Ich kam dieser Aufgabe freudig nach, denn damals schienen mir meine Gedanken zu dem Thema dringend ausgesprochen werden zu müssen. Gerade war ein neuer, unter die Haut gehender englischer Film über Guantanamo angelaufen, und ich war besorgt.
Ich meinte, Europa müsse jetzt unbedingt Stellung beziehen und erklären, die Vereinigten Staaten hätten für die Dauer der Regierung Bush ihr Recht verloren, für die Werte des Westens zu sprechen. Europa mag manch eine Lektion in Demokratie von seinen amerikanischen Vettern gelernt haben, aber nun sei es fähig, auf eigenen Füßen zu stehen, und das solle es auf der Stelle tun, indem es sich mit mehr als ein paar höflichen Gesten, die niemanden täuschten, vom gegenwärtigen amerikanischen Regime distanziere.
Mit Antiamerikanismus habe das rein gar nichts zu tun, wohl aber damit, jene aufgeklärten Werte zu verteidigen, die das beste Erbteil Europas und Amerikas darstellen. Solange Europa nicht mehr Rückgrat zeige, würde der Westen im Ganzen über denselben Leisten geschlagen werden wie die Regierung Bush.
Die Konferenz war eine sehr höfliche Veranstaltung, und meine Worte wurden höflich überhört, bis ein englischer Lord, ein Mitglied des Oberhauses, mich zur Seite nahm. "Ich verstehe wohl, was Sie sagen möchten, aber es ist vergebliche Liebesmüh. England und Deutschlang werden niemals gemeinsam gegen den Irakkrieg Stellung beziehen. Wir fühlen uns zu schuldig". Schuldig? "Ich verstehe, warum sich die Deutschen schuldig fühlen", antwortete ich ihm, "obwohl ich glaube, dass sie sich hier täuschen. Aber weshalb sollten die Briten sich schuldig fühlen?" "Kolonialismus", meinte dieser Aristokrat. "Schließlich waren wir es, die all diese Grenzen falsch gezogen haben, wir tragen also einen beträchtlichen Teil Mitschuld am Zusammenbruch des Mittleren Ostens. Das und die Tatsache, dass Amerika uns im 2. Weltkrieg gerettet hat - jeder von uns würde sich schuldig fühlen, wenn wir uns gegen Amerika verbündeten."
Ich bemühte mich sehr, ihm zu erklären, dass es viele Amerikaner gebe - zur Zeit stellten sie die Mehrheit -, die darin keinen Angriff auf sich sehen würden. Im Gegenteil: Die meisten hätten den Eindruck, ihr Land sei auf eine Weise vereinnahmt worden, die gegen dessen Interessen und Werte verstößt. Mit offenen Armen würden sie freundliche Verbündete empfangen, die zusammenstehen und uns im Namen der von uns allen geteilten Werte zur Vernunft brächten. Doch was immer ich auch sagte, es war sinnlos. Schuld ist ein mächtiges Hindernis für jede Form des Handelns.
Nun ist ein Jahr vergangen und Amerika braucht immer noch eine Führung und würde kräftige Anstöße von seinen Verbündeten begrüßen. Doch Europa hat sich anscheinend entschlossen, stillzuhalten und abzuwarten, ob sich die weltpolitische Lage von alleine verbessert. Da sind die Gesundheitsreform, die Steuerreform, die Türkeifrage oder nachfolgende Fragen der EU-Erweiterung oder wer weiß was für Probleme, die Politiker in Atem halten.
Dennoch frage ich mich, ob mein englischer Gesprächspartner nicht die tiefere Ursache für Europas Schweigen diagnostiziert hat. Die Franzosen könnten wegen Algerien Schuldgefühle haben. Die spanische Eroberung der Neuen Welt war die brutalste überhaupt. Selbst die netten Holländer haben in Indonesien Verbrechen begangen, und dem kleinen Belgien gelang es, im Kongo seine eigene Hölle zu schaffen. Die Polen sehen sich selbst als Opfer der Geschichte und scheinen sich nicht sehr wegen irgendetwas schuldig zu fühlen, aber mit der Zeit und ein wenig Anstrengung könnten auch sie dem Klub beitreten.
Mißverstehen Sie mich nicht: Selbstkritik gehört zu den großen Tugenden der Aufklärung, und nirgendwo ist sie exemplarischer zu finden als in Europa. Was der Kontinent in den letzten 50 Jahren an Seelenerforschung gesehen hat, gehört tatsächlich zu seinen großen Leistungen - die bei den offiziellen Festakten wenig beachtet wurden, aus guten Gründen. Eine Nation oder ihre Vertreter würden unerträglich selbstgerecht und selbstzufrieden erscheinen, wenn sie sich zu ihrer Selbstkritik gratulierten. Lassen Sie sich daher von einer Außenstehenden sagen: Von ein paar Lücken und kleinen Unterschieden im Tempo abgesehen haben Sie gute Arbeit geleistet.
Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, allerdings mit nicht ganz gesunden Nebenwirkungen. Wie mein Gespräch mit dem englischen Lord zeigt, kann Selbstkritik in Schuldgefühle umschlagen, die komplett lähmen. Meiner Erfahrung nach sind Europäer so von Selbstzweifel geplagt, dass sie Gefahr laufen, untätig zu werden - nicht nur in gemeinsamen außenpolitischen Fragen, sondern auch bei sehr viel grundlegenderen Problemen. In der Tat bezweifeln die meisten Europäer, dass es Europa wirklich gibt, außer als eine (reichlich unbestimmte!) geographische Einheit und eine Reihe von Wirtschaftsabkommen.
Auch hier kann eine Außenperspektive hilfreich sein. Fragen Sie mal einen Afrikaner, Asiaten oder Amerikaner, ob Europa existiert, und Sie werden schallendes Gelächter hören. US-Bürger werden schnell bei der Hand sein, ihre eigenen regionalen Unterschiede herauszustreichen.
In Geschichte, Geographie, Klima und Kultur, könnten Hawaii und Kansas nicht weiter voneinander entfernt sein, denkt man jedoch - falls man es überhaupt tut - an diese Unterschiede, dann um Amerikas Vielfalt zu loben, nicht um sich zu fragen, ob die Union aufgelöst werden sollte.
