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Europa. Wir und die anderen.

In diesem Text bin ich "der Andere". Wir, "die Anderen", sind nur noch wenige, was erfreulich sein könnte, wenn die Tatsache, dass wir abseits stehen, dass wir zu etwas gehören, was als etwas Anderes bezeichnet wird, nicht Wut in uns aufkommen ließe. Sogar dieses "wir", das ich jetzt benutze, ist nicht das "wir" aus dem Titel: meines ist ein anderes "wir", eine Gemeinschaft außerhalb der Gemeinschaft, eine Gruppe, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nicht dazu gehört.

Von David Albahari, Schriftsteller, Belgrad/Calgary |
    Eigentlich sollte ich nur in meinem Namen sprechen. Ich sollte sagen, dass ich nie Angst vor Europa hatte, und natürlich hinzufügen, dass ich nie vermutet hätte, dass Europa mich, obwohl ich in Europa bin, betrachtet, als wäre ich es nicht. Vielleicht legt der Zuhörer jetzt die Stirn in Falten und fragt sich, wie so etwas möglich ist, sobald er aber hört, dass ich aus Serbien komme, glättet sich seine Stirn, sein Mund verzieht sich womöglich zu einem Lächeln, und er ruft aus: Aber klar, dort, wo Serbien ist, wo immer das sein mag, dort beginnt die europäische Finsternis.

    Ich bin also "der Andere", und mein Name ist Finsternis.

    Solche Feststellungen lassen die Bürger Serbiens vor Wut schäumen. Es gibt Tage, an denen fast alle derart vor Wut schäumen, dass es nicht ratsam ist, sie anzusprechen. Besonders nach bestimmten Erklärungen europäischer Spitzenfunktionäre oder nach Verlautbarungen des Haager Tribunals, in denen Serbien zum wiederholten Mal mit Konsequenzen gedroht wird, falls es sich nicht an den Beschluss über die Auslieferung der Kriegsverbrecher hält.

    Sobald von den serbischen Medien eine solche Nachricht verbreitet wird, schäumen alle vor Wut, und es kommt nicht selten vor, dass sie mit erhobenen Fäusten drohen und dem gegenüber Europa untreuen Serbien Treue schwören. Allerdings schäumen in solchen Fällen nicht alle Einwohner Serbiens vor derselben Wut. Die Hälfte hat Wut auf Europa, die andere Hälfte ist wütend auf die erste Hälfte und auf deren Wut. Die zweite Hälfte glaubt nämlich, man solle Europa nachgeben und das tun, was es von uns verlangt, damit die Integration Serbiens in Europa beschleunigt wird. Deshalb hat die erste Hälfte der schäumenden Einwohner Serbiens nicht nur Wut auf Europa, sondern auch auf die zweite Hälfte der schäumenden Bürger.

    Bemerkenswert ist daran, dass die Aufgebrachtheit allgemein ist, und wenn man noch in Betracht zieht, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung wegen der Haltung der Europäischen Union zur Kosovo-Frage schäumt, ist die Wut in Serbien so allgegenwärtig, dass man meint, mit denjenigen, die nicht vor Wut schäumen, sei etwas nicht in Ordnung. Im heutigen Serbien ruhig und gelassen zu sein, bedeutet, Verrat an den nationalen Interessen zu begehen. Ein rechtschaffener Bürger hat vor Wut zu schäumen, um als ein richtiger Serbe zu gelten.

    Auch ich schäume vor Wut, aber in erster Linie, weil ich einsehe, dass diese allgemeine Aufgeregtheit zu nichts führt, sondern vielmehr zum Chaos beiträgt und den Stillstand, das Auf-der-Stelle-treten fördert. Das Auf-der-Stelle-treten bewirkt seinerseits nur, dass sich der Boden unter unseren Füssen in Schlamm verwandelt.

    Serbien steckt heute bis zu den Knien in einem Schlammloch, tritt jedoch weiterhin auf der Stelle, weil es Leute gibt, die behaupten, den Schlamm könne man leicht abwaschen. Sie glauben außerdem, dass Serbien sich allein aus dem Schlamm ziehen kann, und weisen die leichtgläubigen Bürger darauf hin, dass der Baron Münchhausen sich in einer ähnlichen Situation am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen und dadurch nicht nur sich selbst, sondern auch noch sein treues Pferd gerettet hat. Die Serben haben natürlich keine Schöpfe, aber wenn man sie darauf anspricht, winken sie nur ab, als könnten ihnen über Nacht welche wachsen.

