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Europäische Avantgarde zwischen Tanz, Theater und medialen Installationen

"Théâtre - Danse - Musique - Arts Plastique" steht als Genrebezeichnung im Programmheft unter dem Titel einer Arbeit einer jungen Choreografin, also "Theater - Tanz - Musik - Kunst".

Von Eberhard Spreng |
    Was auf den ersten Blick eine etwas penible lexikalische Korrektheit der Festivalleitung vermuten lässt, eine übervorsichtige Packungsaufschrift, mit der man sich vorab schon vor Reklamationen aufgebrachter Theaterfans schützt, verbirgt ein tiefgreifendes Problem. Das Theater weiß gar nicht mehr wie es sich nennen will, wenn es sich aufmacht in die Gegenwart.

    Und Avignon, ein traditionsreiches Festival mit einem konservativen aber ungeheuer neugierigen Publikum, geht in diesem Jahr ein erhebliches Risiko ein, bei der Kollision der Gattungen und Genres. Wirklich bemerkenswert ist, wie sehr sich das Festival in diesem Jahr den Performing Arts jeder Couleur öffnet. Hatte das Theater in den vergangen Jahren die Bühnentür geöffnet, in einem Mix-Stil technische Medien in die eigenen Wände zu holen, um die alte Theaterliteratur ein bisschen fetziger zu präsentieren, ein bisschen dekomponierter, eine bisschen fragmentierter, reißt es jetzt seine eigenen Wände weg, um vor sich selbst wegzulaufen in die Wirklichkeit der weiten Welt.

    Fünf Arbeiter stehen an Werkzeugmaschinen und bohren, sägen, schleifen, hämmern. In der dreizehnten Crescita der von Romeo Castellucci entworfenen "Tragedia Endogonidia", die in Avignon in einer Werkhalle im modernen Stadtteil Montfavet Premiere hatte, führt der kurze Weg der kleinen Zuschauerschar in einer nur etwa viertelstündigen Aufführung vom Blick auf die Werkstatt zu einem im Halleninneren aufgebauten weißen Quader. Und in dem ist ein mit grauer Flüssigkeit bedeckter Jüngling wie in Kreuzigungspose an eine Wand geheftet. Auf dem Boden kauert eine in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllte Figur. Ein Bild mit größter ergreifender Symbolkraft stößt hier hart auf ein Bild größter Alltäglichkeit und Banalität.

    Castellucci arbeitet an einem europäischen Serienprojekt, das etwa einstündige, nach ihren jeweiligen Entstehungsstädten benannte Episoden mit je einer Crescita kombiniert. Wo die Episoden figurenreiche Menschheitszustände entwerfen, bilden die kleinen Crescite so etwas wie Auswüchse, Reduktionen aufs Essentielle, Schritte zurück zur Erstarrung im Bildhaften.

    Dieses Projekt ist aus einer Reflexion über das Wort "Tragödie" entstanden. Was bedeutet es heute noch, was lässt es in uns noch an Ahnungen aufsteigen in einer Zeit, in der das Wort Strategie zur zentralen Kategorie geworden ist? Was entsteht an dieser Konfrontationslinie zwischen Kalkül und dem Taumel beim Blick in den Abgrund?

    Wenn wir im Abendland, wie Peter Sloterdijk beim Théâtre des Idées, seinem jüngstem Buch gemäß, beteuerte, in einem wirklichkeitsresistenten Glaspalast mit wohltemperierter Gutlaunigkeit leben, einem Zustand, in dem Tragödien garantiert ausgeschlossen sind, dann müsste man dieses Theater und dieses Festival d'Avignon wohl als eine der Lüftungsluken verstehen, durch die man aus diesem Biotop aussteigen kann. Jean Michel Bruyère hat sich schon vor Jahren auf den Weg gemacht und ist in Dakar im Senegal heimisch geworden. Von dort bringt er mit "L'insulte faite au paysage" - das ist übrigens "Theater - Musik - Video - Kunst" einen Blick auf die Wirklichkeit verlorener, umherirrender Menschen, Bilder, die sich der Zuschauer selbst zusammensuchen muss in der "Église des Célestins".

    Von den von Jan Fabre geladenen Flamen, über Jean Michel Bruyère bis hin zum Italiener Romeo Castellucci zieht sich ein Band von Arbeiten zwischen Ritual, Performance und Theater, die sich in der Gesamtschau zu einem eminent zeitgenössischen Weltblick ineinanderschieben. Vertreibung, Gewalt, Krieg der Wenigen gegen die Vielen. Hier muss Theater sein, als Zufluchtsort einer durch Medien unkenntlich gewordenen Wirklichkeit.

    Aber Avignon verwandelt sich dabei auch von der Theaterstadt zum Austragungsort einer Art provencalischer documenta: Man pilgert von Ausstellung zu Performance und vom Tanz zum Screening und sinkt erst am Abend ermattet in Theaterfauteuils. Aber dann ist man, übervoll mit zeitgenössischen Überlegungen ein bisschen ungehalten über die altmodische Schwerfälligkeit zumal französischen Regietheaters. Denn das ist, alten Traditionen gemäß, davon überzeugt, dass der Transportriemen zwischen Bühne und Wirklichkeit die Literatur ist. Es ist alarmierend: Immer da, wo im Programmheft einfach nur "Theater" steht, ist eigentlich gar keines mehr zu haben. Was das für ein Theaterfestival bedeutet, wird sich in den nächsten Jahren noch zeigen.