Natürlich ist die europäische Einheit nicht genauso wie die amerikanische, und darauf sollte sie auch nicht ihren Ehrgeiz richten. Milan Kundera formulierte sein Ideal von Europa als maximale Vielfalt auf minimalem Raum. Das ist ein schönes Ideal.
Die Neigung der Menschheit, ihre eigenen Leistungen für selbstverständlich zu erachten, ist nahezu bodenlos, es lohnt sich daher, daran zu erinnern, was Europa im Angebot hat: Nicht nur seine eigenen Kulturen, auch die anderer Weltgegenden sind bemerkenswert präsent. Wieviel vergangene Sünden auch in dem Wort "eurozentrisch" stecken mögen, heute bietet Europa mehr Gelegenheiten, etwas von und über andere Kulturen zu lernen, als irgendein anderer Ort auf der Welt.
An jedem beliebigen Abend in Berlin oder Paris kann man Filme aus der Mongolei oder dem Senegal sehen, sich an iranischer Dichtung oder koreanischem Ballett erfreuen, Vorträge über kroatische Literatur oder über US-amerkanische Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern hören. All das summiert sich zu einem Bewußtsein von der einen Welt, das vermutlich einmalig ist.
Aber verlassen wir einen Augenblick die Überlegungen zur politischen Kultur und betrachten das Alltagleben. Vom Ausland aus gesehen kann irgendeine der hundert Facetten des alltäglichen Lebens eine europäische Stadt paradiesisch erscheinen lassen. Nehmen wir das: Die Eingangstür meines Mietshauses ist aus Glas. Türsteher gibt es hier nicht, und trotzdem fürchtet sich niemand vor Einbrechern.
14-jährige Mädchen gehen nach einem Rockkonzert nachts in eine Pizzeria und die Eltern bleiben nicht wach, um sie abzuholen. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind billig und sicher, Gewaltverbrechen selten.
Wenn ein Angestellter innerhalb seines vier- bis sechswöchigen Jahresurlaubs krank wird, behält er Urlaubstage übrig. Die Vorstellung einer festen Anzahl von Krankheitstagen, unabhängig davon, ob man nun wirklich krank oder gesund ist, geht in keinen europäischen Kopf. In Amerika aber ist das normal.
Was für Europäer eine Selbstverständlichkeit ist, hat mit dem Leben eines Durchschnittsamerikaners so wenig zu tun, - vom dem eines Äthiopiers oder Bolivianers ganz zu schweigen -, dass die meisten Außenstehenden es für rein utopisch halten. Obwohl sie in der Regel weitaus besser über die Lage in Amerika unterrichtet sind als Amerikaner über die Lage in Europa, finden Europäer die amerikanischen Zustände oft so hinterwäldlerisch, dass sie sie nur schwer verstehen.
Selbst konservative Regierungen würden es nicht wagen, die sozialdemokratischen Rahmenbedingungen anzutasten, die in Wohnen, Gesundheitsfürsorge und Bildung keine Wohltaten, sondern Rechte sehen. Für sie geht es nicht nur darum, Gleichheit zu verteidigen, es geht vielmehr um die Verteidigung der Demokratie selbst.
Jeder, der mehr als eine Arbeitsstelle braucht, um seine Familie zu ernähren, oder zwei Wochen Urlaub als eine Vergünstigung nach Jahren treuer Dienste betrachtet, hat vermutlich nicht viel Energie, um über die politischen Bedingungen seines Lebens nachzudenken. Mit der Förderung von Kultur und der nötigen Freizeit, um Kultur zu genießen, unterstützen europäische Regierungen nicht nur Erholung oder Genuß, sondern auch die Grundlagen für Bürgerbeteiligung.
Neben Zuständen wie diesen lassen Ungeheuerlichkeiten wie Mangelernährung und Obdachlosigkeit, Kinder mit Waffen, aber ohne Gesundheitsvorsorge, eine zunehmende Überfüllung der Gefängnisse und ein sinkender Lebensstandard große Teile Amerikas wie Hobbes' Naturzustand aussehen.
Man könnte darin eine ironische Bestätigung der These Robert Kagans sehen, eines neokonservativen Sprachrohrs der Regierung Bush, der vor einigen Jahren mit einem Buch Furore machte, in dem er behauptete, Amerikaner seien Hobbesianer und Europäer Kantianer. Der ununterbrochene Kreislauf von Furcht und Unterwerfung, der nach Hobbes die Welt regiert, bringt tatsächlich die neokonservative Außenpolitik auf den Punkt. Sie hat mit ihrem endlosen und unvorhersagbaren Krieg gegen den Terror gute Aussicht, das Leben in absehbarer Zukunft "nasty, brutish and short" zu machen.
Obgleich Innen- und Außenpolitik nur wenig klare innere Verbindungen haben, beeinflussen sie einander doch stark. Eine Frage der Notwendigkeit ist das nicht, wohl aber eine Frage dessen, was man für natürlich hält. Lebt man unter kriegsähnlichen Bedingungen, hält man sie für das Gewöhnliche. Wenn ein Anwalt aus Baltimore fragt, ob Europas Straßen immer noch so sicher seien, wie vor 20 Jahren, setzt er stillschweigend voraus, dass die Dinge sich von Natur verschlechtern.
Glaubt man erst einmal, dass sich allein das Tempo des Niedergangs ändern läßt, hat man schon eine Welt akzeptiert, in der der ewige Krieg zu den Rahmenbedingungen gehört.
Kein Wunder: Wenn man in einer Welt lebt, in der Klassen- und Rassenschranken jedes Territorium in Straßen aufteilt, auf denen man seine Kinder spielen läßt, und in solche, wo man es ihnen verbietet, kann man sich nur schwer eine andere vorstellen. Die Gewaltverhältnisse zuhause bereiten der amerikanischen Gewalt im Ausland den Weg und lassen beides wie unerfreuliche, aber unvermeidliche Bestandteile einer Welt erscheinen, in der Hobbes' Prinzipien herrschen.