    Das Abwinken ist in Serbien eine beliebte sportliche Disziplin. Bei jeder Frage, auf die sie keine Antwort geben können oder wollen, winken die Einwohner Serbiens nur ab. Manchmal bestreiten sie mit Abwinken ganze Unterhaltungen. Nicht selten winken Leute auf der Straße oder im Café gemeinsam ab, manchmal so heftig, dass man am Nebentisch meint, man sitze im Durchzug.

    Ein Freund von mir, ein Kurzgeschichtenautor, behauptet, in Serbien könne es keinen Fortschritt geben, solange die Menschen bei allem, was die Politiker sagen, nur abwinken. Es spielt keine Rolle, ob es sich um einheimische oder ausländische Politiker handelt, wichtig ist allein der Akt des Abwinkens. Einmal an das Abwinken gewöhnt, kann man schwer davon lassen. Das Abwinken sei ein schlimmeres Laster als das Rauchen, meint mein Freund, der Kurzgeschichtenautor, es bedürfe aller Kraft, es sich abzugewöhnen. Ob er diesem Gift abgeschworen habe, will ich wissen. Wie denn, sagt er und winkt ab, wenn ich nicht einmal für wichtigere Dinge Kraft habe? Ich frage, wie lange er noch gedenke, immer nur abzuwinken. Einmal werde es soweit sein, sagt mein Freund und winkt ab, er habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

    Das ist gut, denn Hoffnung hat Serbien nötiger denn je. In der festgefahrenen innenpolitischen Lage, in der keine Partei stark genug ist, die Macht zu übernehmen, schwebt Serbien wie das aus einem serbischen Volksmärchen bekannte Schloss zwischen Himmel und Erde. Solche Situationen, die schnell zu einem ungesunden Stillstand führen, können als kurze aber gefährliche Lunten missbraucht werden, um einen Bürgerkrieg zu entfachen. Dann sähe man in der EU-Mitgliedschaft die Rettung oder eine Niederlage, was merkwürdigerweise auf dasselbe hinausliefe, denn in jedem Fall müsste man auf Dinge verzichten, durch die sich nach Ansicht der serbischen Seelsorger das wahre Serbien definiert.

    Ich ahnte doch, dass wir früher oder später bei der Identitätsfrage landen würden. Lange Zeit war ich der Meinung, einer der Gründe für die serbische Ablehnung eines EU-Beitritts sei die Frage der nationalen Identität. Viele serbische Politiker, insbesondere die aus dem nationalistischen und rechten Lager, stellen den Beitritt zu Europa als Verrat hin, als den Verzicht auf die nationale Identität, als die Bereitschaft, statt ihrer eine allgemeine, nicht definierte europäische Identität anzunehmen.

    Solche Behauptungen sind natürlich aus der Luft gegriffen, denn die Europäische Union bietet nicht etwa eine europäische Staatsangehörigkeit anstelle der nationalen an und finanziert keine Schulen oder Schulprogramme, die eine gemeinsame, abgestimmte europäische Haltung zur Grundlage haben. Aber gerade das macht diesen Politikern Angst. Sie wissen, dass sich mit dem Beitritt zur Europäischen Union zwar nichts an der nationalen Identität ändert, aber dass durch die Übernahme vieler für ganz Europa verbindlichen Gesetze, die weitgehend die politische Praxis regeln, ihr eigener Status infrage gestellt wird.

    Auch die Kosovo-Frage muss in diesem Licht gesehen werden. Das Befürworten einer eventuellen Selbständigkeit Kosovos wird als "verbrecherische Bestrebung Europas" gedeutet, Serbien eines Teils seines Territoriums zu berauben. An diesem Punkt beenden meist die Politiker ihre Reden, ohne darauf einzugehen, auf welche Weise die unversöhnliche Haltung der serbischen und der kosovo-albanischen Seite überwunden werden soll. Die von solchen Politikern geforderte Respektierung der Grenzen und Rückführung Kosovos unter die serbische Jurisdiktion liefen in der Praxis auf erneute Kriegshandlungen gegen rebellische Albaner hinaus, was zu dem bekannten Szenario einer internationalen Intervention führen würde.

