Archiv


Europakolumne: Belgien ist ein seltsames Land

Die meisten Belgier gehen davon aus, dass es ihr Land spätestens 2050 nicht mehr geben wird. Dass irgendwann Schluss sein wird mit der flämisch-frankophonen Allianz, dass ihr Land eines Tages entlang der Sprachgrenze aufgetrennt wird. Nur, da sind sich die allermeisten Belgier sicher, das wird nicht in den nächsten Jahren sein und schon gar nicht jetzt.

Von Alois Berger |
    Kaum jemand zweifelt daran, dass die flämischen Fliehkräfte weiter zunehmen werden. Und genauso wenig Zweifel gibt es, dass die Beharrungskräfte der Frankophonen langsam schwinden. Dass sie irgendwann einwilligen werden in eine Staatsreform und danach irgendwann in eine weitere Staatsreform, mit der sich die Flamen immer mehr Autonomie holen. Bis irgendwann nichts mehr übrig bleibt von Belgien.

    Das Eigenartige daran ist, dass die Flamen die Bevölkerungsmehrheit stellen. Anders als die Katalanen, die Basken, die Korsen oder die Norditaliener sind die Flamen keine Minderheit, die, weil sie sich unterdrückt fühlt, die Unabhängigkeit sucht. In Belgien ist es genau anders herum. Sechs Millionen niederländischsprachigen Flamen stehen knapp fünf Millionen Frankophone gegenüber. In allen politischen Gremien des Landes sind Flamen in der Mehrheit, seit gut 40 Jahren stellen sie ununterbrochen den Premierminister. Trotzdem hat die Mehrzahl der Flamen das tiefsitzende Gefühl, von den Frankophonen untergebuttert und eingeschränkt zu werden.

    Dabei trifft das Bild von den arroganten Frankophonen, die sich über das flämische Bauernvolk lustig machen, schon lange nicht mehr zu. Das war früher einmal so, als die Wallonie reich und Flandern arm war. Aber mit der Verschiebung der wirtschaftlichen Gewichte hat sich auch die Stimmung verändert. Neun von zehn Kindern an den flämischen Schulen in Brüssel kommen aus französischsprachigen Familien. Die frankophonen Eltern schicken ihre Kinder dorthin, damit sie einmal bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

    Man kann in Brüssel gut leben, ohne niederländisch zu sprechen. Aber das ist nur die Oberfläche. Wer eine Arbeit sucht, vor allem eine anspruchsvolle Arbeit, der kommt ohne Niederländisch nicht mehr weit. Die Flamen dominieren das Land, wirtschaftlich wie politisch. Aber viele ihrer Politiker sind gefangen in der alten Kampfrhetorik. Sie glauben immer noch, sie müssten sich gegenüber der frankophonen Arroganz emanzipieren.

    Der flämische Drang nach immer mehr Autonomie richtet längst Schaden an. Die verbiesterten Versuche, alles Französische zu verbieten oder zu behindern, lähmen weite Teile der öffentlichen Verwaltung. Seit Jahrzehnten frisst der Konflikt fast alle politischen Energien auf. Das Justizsystem ist in einem schwierigen Zustand, die Polizeireform erst in Gang gekommen, als die Affäre des Kinderschänders Dutroux die eklatanten Mängel aufzeigte. Um die streitenden Sprachgemeinschaften zu besänftigen, hat sich Belgien einen riesigen Verwaltungsapparat aufgeblasen. Das Land, kaum größer als Bayern, leistet sich fünf Parlamente, sechs Regierungen und Teilregierungen und 50 Ministerien. In einigen Nachbarländern hat Flandern bereits eigene Botschaften aufgebaut, als ob ein flämischer Botschafter mehr Einfluss hätte als ein belgischer.

    Seit über fünf Monaten hat Belgien keine Regierung, weil sich ein paar flämische Politiker eine Staatsreform in den Kopf gesetzt haben. Sie bestehen darauf, die Arbeitsverwaltung und die belgische Eisenbahn aufzuteilen. Die Verfassung verlangt eine Zwei-Drittel-Mehrheit, doch bisher gibt es nicht einmal eine einfache Mehrheit für die Reform. Das zeugt von Realitätsverlust auf flämischer Seite. Warum sollten die Frankophonen einer Reform zustimmen, von der sie sich nur Nachteile versprechen?

    Niemand wagt derzeit eine Prognose, wie lange es noch dauern wird, bis Belgien wieder eine Regierung hat. Die meisten Menschen, Flamen und Frankophone, haben es unendlich satt. Gesund ist es auch nicht fürs Land.

    Und das alles für die fixe Idee, dass sich die Flamen vom Druck der Frankophonen befreien müssten. Belgien ist ein seltsames Land.