Kagans transatlantische Analysen stießen aus historischen Gründen auf breite Kritik. Tony Judd zum Beispiel erinnerte die Leser daran, dass solche von Kagan scharf kritisierten internationalen Strukturen wie die Vereinten Nationen tatsächlich das Werk starker Mächte - vor allem der USA - waren, als Europa in Trümmern lag. "Die Normen, gegen die Washington zur Zeit verstößt, sind seine eigenen", schlussfolgert Judd.
Doch trotz ihrer beträchlichen Fehlleistungen behauptet sich Kagans Ansicht - nicht nur als Diskussionsgegenstand in außenpolitischen Kreisen auf der ganzen Welt, sondern auch als Grundlage der politischen Grundsätze des Pentagon.
Interessanter noch als einzelne Fehler in Kagans Analyse ist jedoch die Art, wie sie die Geschichte auf den Kopf stellt. Tatsächlich kehrt sein zweites Buch alle Schlussfolgerungen des ersten um, ohne es offen auszusprechen: Als der Irakkrieg immer mehr in eine Katastrophe abglitt, tauschte die Regierung Bush ihre Rede vom Alleingang gegen die Rede vom Universalismus ein. Und das war nun wirklich in Übereinstimmung mit Amerikas Selbstverständnis: Seit ihren Anfängen hat man die Vereinigten Staaten als Fleisch gewordene Aufklärung betrachtet. Europa mag die Aufklärung erfunden haben, aber nur Amerika war in der Lage, sie zu verwirklichen.
Europäische Denker spekulierten darüber, ob die Menschen gleich geschaffen waren; amerikanische Denker schrieben es ins Gesetz. Friedrich der Große schmeichelte Voltaire ohne Ende, aber er vertrieb ihn aus Potsdam; Katherina die Große lud Diderot ein, das russische Bildungssystem umzugestalten, aber ignorierte hartnäckig seine Pläne. Weder die Polen noch die Korsen zeigten sich ernsthaft an den Verfassungen interessiert, die Rousseau für sie entworfen hatte. Europa schien in ein Netz von Hierarchien und Bürokratien verstrickt, in dem keine neue Idee gedeihen konnte.
Das Gefühl zu ersticken drückte sich selbst in den für die Erde verwandten Metaphern aus: Europas erschöpfter Boden hatte gegen das jungfräuliche Land des neuen Kontinents keine Chance. Und die aus Frankreich eingewanderten Kolonialisten sagten sich dreizehn Jahre vor ihren daheimgebliebenen Kollegen von ihrem Monarchen los, wie auch die in Philadelphia verfaßte Bill of Rights die Pariser Erklärung der Menschenrechte befruchtete. Thomas Jefferson schrieb: "Wir können nicht mehr sagen, es gebe nichts Neues mehr unter der Sonne, denn dieses ganze Kapitel in der Menschheitsgeschichte ist neu."
Seit Salomos Tagen mag alles mehr oder weniger derselbe Kreislauf aus Kampf, Langeweile und Eitelkeit gewesen sein, aber nun, so Thomas Paine, "steht es in unserer Macht, die Welt von neuem beginnen zu lassen".
Europas Bewunderung für Amerika war nie ganz frei von Herablassung. Mitunter machte sie sich in regelrechter Feindseligkeit Luft, aber im großen und ganzen betrachtete man die Amerikaner mit den zwiespältigen Gefühlen, die Erwachsene häufig Kindern entgegenbringen: mit einer Mischung aus Staunen und Neid. Die amerikanische Überzeugung, dass guter Wille und harte Arbeit die Welt zu einem besseren Ort machen können, wird von Europäer häufig mit amüsierter Distanz, wenn nicht mit offener Verachtung betrachtet. Doch selbst wenn sie unseren Glauben, die Welt lasse sich auf den Flügeln von Ideen verbessern, für naiv und kindisch halten, fühlen sie sich nichtsdestoweniger sehnsüchtig davon angezogen.
Europäer nähern sich der Welt mit einer Furcht, jedenfalls einer Vorsicht, die auf der jahrhundertealten Beobachtung beruht, wie vieles doch fehlschlägt. Amerikaner hatten weniger Erfahrungen, über die die Hoffnung erst triumphieren musste. Ideale waren der Stoff, aus dem Amerikaner gemacht worden sind - und wenn unsere Furchtlosigkeit oft Gegenstand der Belustigung war, so war sie doch auch ein Gegenstand der Bewunderung.
Bewunderung, Freude und Sehnsucht. Amerikaner mögen über die alltäglichen Freuden Europas staunen, aber Europäer können über alltägliche, für Amerikaner ganz selbstverständliche Erfahrungen geradezu entzückt sein, wie ich kürzlich erlebte, als ich einen Besucher aus Europa durch New York führte.
Eine von uns unternommene Busfahrt war selbst für New Yorker Verhältnisse ungewöhnlich, aber in Europa wäre sie vermutlich unvorstellbar. Es war für einen Wintertag unheimlich warm, und die schwarze Busfahrerin war in Feiertagslaune. "Leute, packt den Grill aus", rief sie heiter über den Lautsprecher aus. "Nächste Haltestelle, Florida." Als jemand nach Kleingeld kramte, ließ sie ihn umsonst mitfahren, und sie brachte uns ständig zum Lachen, bis wir gar nicht mehr aufhören konnten. Danach besuchten wir ein Fest im Haus eines bekannten Professors an der Columbia Universität, auf dem mein Freund die Formlosigkeit und Lebhaftigkeit der Gespräche genoß. "Jeder hier scheint wirklich zu meinen, was er sagt", stellte er fest, und obwohl in der Neuen wie in der Alten Welt kräftig gelogen wird, war an dem, was er sagte, etwas Wahres dran - und sei es nur die Tatsache, dass in Amerika selbst die Lügen freimütig sind.