    Aber selbst wenn man nicht von der schlimmsten aller möglichen Varianten ausgeht, wird klar, dass die mangelnde Kompromissbereitschaft Serbiens in der Kosovo-Frage daher rührt, dass die nationalistischen Führer mit der Annahme egal welcher Lösung ihren wichtigsten Trumpf aus der Hand geben würden, nämlich die Möglichkeit, mit dem Finger auf die "Feinde" zu zeigen. In der jetzigen Konstellation werden die Kosovoalbaner als die Feinde bezeichnet, die sich einen Teil serbischen Territoriums aneignen wollen. Europa, das dieses Ansinnen der Albaner unterstützt, wird folglich ebenfalls als Feind betrachtet.

    Die gesamte Rhetorik der rechten Politiker beruht auf dem Erkennen der "Feinde", die schuld sind an der ganzen nationalen Misere. Die Zahl der "Feinde" ist zu ihrem Leidwesen mit der Beendigung des Krieges im Ex-Jugoslawien drastisch zurückgegangen. Man könnte jetzt zwar auf die "inneren Feinde" zurückgreifen, aber sie sind nicht so nützlich wie die äußeren. Daher die Ablehnung jeder Lösung in der Kosovo-Frage, daher die Behauptung, Serbien brauche die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht.

    Als nächstes drängt sich die Frage auf, ob Europa mit seiner Forderung, Serbien solle bestimmte Bedingungen erfüllen, vor allem die der Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, den demokratischen Kräften in Serbien nicht einen Bärendienst erweist. Warum sollte die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal überhaupt eine Bedingung für den Beitritt zur europäischen Gemeinschaft sein? Serbien müsste auch als gleichberechtigtes Mitglied der Europäischen Union seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen, einschließlich denen, die es als Mitglied der Vereinten Nationen übernommen hat.

    So wie die Dinge jetzt gehandhabt werden, muss aber der Eindruck entstehen, man opfere Serbien, damit das Haager Tribunal sein Gesicht wahren kann. Mit dem Beitritt Serbiens zur Europäischen Union würden die Verfahren gegen Kriegsverbrecher wahrscheinlich sogar beschleunigt, denn Serbien wäre als Mitglied der Gemeinschaft einem stärkeren Druck ausgesetzt. Verfügt Europa doch über Bestrafungsmechanismen, die seine Mitglieder, also in dem Falle auch Serbien, zu einer engeren Zusammenarbeit zwingen können. Man sollte dabei auch nicht den psychologischen Aspekt außer Acht lassen: Serbien würde sich als EU-Mitglied nicht mehr als "der Andere" fühlen, sondern es wäre "wir", genauso wie alle anderen.

    Übrigens würde auch Europa eine andere Haltung einnehmen, es würde nach einer Lösung für einen Teil des gemeinsamen "wir" suchen. Doch so wie die Dinge jetzt stehen, sind die Probleme "der Anderen" für Europa weniger interessant und verpflichten es zu keiner Lösung.

    Viele Gründe sprechen dafür, die Isolation Serbiens möglichst bald zu beenden, doch es bleibt die Frage, ob das europäische "wir" überhaupt gewillt ist "die Anderen" anzuhören. Und wenn ja, ob es auch bereit wäre, seine eigene Haltung zu überprüfen? Für die Schaffung gegenseitigen Vertrauens wäre es von entscheidender Bedeutung, nicht das jetzige Verhältnis beizubehalten, in dem die eine Seite (das europäische "wir") von ihrer Unfehlbarkeit ausgeht.

    Europa ist nicht unfehlbar und kann es nicht sein. Das einzugestehen würde nur seine Größe beweisen. Das Bestehen auf Europas Unfehlbarkeit wird hingegen dazu führen, dass die Bevölkerung Serbiens sich noch weiter von der Idee der europäischen Integration entfernt. Europa kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, an einem so unbotmäßigem Land wie Serbien (oder in etwas geringerem Maße Kroatien) sei es nicht interessiert, es komme auch ohne ein solches Land zurecht, aber dadurch würde die gesamte Idee vom vereinigten Europa infrage gestellt. Wenn auch nur ein einziges Land draußen bleibt, kann man nicht mehr vom vereinigten Europa sprechen, und der Riss, der dadurch entstünde, könnte schnell größer werden und bewirken, dass Europa wie die "Titanic" untergeht.

    Es wäre spannend, sagt "der Andere" in mir, zuzusehen, wie Europa bei den Klängen von Wiener Walzern und schottischen Dudelsäcken versinkt; das wäre vielleicht Balsam für viele serbische Seelen. Die Abneigung, die man heute in Serbien gegenüber Europa hegt, geht übrigens quer durch alle Parteien, sie hat auch wenig mit politischer Vernunft oder mit den Lebensumständen zu tun. Sie ist bei den Linken und bei den Rechten, bei Nationalisten und Internationalisten, bei Anhängern der Integration und bei deren erbitterten Gegnern zu finden. Entstanden ist sie aus dem Gefühl, von Europa mehrmals enttäuscht worden zu sein, zuerst während des Krieges in Ex-Jugoslawien, dann bei der Vertreibung der Serben aus Kroatien und schließlich während der Kosovo-Krise und der drauffolgenden Bombardierung.

