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Griechenland-Krise
Herzog: Europa muss Bürokratie zurückbauen

Europa steht nach Ansicht von Altbundespräsident Roman Herzog wegen der Griechenland-Krise nicht vor einem Scherbenhaufen. Trotzdem seien viele Schwächen deutlich geworden. Die Regierung in Athen habe die Verträge bis zum Letzten ausgereizt, sagte Herzog im DLF. Dabei sei viel Vertrauen verloren gegangen. Zudem riet er der EU, ihre Bürokratie einzuschränken.

Roman Herzog im Gespräch mit Martin Zagatta | 18.07.2015
    Alt-Bundespräsident Roman Herzog auf einem Sofa auf der Götzenburg in Jagsthausen (Baden-Württemberg).
    Der frühere Bundespräsident Roman Herzog. (picture alliance / dpa / Daniel Naupold)
    Griechenland sei nicht alleine schuld an der derzeitigen Lage, betonte Herzog. Auch die Europäische Union mit ihrem Regelwerk habe dazu beigetragen. "Die Vorschriftenmassen, die aus Brüssel komme", gingen an die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit und müssten dringend eingeschränkt werden, sagte der frühere Bundespräsident im Deutschlandfunk. Zu viele Vorschriften zu haben, sei eher ein Zeichen der Schwäche als der Stärke.
    Der Karlspreisträger warnte davor, zum jetzigen Zeitpunkt einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone zu forcieren. Man müsse erst einmal abwarten, wie es weitergehe. Dringend benötigt werde jedoch eine Insolvenzordnung für Staaten, die nicht mehr zahlungsfähig seien.

    Das Interview mit Roman Herzog in voller Länge:
    Martin Zagatta: Der Streit um die Griechenland-Politik ist vorerst entschieden, der Bundestag hat zugestimmt, mit Athen über ein weiteres Hilfspaket von Milliarden zu verhandeln. Aber zu welchem Preis? In dem monatelangen Gezerre ist Vertrauen verloren gegangen. Wird Griechenland gerettet und die europäische Idee bleibt auf der Strecke?
    Wie sieht Altbundespräsident Roman Herzog das, der als Karlspreisträger ja ein ausgewiesener Europäer ist? Wie sieht er diese Krise, steht Europa, steht die EU jetzt vor einem Scherbenhaufen?
    Roman Herzog: Also, an einen Scherbenhaufen denke ich nicht, wenn ich an das jetzige Europa denke. Aber es ist doch eine Reihe von Schwächen ganz deutlich geworden. Zum Ersten das, was Sie selber in die Diskussion geworfen haben, nämlich die Frage des Vertrauens. Es gibt eine ganze Reihe von Vorschriften in den europäischen Verfassungsverträgen, in den einzelnen Verträgen, Gesetzen, Verordnungen und so weiter, die im Grunde darauf aufbauen, dass man fair miteinander umgeht. Und das ist also wirklich in den Verhandlungen vor allen Dingen von griechischer Seite bis zum letzten Tüpfelchen ausgereizt worden.
    Aber ich sage Ihnen, die Probleme bestehen fort. Wenn in der jetzigen Situation eine Sache, die nach den Verträgen einstimmig entschieden werden muss, wenn da sich einer – und beispielsweise Griechenland hat solche Dinge ja versucht – sich querlegt, dann kann er die ganze Entwicklung doch erheblich abstoppen und zumindest verlangsamen.
    "EU macht den Eindruck einer total verbürokratisierten Gemeinschaft"
    Zagatta: Was wäre denn dann die Konsequenz, die man daraus ziehen muss? Muss die EU oder auch die Eurozone, müssen die dann die jetzige Verfassung ändern? Gibt es da ganz dringenden Handlungsbedarf?
    Herzog: Das weiß ich noch nicht, ob es dringenden Handlungsbedarf gibt. Man soll niemanden verdächtigen, bevor die Situation sich faktisch geklärt hat. Also, ich würde im Augenblick zuwarten. Es hat ja auch schon einige vergleichbare Dinge, die nichts mit Griechenland zu tun hatten, gegeben und man ist immer noch damit fertig geworden.
    Aber wie sich das entwickelt, das weiß ich nicht, und auch Vorschriften auf Vorrat zu konzipieren hat keinen großen Sinn, das würde nur den Eindruck, den die EU insgesamt macht, nämlich den einer total verbürokratisierten Gemeinschaft, verstärken.
    Zagatta: Aber dass sich da jetzt ein Land nicht an Regeln hält, dass Verfassungen oder auch Abmachungen gebrochen werden oder richtig strapaziert werden, trägt Deutschland da nicht auch eine große Mitschuld? Also Deutschland und Frankreich, das waren ja die Ersten, die den Stabilitätspakt gebrochen haben, und sind auch damit durchgekommen!
    Herzog: Natürlich, das ist nicht gut gelaufen damals, das ist völlig klar. Aber ich behaupte auch nicht, dass die Griechen allein schuld sind. Wenn Sie zum Beispiel die Vorschriftenmassen, die aus Brüssel kommen, ins Auge fassen, wenn Sie sich darüber Ihre Gedanken machen, das geht ja auch bis an die Grenzen dessen, was rechtsstaatlich erträglich ist.