Damit hätten wir ein Paradox. Auf beiden Seiten des Atlantiks scheinen die wirklichen Verhältnisse umgedreht zu sein. Das Blutvergießen zwischen Nachbarn und die kolonialen Eroberungen, die einst die europäische Außenpolitik bestimmten, sind verschiedenen Vertragswerken gewichen; die Ungerechtigkeiten und Hierarchien, die einst der jeweiligen Innenpolitik zugrundelagen, sind durch sozialdemokratische Strukturen ersetzt worden, die ihresgleichen suchen. Europas Rahmenbedingungen sind so kantianisch wie nur etwas, während Amerika bestrebt scheint, eine Welt zu entwickeln, die der Hobbes'schen immer ähnlicher wird.
Die Realitäten der beiden Kontinente mögen sich zwar enorm gewandelt haben, doch die Ideen, die sie antreiben, sind recht stabil geblieben. Amerikaner glauben an die meisten Träume der Aufklärung und an ihre Fähigkeit, sie Wirklichkeit werden zu lassen; Europäer glauben an die bedrückenden Abwägungen der Realpolitik. Amerikaner mögen dabei sein, einen Hobbes'schen Dschungel zu schaffen, aber sie sehen sich als Diener von Rechtsidealen. Europäer mögen eine kantische Gartenlaube errichtet haben, aber sie setzen ihren Stolz darein, bei ihren Leistungen so tief wie möglich zu stapeln. Wenn man sie hört, bekommt man Angst, Europa könnte den Blick für seine Realitäten verlieren, wenn es nicht anfängt zu träumen.
Die Weigerung der Europäer, sich in idealistischen Kategorien zu beschreiben, hängt zum Teil mit der von mir vorhin gelobten Selbstkritik zusammen. Nachdenkliche Europäer wissen, dass Eintreten für Gerechtigkeit zuhause erst zum Teil Früchte trägt und in anderen Ländern gerade einmal zarte Knospen treibt. Man braucht nur einen billigen Urlaub in Goa zu machen, um zu sehen, dass das europäische Paradies auf einem internationalen Fegefeuer beruht.
Wenn eine Europäerin erklärt, ihre Welt sei noch weit von ihren Idealen entfernt, dann tritt sie gerade für sie ein: Treue zu einem Ideal bedeutet, sich aufrichtig Rechenschaft darüber zu geben, wie wenig es erst realisiert ist.
Damit ist die Kluft freilich nur zu einem kleinen Teil erklärt. Wenn Europäer sich weigern, wie Kantianer zu reden, dann ist das in eine viel größere Frage eingebettet. Europäer nahezu aller Schichten und Länder finden ein Reden über Moral leicht peinlich, sie werden deshalb die letzten sein, die Sachlage moralisch beschreiben. Doch das Bewußtsein, dass hier etwas Tiefes fehlt, ist bei Europäern wie Amerikanern gleichermaßen lebendig.
Die Worte, mit denen sie ihr Angezogensein beschreiben, mögen nicht mehr so überschwenglich wie im 18. Jahrhundert sein, doch Europäer fühlen sich aus demselben Grund von Amerikanern wie Clinton und Kennedy fasziniert, aus dem ihre Vorfahren Franklin und Paine zujubelten. Es ist der Reiz einer Welt, die nicht von den Traditionen der Vergangenheit geleitet wird, sondern von Visionen für die Zukunft.
Viele nachdenkliche Amerikaner meinen, ihr eigener demokratischen Habitus sei bloß eine Sache der Gepflogenheit. Die jüngsten Weigerungen, zu praktizieren, was sie predigen, lassen amerikanische Ideale leicht wie einen Schwindel aussehen: Wenn Bekenntnisse zu Menschenrechten durch das Eintreten für eine Legalisierung der Folter ruiniert werden - warum sollte irgend jemand noch glauben, dass diese Ideale noch einen Gehalt haben? Bei soviel Gründen für Skepsis, liegt der Schluss nahe, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen beider Kontinente nichts Tieferes spiegeln als einen Mangel an Selbsterkenntnis.
Doch Amerikas Bekenntnis zu Idealen als bloße Heuchelei abzutun, würde heißen, sich hinter die reduktionistische Weltsicht eines Hobbes zu stellen: Real seien nur die materiellen Bedingungen, und alles andere sei Humbug. Diese spezifische Realitätsauffassung enthält keine Selbstbeschreibungen, Träume oder eine Reihe anderer Faktoren, die für die Identität eines Volkes und die ihrer Nation wesentlich sind.
Verwerfen wir den Reduktionismus und betrachten etwas anderes: In Europa sind die Institutionen weitaus demokratischer als die Instinkte, in Amerika ist genau das Umgekehrte der Fall. Amerikaner sind von Kopf bis Fuß Demokraten, Europäer singen ein einstudiertes Lied. Nichts gegen Studieren, doch wer zu spät damit anfängt, wird wahrscheinlich nicht sehr in die Tiefe gehen, was jeder bezeugen wird, der je einen europäischen Sozialdemokraten hat ersterben sehen, wenn er eines Staatsministers ansichtig wird.
Amerikanische Träume und europäische Realitäten, das wäre eine Konbination, die auszuprobieren sich lohnte. Während Europa eifrig debattiert, ob es als ein Ganzes existiert oder nicht, und seine Sünden bekennt, befindet sich die übrige Welt in der Krise und auf der Suche nach Vorbildern. Nein, Europa ist kein Monolith, aber von außen gesehen ist es doch ein Ganzes. Nein, es ist nicht Utopia, aber von außen gesehen ist es doch besser als die Alternativen. Europa liefert Vorbilder für das Miteinander von Vielfalt, auch wenn es damit ringt; für Achtung vor Kultur und Tradition, auch wenn es sich selbst neugestaltet, und (schließlich!) für Konfliktlösungen durch Verhandeln, für den Schutz der Umwelt. Wenn Europäer nur an sich selbst glaubten, könnten sie eine kraftvolle und produktive Rolle in einer Welt spielen, die sie dringend braucht.
Zu den Feierlichkeiten anläßlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge fand sich in der offiziellen Pressemitteilung ein "Informationsangebot", das sich um Fragen dreht wie: Was bedeutet Europa für meinen Arbeitsplatz? Welche Vorteile bringt mir die EU? Solche Frage führen nirgendwo hin. Wenn ich sie höre, muss ich an John F. Kennedys Rede bei seiner Amtseinführung denken: "Frag nicht, was dein Land für dich tun kann; frage, was du für dein Land tun kannst." Wird Europa ein Widerhall von Amerikas Träumen sein können?