    Es ist müßig, auf diese Ereignisse näher einzugehen; wichtiger sind die Fragen, die sich aus ihnen ergeben: Wie jemandem vertrauen, der uns belogen und geschlagen hat? War es wirklich nötig, die Infrastruktur des Landes zu zerstören, um einen fragwürdigen Sieg zu erringen? Wie kann man erwarten, dass dieses Land jetzt mit Freude die Versöhnungshand ergreift? Wer garantiert, dass die Sieger in ihrem Hochmut nicht immer neue Bedingungen stellen werden? Und schließlich die schwierigste Frage: Warum sollte dieses Land überhaupt Mitglied der Europäischen Union werden wollen?

    Da ich in diesem Text "der Andere" bin, kann ich diese Frage nicht im Namen derer beantworten, die "wir" sind. Ich kann nur vermuten, dass sie dabei auf die wirtschaftlichen Vorteile verweisen würden, denn das ist der Bereich, in dem das vereinigte Europa am besten funktioniert. Aber so gesehen ist Europa schon längst in Serbien. Die großen Geldinstitute haben nicht auf die Lösung der Probleme gewartet, sie haben schon früh in Serbien Fuß gefasst und einen großen Teil der serbischen Banken geschluckt. Sie haben ein weites Kreditnetz gespannt und fangen, wie überall in der Welt, immer mehr Einwohner Serbiens damit ein. Der serbische Durchschnittsbürger hat sich schon so sehr in diesem Netz verheddert, dass ihm nur bleibt, möglichst viel zu arbeiten, weil er einzig auf diese Weise die Dinge, die er sein Eigen nennt - Haus, Möbel, Auto - auch weiterhin besitzen kann.

    Allerdings geht es weniger darum, ob die Ausgegrenzten, "die Anderen", Europa beitreten wollen, sondern ob Europa überhaupt willens ist, sie aufzunehmen. Man bedenke, dass schon bei der jüngsten Erweiterung, als auf einmal 12 neue Mitglieder dazukamen, viele Fragen bezüglich der Struktur, der Führungsgremien und des Verhältnisses der Union zu den einzelnen Mitgliedsstaaten nicht befriedigend gelöst waren. Wenn man nach mehreren Jahrzehnten so viele Strukturfragen noch nicht geklärt hatte, wie ist dann zu erwarten, dass in viel kürzerer Zeit die Probleme überwunden werden, die durch das jähe Anwachsen der Gemeinschaft entstehen? Zumal die Ansicht vertreten wird, dass es relativ bald zur Aufnahme der restlichen Länder, der bisher übergangenen Balkanstaaten und der Türkei, kommen muss?

    Es wäre logisch, diese Erweiterung erst vorzunehmen, wenn alle Probleme des jetzigen, erweiterten Europas gelöst sind. Andererseits entbehrt der Standpunkt nicht der Logik, dass es besser wäre, alle Länder auf einmal aufzunehmen und dadurch häufige Umstrukturierungen der europäischen Institutionen zu vermeiden. Letztlich bestehen keine so große Unterschiede zwischen den aufgenommenen Ländern wie etwa Bulgarien und Rumänien und denen, die noch nicht Mitglieder sind wie Kroatien und Serbien, wobei die letzteren für eine europäische Integration in vielerlei Hinsicht reifer sind. Die Ausgrenzung dieser Länder hat zur Verhärtung der bereits bestehenden Vorurteile geführt und den Europa-Gegnern Gelegenheit geboten, neue Ablehnungsstrategien zu entwickeln und dem eigenen Volk einzureden, dass Europa die schlechteste aller Optionen sei.

    Trotz allem bin ich überzeugt, dass das vereinigte Europa die bessere Alternative ist, nicht nur weil es dann mächtiger wird, sondern wegen der größeren Möglichkeiten, auf die Mitgliedsstaaten einzuwirken. Obwohl das vereinigte Europa die staatliche Souveränität nicht antastet und keine europäische aufzwingt, wird es vermutlich mit der Zeit zu Veränderungen in der Frage der nationalen Identität kommen.