    "Vorschriftenmasse muss eingeschränkt werden"
    Zagatta: Muss das eingeschränkt werden? Wären Sie dafür?
    Herzog: Es muss eingeschränkt werden. Also, da haben wir genug Erfahrung, um das sagen zu können, während wir so mit Griechenland noch nicht die totale Erfahrung besitzen.
    Zagatta: Aber die Erfahrung sagt ja auch, da müssten 28 Länder, wenn man die EU sieht, einstimmig zustimmen, 28 Länder mit ganz unterschiedlichen Interessen. Lassen sich da Verträge wieder rückgängig machen in der Praxis, wie sehen Sie das?
    Herzog: Da müsste man Verträge aufheben oder ändern, da braucht man allerdings alle 28. Aber es gibt auch die andere Möglichkeit, dass die obersten Gesetzgebungsorgane in Brüssel einfach sich der vollständigen Ausnutzung ihrer schriftlich niedergelegten Kompetenzen entziehen. Eine Vorschrift machen können ist ja etwas anderes als diese Vorschrift ausnützen zu müssen bis auf den letzten Quadratzentimeter. Da gibt es also auch Lösungen, die sicher nicht 100-prozentig wirken, aber doch die ärgsten Schwierigkeiten beseitigen können.
    Zagatta: Aber Bürokratien, das zeigt ja die Erfahrung, die machen, was ihnen zugestanden wird. Da müsste ja die Politik eingreifen. Also ging das, was Sie sich da vorstellen?
    Herzog: Ich bitte Sie, für die Gesetzgebung sind zuständig die Kommission, also die die Anträge stellt, die Gesetzentwürfe bringt, ...
    Zagatta: Politiker, ja.
    Herzog: ... der Rat und das Parlament, das sind lauter politische Instanzen.
    "Vorschriften sind Zeichen der Schwäche"
    Zagatta: Gehen da Ihre Vorschläge jetzt, da wieder Europa etwas zurückzudrehen oder die Instanzen, geht das so in die Richtung dessen, was Großbritannien will? Da will man sich ja jetzt um weniger Europa bemühen, eine Rückverlagerung von Kompetenzen. Und wenn das nicht gelingt, droht Großbritannien mit einem Austritt! Gehen Ihre Überlegungen in die Richtung?
    Herzog: Das ist eine interessante Sache. Wenn der britische Premierminister das forciert oder das vorschlägt und zum Teil herausverhandelt, dass es weniger Kompetenzen für Brüssel gibt und dass im Übrigen so Dinge herauskommen, die für alle 27 anderen Mitglieder günstig sind, dann will ich gern damit einverstanden sein.
    Aber auf der anderen Seite habe ich auch gelegentlich den Eindruck, es geht wie seinerzeit unter Margaret Thatcher, dass nur den Engländern ein paar Ausgaben erspart werden sollen. Das interessiert mich ehrlicherweise nicht, ob die Engländer ein paar Ausgaben mehr oder weniger nach Brüssel schicken müssen.
    Zagatta: Und wenn es darauf hinausliefe, sollte man die Briten dann ziehen lassen? Also eine EU ohne Großbritannien, das wäre für Sie vorstellbar?
    Herzog: Da halte ich mich wirklich an die Einstellung der Bundeskanzlerin, die schon bei den Griechen sagt, hier darf man nicht den Stuhl total vor die Tür stellen. Das würde ich mir also bei Großbritannien noch einmal genau überlegen. Aber solche Dinge zu sagen, bevor verhandelt ist, das ist ein grober Fehler und das will ich nicht machen.
    Zagatta: Herr Herzog, wenn Sie sagen, Sie haben durchaus Sympathie mit einer Rückverlagerung von Kompetenzen, also von Brüssel wieder weg in die Länder, geht das, was Europa oder was Deutschland und was Frankreich vorschwebt, nicht in die völlig andere Richtung? Also, da redet man ja von mehr Integration, von einer EU-Wirtschaftsregierung, Pläne, die selbst vom deutschen Finanzminister unterstützt werden!
    Herzog: Es sind so Sprüche ... Ich habe noch nie etwas Konkretes dazu gesehen oder gehört.
    Zagatta: Und wenn Wolfgang Schäuble sagt, das wäre nötig, dann glauben Sie ihm auch nicht so?
    Herzog: Ich bin jedenfalls anderer Meinung.
    Zagatta: Dann stellt sich ja die Frage, dass man bisher die EU auf eine Philosophie aufgebaut hat, die von einer fortschreitenden Integration spricht, die darauf ausgerichtet ist. Wie soll man denn mit Rückschritten wie im Fall Griechenland umgehen, die eigentlich ja gar nicht vorgesehen sind? Müsste man da jetzt auch Regelungen finden, wenn ein Land da grob gegen Regeln verstößt, wenn es den Eindruck vermittelt, gar nicht mehr mitmachen zu wollen? Müsste man da jetzt auch Regelungen finden, dass man ausscheiden kann oder zur Not auch rausgeworfen wird? Ist das überfällig?