Ich meinte, Europa müsse jetzt unbedingt Stellung beziehen und erklären, die Vereinigten Staaten hätten für die Dauer der Regierung Bush ihr Recht verloren, für die Werte des Westens zu sprechen. Europa mag manch eine Lektion in Demokratie von seinen amerikanischen Vettern gelernt haben, aber nun sei es fähig, auf eigenen Füßen zu stehen, und das solle es auf der Stelle tun, indem es sich mit mehr als ein paar höflichen Gesten, die niemanden täuschten, vom gegenwärtigen amerikanischen Regime distanziere.
Mit Antiamerikanismus habe das rein gar nichts zu tun, wohl aber damit, jene aufgeklärten Werte zu verteidigen, die das beste Erbteil Europas und Amerikas darstellen. Solange Europa nicht mehr Rückgrat zeige, würde der Westen im Ganzen über denselben Leisten geschlagen werden wie die Regierung Bush.
Die Konferenz war eine sehr höfliche Veranstaltung, und meine Worte wurden höflich überhört, bis ein englischer Lord, ein Mitglied des Oberhauses, mich zur Seite nahm. "Ich verstehe wohl, was Sie sagen möchten, aber es ist vergebliche Liebesmüh. England und Deutschlang werden niemals gemeinsam gegen den Irakkrieg Stellung beziehen. Wir fühlen uns zu schuldig". Schuldig? "Ich verstehe, warum sich die Deutschen schuldig fühlen", antwortete ich ihm, "obwohl ich glaube, dass sie sich hier täuschen. Aber weshalb sollten die Briten sich schuldig fühlen?" "Kolonialismus", meinte dieser Aristokrat. "Schließlich waren wir es, die all diese Grenzen falsch gezogen haben, wir tragen also einen beträchtlichen Teil Mitschuld am Zusammenbruch des Mittleren Ostens. Das und die Tatsache, dass Amerika uns im 2. Weltkrieg gerettet hat - jeder von uns würde sich schuldig fühlen, wenn wir uns gegen Amerika verbündeten."
Ich bemühte mich sehr, ihm zu erklären, dass es viele Amerikaner gebe - zur Zeit stellten sie die Mehrheit -, die darin keinen Angriff auf sich sehen würden. Im Gegenteil: Die meisten hätten den Eindruck, ihr Land sei auf eine Weise vereinnahmt worden, die gegen dessen Interessen und Werte verstößt. Mit offenen Armen würden sie freundliche Verbündete empfangen, die zusammenstehen und uns im Namen der von uns allen geteilten Werte zur Vernunft brächten. Doch was immer ich auch sagte, es war sinnlos. Schuld ist ein mächtiges Hindernis für jede Form des Handelns.
Nun ist ein Jahr vergangen und Amerika braucht immer noch eine Führung und würde kräftige Anstöße von seinen Verbündeten begrüßen. Doch Europa hat sich anscheinend entschlossen, stillzuhalten und abzuwarten, ob sich die weltpolitische Lage von alleine verbessert. Da sind die Gesundheitsreform, die Steuerreform, die Türkeifrage oder nachfolgende Fragen der EU-Erweiterung oder wer weiß was für Probleme, die Politiker in Atem halten.
Dennoch frage ich mich, ob mein englischer Gesprächspartner nicht die tiefere Ursache für Europas Schweigen diagnostiziert hat. Die Franzosen könnten wegen Algerien Schuldgefühle haben. Die spanische Eroberung der Neuen Welt war die brutalste überhaupt. Selbst die netten Holländer haben in Indonesien Verbrechen begangen, und dem kleinen Belgien gelang es, im Kongo seine eigene Hölle zu schaffen. Die Polen sehen sich selbst als Opfer der Geschichte und scheinen sich nicht sehr wegen irgendetwas schuldig zu fühlen, aber mit der Zeit und ein wenig Anstrengung könnten auch sie dem Klub beitreten.
Mißverstehen Sie mich nicht: Selbstkritik gehört zu den großen Tugenden der Aufklärung, und nirgendwo ist sie exemplarischer zu finden als in Europa. Was der Kontinent in den letzten 50 Jahren an Seelenerforschung gesehen hat, gehört tatsächlich zu seinen großen Leistungen - die bei den offiziellen Festakten wenig beachtet wurden, aus guten Gründen. Eine Nation oder ihre Vertreter würden unerträglich selbstgerecht und selbstzufrieden erscheinen, wenn sie sich zu ihrer Selbstkritik gratulierten. Lassen Sie sich daher von einer Außenstehenden sagen: Von ein paar Lücken und kleinen Unterschieden im Tempo abgesehen haben Sie gute Arbeit geleistet.
Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, allerdings mit nicht ganz gesunden Nebenwirkungen. Wie mein Gespräch mit dem englischen Lord zeigt, kann Selbstkritik in Schuldgefühle umschlagen, die komplett lähmen. Meiner Erfahrung nach sind Europäer so von Selbstzweifel geplagt, dass sie Gefahr laufen, untätig zu werden - nicht nur in gemeinsamen außenpolitischen Fragen, sondern auch bei sehr viel grundlegenderen Problemen. In der Tat bezweifeln die meisten Europäer, dass es Europa wirklich gibt, außer als eine (reichlich unbestimmte!) geographische Einheit und eine Reihe von Wirtschaftsabkommen.
Auch hier kann eine Außenperspektive hilfreich sein. Fragen Sie mal einen Afrikaner, Asiaten oder Amerikaner, ob Europa existiert, und Sie werden schallendes Gelächter hören. US-Bürger werden schnell bei der Hand sein, ihre eigenen regionalen Unterschiede herauszustreichen.
In Geschichte, Geographie, Klima und Kultur, könnten Hawaii und Kansas nicht weiter voneinander entfernt sein, denkt man jedoch - falls man es überhaupt tut - an diese Unterschiede, dann um Amerikas Vielfalt zu loben, nicht um sich zu fragen, ob die Union aufgelöst werden sollte.
