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Europäische Union
Zwischenbilanz eines Balanceakts

Der zerplatze Traum von immer mehr Europa: In seinem Buch "Ende einer Illusion" zieht der langjährige Brüssel-Korrespondent Martin Winter eine Art Zwischenbilanz der Europäischen Union "zwischen Anspruch, Wunsch und Wirklichkeit". Als die schwerwiegendste Fehlkalkulation bezeichnet er dabei die gemeinsame Währung der EU, den Euro.

Von Volker Finthammer | 03.08.2015
    Eine Landkarte der EU-Mitgliedsländer auf einer Wand aus Bausteinen, umrahmt von der EU-Flagge.
    Deutlich mehr Bescheidenheit würde dem Projekt Europa schon gut tun, lautet das Plädoyer von Martin Winter. Das gilt für die Zahl künftiger Mitglieder, als auch für die Ansprüche, alles lösen und überall mitreden zu wollen. (picture alliance / dpa / epa belga EC)
    Oft genug verlieren sich Bücher und politische Betrachtungen langjähriger Korrespondenten in Detailbeschreibungen von Einzelereignissen, denen sie in ihrer aktiven Zeit in relativer Nähe beigewohnt haben. Da ist es dann ein Augenzwinkern oder die Art des Handschlags, die den Ausschlag für eine bestimmte Entscheidung gegeben haben sollen.
    Solche persönlichen Noten spielen in Martin Winters Analyse keine Rolle. Bereits der Untertitel "Europa zwischen Anspruch und Wirklichkeit" verrät, dass es ihm um den dauernden Balanceakt geht, mit dem die EU, vor allem seit dem Fall der Mauer die Gegenwart und Zukunft zu bewältigen versucht und spätestens seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise mit einer unbarmherzigen Wahrheit konfrontiert wird:
    "Der Traum von immer mehr Europa und immer weniger Nationalstaat ist längst dabei, an der harten Realität der europäischen Schuldenkrise zu zerplatzen. Ein Ende der Union ist nicht mehr ausgeschlossen (...) Hat Europa sich vielleicht übernommen?"
    Finanz- und Schuldenkrise: Ausdruck der europäischen Unvollkommenheit
    Was folgt, ist eine ausführliche Beschreibung und Analyse der Zeitenwende, die mit der Finanz- und Staatsschuldenkrise für alle offenbar wurde, die aber letztlich nur der Ausdruck der europäischen Unvollkommenheit ist, weil es trotz der vielfältigen Anläufe und Versuche in keinem Bereich zu einer wirklich kohärenten Politik, geschweige denn Vorgehensweise gekommen ist, weil der Fortschritt immer nur als Minimalkompromiss geboren und umgesetzt wurde, der die Autonomie der Nationalstaaten nur in einem geringen Maße einschränken sollte.
    Die Währungsunion dürfte das markanteste Beispiel dafür sein: Deren Einführung wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs enorm beschleunigt, nicht nur, um das wieder erstarkende Deutschland einzuhegen, sondern auch, um dem alten Kontinent zu einem größeren geopolitischen Gewicht zu verhelfen.
    Doch schon beim ersten wirklichen Anlauf, dem sogenannten Delors Plan - weit vor der aktuellen Krise - wurden die Fehler begangen, die später das Projekt der gemeinsamen Währung insgesamt infrage stellen werden, hebt Winter hervor. Nach diesem Plan sollte die Währungsunion der letzte Schritt in einem vollendeten Binnenmarkt sein, der von verbindlichen Haushaltsvorschriften für die Mitgliedsländer begleitet werden sollte.
    Euro: Schwerwiegendste Fehlkalkulation seit Gründung der EU
    "Doch die Mitgliedsländer dachten gar nicht daran, der EU die Hoheit über die großen, wirtschaftspolitischen Linien zu übertragen. Aus dem Blickwinkel der europäischen Integration war Delors Vorschlag logisch. Für die Mitgliedsstaaten bedeutete er aber einen Angriff auf einen zentralen Bestandteil ihrer nationalen Souveränität. Außerdem: Welcher Linie sollte die EU-Wirtschaftspolitik folgen, der deutschen Vorstellung einer sozialen Marktwirtschaft? Der französischen, von einer staatlich gelenkten Ökonomie, oder der britischen (...) Politik der Befreiung des Kapitals von möglichst allen Fesseln?"
    Dieser Grundkonflikt ist bis heute nicht gelöst, sondern durch die mehrfachen Anläufe und Umwege mehr oder weniger übertüncht worden. Nur, dass der Währungsverbund durch die ökonomische Vorherrschaft Deutschlands neue Fakten geschaffen hat, die die Harmonisierung noch viel schwieriger erscheinen lassen, als sie in den Anfangsjahren gewesen wären.
    Nüchtern analysiert Winter die vielen Bemühungen und Irrwege der vergangenen 25 Jahre, die Träume der sogenannten Lissabon-Agenda, die Methode der offenen Koordinierung, wonach alle nur dem besten Beispiel folgen müssten, um zu den Siegern zu gehören. Doch ein ums andere Mal lautet das Fazit:
    "Der Euro hat nicht das gebracht, was er bringen sollte. Die gemeinsame Währung ist die wohl schwerwiegendste Fehlkalkulation der Europäer seit der Gründung der Europäischen Union."
    Nicht viel besser sieht es in der Außen- und Sicherheitspolitik aus, trotz aller Beschwörungen:
    "Es ziehen sich viele geschichtliche, regionale und politische Gräben kreuz und quer durch die Union, die die Europäer daran hindern, zu einer überzeugenden und funktionierenden gemeinsamen Politik zu kommen."
    Mehr Bescheidenheit und Stärkung des föderalen Prinzips
    Also keine Zukunft für Europa? Nein, so weit würde Martin Winter nicht gehen. Aber deutlich mehr Bescheidenheit würde dem Projekt schon gut tun, lautet sein Plädoyer. Das gilt für die Größe, also die Zahl künftiger Mitglieder, als auch für die Ansprüche, alles lösen und überall mitreden zu wollen. Und nicht zuletzt wirbt Winter für die Stärkung des föderalen Prinzips:
    "Europäische Entscheidungen müssen dort diskutiert und getroffen werden, wo allein die politische Gefolgschaft für das europäische Werk hergestellt werden kann: auf der nationalen Ebene."
    Und der Euro? Da ist Winter recht nah bei Wolfgang Schäuble und der Forderung nach einer Insolvenzordnung für die Eurozone, die die Kosten der Hilfsprogramme für die Partner klar begrenzt, aber den Krisenländern die notwendige Unterstützung gewährt.
    "Der Euro ist ein Zahlungsmittel und nicht der Schlüssel zu einer politischen Union."
    EU ist Lichtjahre von vereinigtem Europa entfernt
    Scheitert der Euro, dann scheitert Europa, diese Behauptung der Kanzlerin will Winter nicht gelten lassen. Zu viel Gewicht, zu viel Anspruch. Die EU ist trotz aller Bemühungen Lichtjahre von einem wirklich vereinigten Europa entfernt. Wenn man sich dieser Tatsache nüchtern und sachlich stellen würde, könnte vieles besser gehen, glaubt er stattdessen und fordert ein Ende der Romantik ein. Aber selbst in dieser neuen Sachlichkeit gäbe es noch genug zu tun, damit der Laden nicht auseinanderbricht.

    Martin Winter: "Das Ende einer Illusion. Europa zwischen Anspruch, Wunsch und Wirklichkeit"
    Süddeutsche Zeitung Edition 2015, 296 Seiten, 19,90 Euro, ISBN: 978-3-864-97297-3