wurde von prominenten Alt-Europäern eine amerikanisch-polnische Allianz medienwirksam festgestellt und abgewehrt! Der derzeitige Streit um die Beteiligung von Polen und Tschechen am amerikanischen Raketenschutzschild ist die andere Seite derselben Medaille.

    Wer spaltet hier Europa, die Alten oder die Neuen? Beide. Die "Alten" glaubten, sie allein verträten die europäischen Interessen. Die "Neuen" dagegen meinten, erst einmal beweisen zu müssen, dass sie verlässliche NATO-Mitglieder sind, und deswegen unterstützten sie 2003 Amerika. Dass in Polen damals lediglich 4 Prozent der Befragten den Irak-Einsatz befürworteten, aber nur 4000 gegen den Krieg demonstrierten, während in Deutschland eine halbe Million auf die Straße ging, belegte den Sinn der Polen für Realpolitik. Wir sind (im Irak) dabei, um unsere Position in den USA und in der EU zu stärken, glaubte man. Die Spaltung des Westens ist für die Polen ein Alptraum. Denn sicherheitspolitisch sind nur die USA funktionsfähig, während wirtschaftlich und zivilisatorisch die EU heute die Norm gebende Instanz und Rückversicherung gegen eigene Unzulänglichkeiten ist. Die europäischen Institutionen genießen inzwischen höheres Ansehen als die nationalen. Und der Wunsch nach einer gemeinsamen Energie- und Ostpolitik der EU ist allgemein vorherrschend. Sie sollte im 21. Jh. jene Rolle bei der Vertiefung der EU spielen, wie es die Montanunion in den 50er Jahren tat, hört man in Polen immer wieder.

    Die alte EWG, die gerade ihren 50. Geburtstag feiert, entstand auf dem Fundament der Montanunion, die die Schwerindustrien der einstigen "Erbfeinde" verband, und auf den Ruinen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die das französische Parlament 1954 im Namen der französischen Nationalinteressen ablehnte. Psychologisch war die EWG ein Bündnis zweier faktischer Verlierer des Zweiten Weltkrieges, eines offenkundigen - Deutschlands - und eines latenten - Frankreichs -, das zwar in die Riege der Siegermächte gehievt wurde, sein Gewicht als europäische Ordnungsmacht jedoch durch Pétains Bündnis mit Hitler unwiederbringlich verloren hatte. Die Logik des deutsch-französischen Motors lautete: Frankreich gibt Deutschland einen moralischen Leumund, Deutschland dagegen hält sich auf dem EWG-Parkett immer einen halben Schritt hinter Frankreich zurück und finanziert die gewaltigen Agrarsubventionen, von denen vor allem Frankreich profitierte. Außenpolitisch genossen die beiden die Sicherheit des amerikanischen atomaren Schildes und suchten für sich zugleich Freiräume gegenüber der amerikanischen Schutzmacht im Dialog mit der Sowjetunion. Westdeutschland hoffte dabei auf innerdeutsche Erleichterungen mit der DDR, Frankreich auf eine zumindest symbolische Fortsetzung seiner Rolle als Großmacht. Ostmitteleuropa war dabei - wie so oft in der Vergangenheit - nur eine Resultante dieses Koordinatensystems.

    Diese Konstruktion überstand die Erweiterungen der EWG um Großbritannien und Irland, Griechenland, Spanien und Portugal, sogar die von 1995 um Österreich und die skandinavischen Länder.

    Die friedliche Revolution unterminierte dieses moralisch-politische Gerüst. Anders als Deutschland und Frankreich 1945 wurden die sowjetischen Kolonien nicht von außen vom Totalitarismus befreit, sondern er wurde von den Ostmitteleuropäern durch zahlreiche Aufstände und Auflehnungen - von 1953 und 1956 über 1968 und 1980/81 bis hin zum "annus mirabilis" 1989 - von innen ausgehöhlt und schließlich zu Fall gebracht. Letztendlich war die Wahl Gorbatschows 1985 eine beinahe verzweifelte Antwort nicht nur auf den NATO-Doppelbeschluss, sondern eben auch auf den Aufstand der Solidarność.

    Die "Alt-Europäer" verkannten die Tatsache, dass nach 1989 eine völlig neue Konstellation auch für die EU entstand. Sie blickten untätig auf das heraufziehende Gemetzel auf dem Balkan, und boten dem einstigen Jugoslawien keine europäische Perspektive an. Die Aufnahme der Ostmitteleuropäer in die NATO und EU betrachteten sie als reinen "Beitritt", ohne zugleich auch eine Osterweiterung des eigenen Bewusstseins vorzunehmen. "Ihr müsst eure Hausaugaben machen und beweisen, ob ihr europareif seid", sagte man den "Neuen" immer wieder. Die bewiesen das dann schlecht und recht in den Beitrittsverhandlungen. Zähneknirschend merkten sie dabei, dass die "Alten" gelegentlich tricksen und ihre Privilegien zu wahren verstehen, etwa in der Agrarpolitik oder auf dem Arbeitsmarkt, den zumindest Deutsche und Franzosen mit dem Segen der EU per Sonderregelung vor polnischen Fliesenlegern oder Klempnern zu schützen wussten. Dass es auch anders geht, sich den "Neuen" zu öffnen, zeigten dagegen die Briten und Iren, aber auch die Spanier und Italiener, die keine Angst vor einmarschbereiten Divisionen junger polnischer Arbeiter hatten. Fast eine Million Polen hält sich mittlerweile in diesen Ländern auf, ohne deren Wirtschaft zu ruinieren.

    Aber noch einmal: Die beiden gravierenden Dissonanzen zwischen den "neuen" und den "alten" EUropäern - der amerikanische Raketenschutzschild und die deutsch-russische Gaspipeline über die Ostsee - sind zwei Seiten derselben Medaille. Und beide können nur mit Hilfe gemeinsamer Strategien gelöst werden. Die Osterweiterung der EU braucht ein Schwungrad in Gestalt einer zeitgemäßen Montanunion, etwa in einer gemeinsamen Energie- und Ostpolitik gegenüber Russland. Ansätze hierzu sieht man in der Tatsache, dass nach dem polnischen Veto gegen den neuen EU-Russland-Vertrag nun Brüssel mit Moskau über die Aufhebung des russischen Embargos gegen polnische Fleischexporte verhandelt, und nicht wie bisher Warschau allein. Und auch der Raketenschutzschild gegen die potentielle Bedrohung aus dem Iran entwickelt sich allmählich zu einem NATO-Thema und wird auch im "alten" Europa nicht mehr nur als ein Alleingang von Polen und Tschechen als Hiwis der USA wahrgenommen.

    Die Hochzeit, die die Europäer 2004 und 2007 so lustlos feierten, mündete nun konfliktreich in die "midlife crisis" einer vitalen Neufindung. Die Grauen Panther behaupten ja trotzig, das Leben beginne so richtig erst nach dem 50. Geburtstag. Das sollte für politische Unionen allemal gelten: Die Amerikanische gibt es seit über 200 Jahren, und die polnisch-litauische dauerte sogar doppelt so lange. Bleibt also zu hoffen, dass die EU noch länger Bestand haben wird.