Natürlich ist die europäische Einheit nicht genauso wie die amerikanische, und darauf sollte sie auch nicht ihren Ehrgeiz richten. Milan Kundera formulierte sein Ideal von Europa als maximale Vielfalt auf minimalem Raum. Das ist ein schönes Ideal.
Die Neigung der Menschheit, ihre eigenen Leistungen für selbstverständlich zu erachten, ist nahezu bodenlos, es lohnt sich daher, daran zu erinnern, was Europa im Angebot hat: Nicht nur seine eigenen Kulturen, auch die anderer Weltgegenden sind bemerkenswert präsent. Wieviel vergangene Sünden auch in dem Wort "eurozentrisch" stecken mögen, heute bietet Europa mehr Gelegenheiten, etwas von und über andere Kulturen zu lernen, als irgendein anderer Ort auf der Welt.
An jedem beliebigen Abend in Berlin oder Paris kann man Filme aus der Mongolei oder dem Senegal sehen, sich an iranischer Dichtung oder koreanischem Ballett erfreuen, Vorträge über kroatische Literatur oder über US-amerkanische Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern hören. All das summiert sich zu einem Bewußtsein von der einen Welt, das vermutlich einmalig ist.
Aber verlassen wir einen Augenblick die Überlegungen zur politischen Kultur und betrachten das Alltagleben. Vom Ausland aus gesehen kann irgendeine der hundert Facetten des alltäglichen Lebens eine europäische Stadt paradiesisch erscheinen lassen. Nehmen wir das: Die Eingangstür meines Mietshauses ist aus Glas. Türsteher gibt es hier nicht, und trotzdem fürchtet sich niemand vor Einbrechern.
14-jährige Mädchen gehen nach einem Rockkonzert nachts in eine Pizzeria und die Eltern bleiben nicht wach, um sie abzuholen. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind billig und sicher, Gewaltverbrechen selten.
Wenn ein Angestellter innerhalb seines vier- bis sechswöchigen Jahresurlaubs krank wird, behält er Urlaubstage übrig. Die Vorstellung einer festen Anzahl von Krankheitstagen, unabhängig davon, ob man nun wirklich krank oder gesund ist, geht in keinen europäischen Kopf. In Amerika aber ist das normal.
Was für Europäer eine Selbstverständlichkeit ist, hat mit dem Leben eines Durchschnittsamerikaners so wenig zu tun, - vom dem eines Äthiopiers oder Bolivianers ganz zu schweigen -, dass die meisten Außenstehenden es für rein utopisch halten. Obwohl sie in der Regel weitaus besser über die Lage in Amerika unterrichtet sind als Amerikaner über die Lage in Europa, finden Europäer die amerikanischen Zustände oft so hinterwäldlerisch, dass sie sie nur schwer verstehen.
Selbst konservative Regierungen würden es nicht wagen, die sozialdemokratischen Rahmenbedingungen anzutasten, die in Wohnen, Gesundheitsfürsorge und Bildung keine Wohltaten, sondern Rechte sehen. Für sie geht es nicht nur darum, Gleichheit zu verteidigen, es geht vielmehr um die Verteidigung der Demokratie selbst.
Jeder, der mehr als eine Arbeitsstelle braucht, um seine Familie zu ernähren, oder zwei Wochen Urlaub als eine Vergünstigung nach Jahren treuer Dienste betrachtet, hat vermutlich nicht viel Energie, um über die politischen Bedingungen seines Lebens nachzudenken. Mit der Förderung von Kultur und der nötigen Freizeit, um Kultur zu genießen, unterstützen europäische Regierungen nicht nur Erholung oder Genuß, sondern auch die Grundlagen für Bürgerbeteiligung.
Neben Zuständen wie diesen lassen Ungeheuerlichkeiten wie Mangelernährung und Obdachlosigkeit, Kinder mit Waffen, aber ohne Gesundheitsvorsorge, eine zunehmende Überfüllung der Gefängnisse und ein sinkender Lebensstandard große Teile Amerikas wie Hobbes' Naturzustand aussehen.
Man könnte darin eine ironische Bestätigung der These Robert Kagans sehen, eines neokonservativen Sprachrohrs der Regierung Bush, der vor einigen Jahren mit einem Buch Furore machte, in dem er behauptete, Amerikaner seien Hobbesianer und Europäer Kantianer. Der ununterbrochene Kreislauf von Furcht und Unterwerfung, der nach Hobbes die Welt regiert, bringt tatsächlich die neokonservative Außenpolitik auf den Punkt. Sie hat mit ihrem endlosen und unvorhersagbaren Krieg gegen den Terror gute Aussicht, das Leben in absehbarer Zukunft "nasty, brutish and short" zu machen.
Obgleich Innen- und Außenpolitik nur wenig klare innere Verbindungen haben, beeinflussen sie einander doch stark. Eine Frage der Notwendigkeit ist das nicht, wohl aber eine Frage dessen, was man für natürlich hält. Lebt man unter kriegsähnlichen Bedingungen, hält man sie für das Gewöhnliche. Wenn ein Anwalt aus Baltimore fragt, ob Europas Straßen immer noch so sicher seien, wie vor 20 Jahren, setzt er stillschweigend voraus, dass die Dinge sich von Natur verschlechtern.
Glaubt man erst einmal, dass sich allein das Tempo des Niedergangs ändern läßt, hat man schon eine Welt akzeptiert, in der der ewige Krieg zu den Rahmenbedingungen gehört.
Kein Wunder: Wenn man in einer Welt lebt, in der Klassen- und Rassenschranken jedes Territorium in Straßen aufteilt, auf denen man seine Kinder spielen läßt, und in solche, wo man es ihnen verbietet, kann man sich nur schwer eine andere vorstellen. Die Gewaltverhältnisse zuhause bereiten der amerikanischen Gewalt im Ausland den Weg und lassen beides wie unerfreuliche, aber unvermeidliche Bestandteile einer Welt erscheinen, in der Hobbes' Prinzipien herrschen.
Kagans transatlantische Analysen stießen aus historischen Gründen auf breite Kritik. Tony Judd zum Beispiel erinnerte die Leser daran, dass solche von Kagan scharf kritisierten internationalen Strukturen wie die Vereinten Nationen tatsächlich das Werk starker Mächte - vor allem der USA - waren, als Europa in Trümmern lag. "Die Normen, gegen die Washington zur Zeit verstößt, sind seine eigenen", schlussfolgert Judd.
Doch trotz ihrer beträchlichen Fehlleistungen behauptet sich Kagans Ansicht - nicht nur als Diskussionsgegenstand in außenpolitischen Kreisen auf der ganzen Welt, sondern auch als Grundlage der politischen Grundsätze des Pentagon.
Interessanter noch als einzelne Fehler in Kagans Analyse ist jedoch die Art, wie sie die Geschichte auf den Kopf stellt. Tatsächlich kehrt sein zweites Buch alle Schlussfolgerungen des ersten um, ohne es offen auszusprechen: Als der Irakkrieg immer mehr in eine Katastrophe abglitt, tauschte die Regierung Bush ihre Rede vom Alleingang gegen die Rede vom Universalismus ein. Und das war nun wirklich in Übereinstimmung mit Amerikas Selbstverständnis: Seit ihren Anfängen hat man die Vereinigten Staaten als Fleisch gewordene Aufklärung betrachtet. Europa mag die Aufklärung erfunden haben, aber nur Amerika war in der Lage, sie zu verwirklichen.
Europäische Denker spekulierten darüber, ob die Menschen gleich geschaffen waren; amerikanische Denker schrieben es ins Gesetz. Friedrich der Große schmeichelte Voltaire ohne Ende, aber er vertrieb ihn aus Potsdam; Katherina die Große lud Diderot ein, das russische Bildungssystem umzugestalten, aber ignorierte hartnäckig seine Pläne. Weder die Polen noch die Korsen zeigten sich ernsthaft an den Verfassungen interessiert, die Rousseau für sie entworfen hatte. Europa schien in ein Netz von Hierarchien und Bürokratien verstrickt, in dem keine neue Idee gedeihen konnte.
Das Gefühl zu ersticken drückte sich selbst in den für die Erde verwandten Metaphern aus: Europas erschöpfter Boden hatte gegen das jungfräuliche Land des neuen Kontinents keine Chance. Und die aus Frankreich eingewanderten Kolonialisten sagten sich dreizehn Jahre vor ihren daheimgebliebenen Kollegen von ihrem Monarchen los, wie auch die in Philadelphia verfaßte Bill of Rights die Pariser Erklärung der Menschenrechte befruchtete. Thomas Jefferson schrieb: "Wir können nicht mehr sagen, es gebe nichts Neues mehr unter der Sonne, denn dieses ganze Kapitel in der Menschheitsgeschichte ist neu."
Seit Salomos Tagen mag alles mehr oder weniger derselbe Kreislauf aus Kampf, Langeweile und Eitelkeit gewesen sein, aber nun, so Thomas Paine, "steht es in unserer Macht, die Welt von neuem beginnen zu lassen".
Europas Bewunderung für Amerika war nie ganz frei von Herablassung. Mitunter machte sie sich in regelrechter Feindseligkeit Luft, aber im großen und ganzen betrachtete man die Amerikaner mit den zwiespältigen Gefühlen, die Erwachsene häufig Kindern entgegenbringen: mit einer Mischung aus Staunen und Neid. Die amerikanische Überzeugung, dass guter Wille und harte Arbeit die Welt zu einem besseren Ort machen können, wird von Europäer häufig mit amüsierter Distanz, wenn nicht mit offener Verachtung betrachtet. Doch selbst wenn sie unseren Glauben, die Welt lasse sich auf den Flügeln von Ideen verbessern, für naiv und kindisch halten, fühlen sie sich nichtsdestoweniger sehnsüchtig davon angezogen.
Europäer nähern sich der Welt mit einer Furcht, jedenfalls einer Vorsicht, die auf der jahrhundertealten Beobachtung beruht, wie vieles doch fehlschlägt. Amerikaner hatten weniger Erfahrungen, über die die Hoffnung erst triumphieren musste. Ideale waren der Stoff, aus dem Amerikaner gemacht worden sind - und wenn unsere Furchtlosigkeit oft Gegenstand der Belustigung war, so war sie doch auch ein Gegenstand der Bewunderung.
Bewunderung, Freude und Sehnsucht. Amerikaner mögen über die alltäglichen Freuden Europas staunen, aber Europäer können über alltägliche, für Amerikaner ganz selbstverständliche Erfahrungen geradezu entzückt sein, wie ich kürzlich erlebte, als ich einen Besucher aus Europa durch New York führte.
Eine von uns unternommene Busfahrt war selbst für New Yorker Verhältnisse ungewöhnlich, aber in Europa wäre sie vermutlich unvorstellbar. Es war für einen Wintertag unheimlich warm, und die schwarze Busfahrerin war in Feiertagslaune. "Leute, packt den Grill aus", rief sie heiter über den Lautsprecher aus. "Nächste Haltestelle, Florida." Als jemand nach Kleingeld kramte, ließ sie ihn umsonst mitfahren, und sie brachte uns ständig zum Lachen, bis wir gar nicht mehr aufhören konnten. Danach besuchten wir ein Fest im Haus eines bekannten Professors an der Columbia Universität, auf dem mein Freund die Formlosigkeit und Lebhaftigkeit der Gespräche genoß. "Jeder hier scheint wirklich zu meinen, was er sagt", stellte er fest, und obwohl in der Neuen wie in der Alten Welt kräftig gelogen wird, war an dem, was er sagte, etwas Wahres dran - und sei es nur die Tatsache, dass in Amerika selbst die Lügen freimütig sind.
Damit hätten wir ein Paradox. Auf beiden Seiten des Atlantiks scheinen die wirklichen Verhältnisse umgedreht zu sein. Das Blutvergießen zwischen Nachbarn und die kolonialen Eroberungen, die einst die europäische Außenpolitik bestimmten, sind verschiedenen Vertragswerken gewichen; die Ungerechtigkeiten und Hierarchien, die einst der jeweiligen Innenpolitik zugrundelagen, sind durch sozialdemokratische Strukturen ersetzt worden, die ihresgleichen suchen. Europas Rahmenbedingungen sind so kantianisch wie nur etwas, während Amerika bestrebt scheint, eine Welt zu entwickeln, die der Hobbes'schen immer ähnlicher wird.