    Herzog: Warum reden Sie immer über Regelungen, die neu gemacht werden müssen? Das wird sich herausstellen. Sehen Sie, das ist in der ganzen Geschichte der Menschheit so gewesen, die Staaten haben immer mehr Kompetenzen, zum Teil mehr Kompetenzen für sich in Anspruch genommen, zum Teil auch wieder weniger Kompetenzen für sich in Anspruch genommen. Das ist ja so eine Art Wellenmodell, wie ich mir das vorstelle. Und das kann bei der Europäischen Union genauso sein. Dass sie viele Vorschriften erlässt, ist eher ein Zeichen der Schwäche, nämlich des Bürokratismus, als ein Zeichen der Stärke.
    "Ein Firma oder Einzelperson, die Insolvenz anmeldet, wird auch nicht gleich geköpft"
    Zagatta: Aber es geht ja jetzt um ganz Grundsätzliches, und ein Ausscheiden beziehungsweise ein Rauswurf eines Landes ist überhaupt nicht vorgesehen. Also etwas ganz Grundsätzliches, müsste man sich darauf nicht verständigen, also dafür zumindest irgendwelche Regeln entwickeln?
    Herzog: Also, bei den kleineren Dingen anfangen, nicht das Allergrößte gleich machen. Was dringend nötig ist, ist eine Insolvenzordnung für Staaten, die nicht mehr zahlungsfähig sind.
    Zagatta: Darum ging es ja.
    Herzog: Das haben wir in den letzten Monaten nicht versäumt, sondern vermisst. Und wenn wir das haben, dann können wir Weiteres machen. Diese radikalen Vorschriften, die Ihnen da vorschweben, die bringen meistens nur Ärger und keinen Nutzen.
    Zagatta: Aber eine Insolvenzordnung für Staaten, dass da etwas geregelt würde, das wäre ja schon ein Schritt in diese Richtung!
    Herzog: Ja gut, aber so wie in unserem Land eine Firma oder eine Einzelperson, die Insolvenz anmeldet, dann wird er ja auch nicht gleich geköpft!
    Zagatta: Herr Herzog, beim Aufbau der EU und auch in der Folgezeit, da hat sich ja immer wieder die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris beziehungsweise zwischen Bonn und Paris bewährt. Diese deutsch-französische Achse scheint ja schon seit Längerem nicht mehr zu funktionieren. Ist das schlimm, muss man das bedauern oder hat sich Europa entsprechend verändert?
    Herzog: Das ist eine schwierige Frage. Denn wissen Sie, die Deutschen und die Franzosen, beide, können machen, was sie wollen, sie werden auf alle Fälle kritisiert. Entweder weil sie sich zuvor einigen und das dann im Rat durchzusetzen versuchen, oder umgekehrt dann, wenn sie sich zurückhalten, dann heißt es, sie haben ihre Führungsaufgabe nicht wahrgenommen. Ich halte von solchen modellartigen Sprüchen gar nichts.
    Es gibt immer wieder mal Missverständnisse, es gibt immer wieder mal Meinungsverschiedenheiten, und da gibt es ja dann auch auf den niedrigeren Rängen Zuschläger, die sofort bedenklich das Haupt schütteln und schon ausdenken, was passiert, wenn das also nicht geregelt wird. Aber in Wirklichkeit hat es noch jedes Mal gestimmt.
    "Kritik an Deutschland kann einem nicht egal sein"
    Zagatta: Im Moment steht ja vor allem Deutschland da in der Kritik und nach diesem Gezerre um Griechenland ist die Bundesregierung, sind die Deutschen für viele vor allem auch im Süden Europas wieder die Zuchtmeister Europas. Wie schädlich ist denn dieser Eindruck, oder kann einem das egal sein, muss man das durchstehen?
    Herzog: Egal kann einen das nicht sein, aber andererseits: Wenn ich vor der Frage stehe, eine Verantwortung, die mir aufgrund meiner Größe ... wahrzunehmen oder nicht wahrzunehmen, da überlege ich doch nicht, ob nachher ein paar Hanseln sich darüber beklagen. Andere sind also ganz ruhig und selbstverständlich und orientieren sich über das, was Deutschland und Frankreich vorschlagen, und es wird dann immer noch verbessert oder es wird vielleicht auch abgemildert, aber so hat es bisher funktioniert und da mache ich mir insgesamt keine Sorgen, solange nicht wirklich Übertreibungen geschehen.
    Zagatta: Roman Herzog heute Morgen im Deutschlandfunk. Mit dem Altbundespräsidenten habe ich vor der Sendung telefonieren können.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Professor Dr. Roman Herzog, geboren am 5. April 1934 in Landshut. Von 1994 bis 1999 war der CDU-Politiker der siebte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Präsident des Bundesverfassungsgerichts war er von 1987 bis 1994. Kultusminister von Baden-Württemberg 1978 bis 1980, danach dort bis 1983 Landesinnenminister.