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Europakolumne: Armut in Europa

Nach einer Studie der Friedrich-Ebert- Stiftung leben in Deutschland rund 6,5 Millionen Menschen in Armut. Und auch in anderen europäischen Ländern wird die Kluft zwischen Reich und Arm immer größer. Was kann die Politik als Antwort auf die neue soziale Frage tun? Welche nationale Verantwortung hat sie? Antworten auf diese Fragen gibt die Brüsseler "Zeit"-Korrespondentin Petra Pinzler in der Europakolumne.

Von Petra Pinzler |
    Nun hat also auch Deutschland eine Unterschicht. Zwar möchten das viele noch nicht so recht zugeben - aber irgendwie ist gerade eine der letzten deutschen Lebenslügen zerplatzt. Waren wir nicht das Vorbild der Mittelschichtsgesellschaft? Haben wir nicht stolz das europäische Sozialmodell hochgehalten und fanden uns so viel besser als die kalten und unbarmherzigen Vereinigten Staaten.

    In Deutschland gibt es also Arme ohne nennenswerte Perspektive. Doch wir stehen mitnichten allein. Italien entsetzt sich gerade über den Tod polnischer Sklavenarbeiter. In Spanien leben afrikanische Einwanderer in Slums. In den französischen Vorstädten randalieren Jugendliche gegen ihre Perspektivlosigkeit. Jeder fünfte Portugiese oder Slowake gilt als arm. Rund 68 Millionen Menschen, also jeder siebte EU-Bürger lebt heute unterhalb der Schwelle des Armutsrisikos.

    Glaubt man dem Berliner Soziologen Jens Alber, dann offenbart sich im Vergleich mit den Vereinigten Staaten Überraschendes: "Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind innerhalb Europas meist größer als der Unterschied zwischen der EU und den USA." Im Klartext: Europa (als Ganzes) ist viel ungleicher als die USA. Wir haben es nur bisher nicht gemerkt, weil wir meistens nur national denken. Die EU-Statistik belegt jedoch: Die Kaufkraft eines durchschnittlichen Bewohners von Inner London liegt etwa zehn mal so hoch wie die des Polen in Lubelskie.

    Doch auch das ist Europa heute: Nirgends sind Chancen und Einkommen gleicher verteilt als in Schweden. Finnland träumt davon, dass schon bald "alte Leute noch seltener erkranken und die Armut auf das niedrigste Niveau seit Jahrzehnten fallen wird." Und keiner lacht, denn tatsächlich stehen die Chancen im nordischen Musterland gar nicht so schlecht.

    Typisch Europa? Misst man Armut, Einkommen oder Arbeitslosigkeit, dann verlaufen quer durch den alten Kontinent tiefe Gräben - zwischen Ost und West, Nord und Süd und zunehmend eben auch quer durch manche Gesellschaften. Und unweigerlich drängt sich da die eine Frage auf: Wie viel Ungleichheit ertragen die Europäer?

    Natürlich gibt es darauf keine einheitliche Antwort. Denn offensichtlich antworten Dänen anders als Deutsche, ertragen Schweden weniger Ungleichheit als Portugiesen. Nur so lassen sich die riesigen Unterschiede erklären. Zugeben würde das allerdings niemand. Oder traut sich in Deutschland jemand, laut sagen: Ach ja, sechs Prozent Arme nehmen wir mal so hin.

    Genau solche Geständnisse müssten jedoch am Beginn jeder echten Debatte stehen. Denn erst wenn wir uns von ein paar Lebenslügen trennen, werden wir über die Ziele unserer künftigen Sozialpolitik sprechen können. Und erst wenn wir die definiert haben, können wir sinnvoll entscheiden, was wir künftig national tun können und was europäisch getan werden muss. Erst dann können wir die Folgen von Immigration, von Binnenwanderung oder falscher Sozialpolitik angehen - und die Methoden der Erfolgreichen sinnvoll kopieren.

    Brüssel befördert derzeit leider genau das Gegenteil. Anfang des Jahres legte die EU-Kommission eine neue Sozialagenda vor. Von sozialem Schutz ist da die Rede, dazu ein Recht auf Bildung, auf Gleichberechtigung und Generationengerechtigkeit. Lauter sozialpolitische Projekte. In der Realität aber hofft man immer noch auf einen alten Mythos, darauf dass Europa langsam zusammenwächst und sich Ungleichheit mithilfe des Binnenmarktes abschleifen - möglicherweise flankiert von ein klein bisschen europäischer Umverteilung.

    In der Vergangenheit hat das funktioniert: Das einstige Armenhaus Irland startete mit 80 Prozent des EU-Durchschnittseinkommens Anfang der neunziger Jahre und liegt nun bei 130 Prozent. Doch heute geht das nicht mehr so, Teile Osteuropas werden noch lange arm bleiben. Zudem etablieren sich eben auch in den reichen Ländern (siehe Deutschland!) dauerhafte Armutsnischen. Eine wachsende Zahl von Wissenschaftler prognostiziert daher, dass wir uns in Europa künftig an noch größerer Ungleichheit gewöhnen müssen.

    Und was tut die EU? Die Bundesregierung will während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab Januar darüber und über das EU-Sozialmodell reden. Das ehrt sie. Doch ohne ein ehrliche Bilanz könnte sich das schnell als Placebo für strapazierte EU-Bürger entpuppen. Und Europa wäre leider um eine weitere Illusion ärmer.