Die Realitäten der beiden Kontinente mögen sich zwar enorm gewandelt haben, doch die Ideen, die sie antreiben, sind recht stabil geblieben. Amerikaner glauben an die meisten Träume der Aufklärung und an ihre Fähigkeit, sie Wirklichkeit werden zu lassen; Europäer glauben an die bedrückenden Abwägungen der Realpolitik. Amerikaner mögen dabei sein, einen Hobbes'schen Dschungel zu schaffen, aber sie sehen sich als Diener von Rechtsidealen. Europäer mögen eine kantische Gartenlaube errichtet haben, aber sie setzen ihren Stolz darein, bei ihren Leistungen so tief wie möglich zu stapeln. Wenn man sie hört, bekommt man Angst, Europa könnte den Blick für seine Realitäten verlieren, wenn es nicht anfängt zu träumen.
Die Weigerung der Europäer, sich in idealistischen Kategorien zu beschreiben, hängt zum Teil mit der von mir vorhin gelobten Selbstkritik zusammen. Nachdenkliche Europäer wissen, dass Eintreten für Gerechtigkeit zuhause erst zum Teil Früchte trägt und in anderen Ländern gerade einmal zarte Knospen treibt. Man braucht nur einen billigen Urlaub in Goa zu machen, um zu sehen, dass das europäische Paradies auf einem internationalen Fegefeuer beruht.
Wenn eine Europäerin erklärt, ihre Welt sei noch weit von ihren Idealen entfernt, dann tritt sie gerade für sie ein: Treue zu einem Ideal bedeutet, sich aufrichtig Rechenschaft darüber zu geben, wie wenig es erst realisiert ist.
Damit ist die Kluft freilich nur zu einem kleinen Teil erklärt. Wenn Europäer sich weigern, wie Kantianer zu reden, dann ist das in eine viel größere Frage eingebettet. Europäer nahezu aller Schichten und Länder finden ein Reden über Moral leicht peinlich, sie werden deshalb die letzten sein, die Sachlage moralisch beschreiben. Doch das Bewußtsein, dass hier etwas Tiefes fehlt, ist bei Europäern wie Amerikanern gleichermaßen lebendig.
Die Worte, mit denen sie ihr Angezogensein beschreiben, mögen nicht mehr so überschwenglich wie im 18. Jahrhundert sein, doch Europäer fühlen sich aus demselben Grund von Amerikanern wie Clinton und Kennedy fasziniert, aus dem ihre Vorfahren Franklin und Paine zujubelten. Es ist der Reiz einer Welt, die nicht von den Traditionen der Vergangenheit geleitet wird, sondern von Visionen für die Zukunft.
Viele nachdenkliche Amerikaner meinen, ihr eigener demokratischen Habitus sei bloß eine Sache der Gepflogenheit. Die jüngsten Weigerungen, zu praktizieren, was sie predigen, lassen amerikanische Ideale leicht wie einen Schwindel aussehen: Wenn Bekenntnisse zu Menschenrechten durch das Eintreten für eine Legalisierung der Folter ruiniert werden - warum sollte irgend jemand noch glauben, dass diese Ideale noch einen Gehalt haben? Bei soviel Gründen für Skepsis, liegt der Schluss nahe, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen beider Kontinente nichts Tieferes spiegeln als einen Mangel an Selbsterkenntnis.
Doch Amerikas Bekenntnis zu Idealen als bloße Heuchelei abzutun, würde heißen, sich hinter die reduktionistische Weltsicht eines Hobbes zu stellen: Real seien nur die materiellen Bedingungen, und alles andere sei Humbug. Diese spezifische Realitätsauffassung enthält keine Selbstbeschreibungen, Träume oder eine Reihe anderer Faktoren, die für die Identität eines Volkes und die ihrer Nation wesentlich sind.
Verwerfen wir den Reduktionismus und betrachten etwas anderes: In Europa sind die Institutionen weitaus demokratischer als die Instinkte, in Amerika ist genau das Umgekehrte der Fall. Amerikaner sind von Kopf bis Fuß Demokraten, Europäer singen ein einstudiertes Lied. Nichts gegen Studieren, doch wer zu spät damit anfängt, wird wahrscheinlich nicht sehr in die Tiefe gehen, was jeder bezeugen wird, der je einen europäischen Sozialdemokraten hat ersterben sehen, wenn er eines Staatsministers ansichtig wird.
Amerikanische Träume und europäische Realitäten, das wäre eine Konbination, die auszuprobieren sich lohnte. Während Europa eifrig debattiert, ob es als ein Ganzes existiert oder nicht, und seine Sünden bekennt, befindet sich die übrige Welt in der Krise und auf der Suche nach Vorbildern. Nein, Europa ist kein Monolith, aber von außen gesehen ist es doch ein Ganzes. Nein, es ist nicht Utopia, aber von außen gesehen ist es doch besser als die Alternativen. Europa liefert Vorbilder für das Miteinander von Vielfalt, auch wenn es damit ringt; für Achtung vor Kultur und Tradition, auch wenn es sich selbst neugestaltet, und (schließlich!) für Konfliktlösungen durch Verhandeln, für den Schutz der Umwelt. Wenn Europäer nur an sich selbst glaubten, könnten sie eine kraftvolle und produktive Rolle in einer Welt spielen, die sie dringend braucht.
Zu den Feierlichkeiten anläßlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge fand sich in der offiziellen Pressemitteilung ein "Informationsangebot", das sich um Fragen dreht wie: Was bedeutet Europa für meinen Arbeitsplatz? Welche Vorteile bringt mir die EU? Solche Frage führen nirgendwo hin. Wenn ich sie höre, muss ich an John F. Kennedys Rede bei seiner Amtseinführung denken: "Frag nicht, was dein Land für dich tun kann; frage, was du für dein Land tun kannst." Wird Europa ein Widerhall von Amerikas Träumen sein können?