    Die Freizügigkeit, die immer größere Angleichung der Lebensweisen und -standards, die Vermischung von Einflüssen und Traditionen werden dazu führen, dass die Identität immer weniger von streng nationalen Inhalten geprägt sein wird. Hinzu kommt, dass sich die Beitrittsländer verpflichten, ihre Gesetze den Vorgaben der Gemeinschaft anzupassen, insbesondere jenen, die sich auf Toleranz und Meinungsfreiheit beziehen, was auf jeden Fall zur Verringerung der inneren, aber auch der äußeren Spannungen führen wird.

    Es ist schrecklich, "der Andere" zu sein, aber das kann niemand verstehen, der immer "wir" war und nie "der Andere". Ich zum Beispiel bin in diesem Text "der Andere" und bin deshalb etwas durcheinander. Wäre ich ein Staat, wäre ich schon längst einem Staatsstreich zum Opfer gefallen oder ich hätte vor den Andersdenkenden kapituliert. Zum Glück bin ich kein Staat, sondern ein einsames Individuum, was aber nicht heißt, dass ich unbekümmert sein kann.

    Mich bedrückt das Zögern meines Landes, die Bereitschaft zum EU-Beitritt zu fördern. Mich bedrückt das Erstarken der nationalistischen Parteien und der nationalistischen Sprache, die von einigen demokratischen Parteien Serbiens übernommen wurde. Mich bedrückt die mangelnde Bereitschaft der Europäischen Union, einen Weg zu finden, die herrschenden Missverständnisse auszuräumen. Serbien braucht Europa im gleichen Maße, in dem Europa Serbien braucht, aber augenblicklich scheint keine der beiden Seiten diese Ansicht zu teilen.

    Wäre Serbien nicht so klein und Europa nicht so mächtig, würde man an die Geschichte der zwei sturen Hammel auf einem schmalen Steg denken, die einander nicht weichen wollen und deshalb beide abstürzen. Aber bei dem gegenwärtigen Machtverhältnis steht nur Europa auf dem Steg, während Serbien daneben trottet und, was noch schlimmer ist, sich trottend immer weiter entfernt. Wenn das andauert, wird Serbien womöglich nie mehr zurückkehren, und dieser Gedanke bedrückt mich mehr als alle anderen, weil ich dann keine Lösung mehr sehe.

    Ich kann mir gut vorstellen, dass ich mich Europa anpasse, aber kann sich Europa mir anpassen, zumal die Wut das einzige ist, das ich ihm garantieren kann? Ich weiß, dass dies absurd klingt, aber man sollte die Wahrheit nicht unter den Teppich kehren. Selbst derjenige, der Europa liebt, wird manchmal seiner Liebe überdrüssig, vor allem wenn sie nicht erwidert wird, dann spürt er Wut in sich hochkochen. Das folgende Wutgeschrei wird immer lauter, immer artikulierter, immer grollender. Europa meint in seiner Ichbezogenheit, das seien nur Gewitterdonner, aber es handelt sich nicht um ein meteorologisches Phänomen, sondern um Unzufriedenheit, die, wenn sie den kritischen Punkt erreicht, explodieren oder implodieren oder sich einfach über alles ergießen kann, wüstes Land hinterlassend.

    Es ist also außerordentlich wichtig, möglichst bald alle äußeren Spannungen abzubauen, und das erreicht man am ehesten, wenn man sie in innere Spannungen verwandelt, wenn man sie zu einem Teil des europäischen "wir" macht. Ich weiß, dass viele in Europa damit nicht einverstanden sein werden, aber solange es "die Anderen" gibt, wird Europa nicht zur Ruhe finden, und das europäische "wir" wird keine Sicherheit gewähren, so wie ein Fenster ohne Glas nicht vor Wind schützt.

    Das mit dem Wind ist gut, damit hast du es ihnen richtig gegeben, freut sich mein Freund, der Kurzgeschichtenautor, nachdem er den Essay gelesen hat. Was er von meinen anderen Argumenten halte, will ich wissen, aber er winkt nur ab. Prompt schließen sich ihm einige Passanten an, dann Frauen, Kinder, Landwirte, Rentner, und bald winkt ganz Serbien einträchtig ab, so dass mir nichts anderes bleibt, als dasselbe zu tun. Nun stehe ich da vom Wind umweht und hoffe, jemand wird doch merken, dass ich in die entgegengesetzte Richtung winke, zu Europa hin, das weit weg am Horizont langsam immer kleiner wird.


    (Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann)