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Europakolumne: Belgiens Sprachenstreit - Ein Omen für Europa?

Der ewig währende Streit zwischen den beiden großen belgischen Sprachgruppen, den frankophonen Wallonen und den niederländischsprachigen Flamen, behindert schon seit Monaten die Einigung auf eine Staatsreform in Belgien. In der letzten Woche hat die Staatkrise in Belgien mit dem Rücktrittsgesuch von Premierminister Yves Leterme einen neuen Höhepunkt erreicht. Heute feiern die Belgier ihren Nationalfeiertag und der König rief eindringlich zu "Einheit und Toleranz" auf. Was hinter dem Sprachenstreit außerdem steckt hat Roger Pint, Journalist beim BRF, dem deutschsprachigen Belgischen Rundfunk, in unserer Europakolumne überlegt.

    Der bekannte Publizist Geert Van Istendael hat einmal gesagt: "L'Europe sera belge ou eine sera pas"; sinngemäß übersetzt: "Nur ein in gewisser Weise "belgisches" Europa kann auf Dauer überleben".

    Dieser Satz stammt wohl noch aus der Zeit, wo der fast schon sprichwörtliche belgische Kompromiss noch zum politischen Alltag gehörte. In einem Land, das sich aus zwei großen Sprachgruppen zusammensetzt, ist der Kompromiss kein Selbstzweck, sondern eine Notwendigkeit. Belgien entwarf auf dieser Grundlage sein - zugegeben - kompliziertes Staatsgefüge, das aber letztlich nur das Spiegelbild eines ebenso komplizierten Landes ist, mit einer zweisprachigen Hauptstadt, Brüssel, die von Flamen und Frankophonen gleichermaßen beansprucht wird. Um seinen Staatsaufbau wird Belgien von so manchem Vielvölkerstaat beneidet; die 72.000 in Belgien lebenden Deutschsprachigen etwa gelten als die bestgeschützte Minderheit der Welt.

    Und doch gibt es starke Zentrifugalkräfte. Das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass die Sprachengrenze zugleich gewissermaßen eine sozial-wirtschaftliche Zäsur darstellt: Flandern gehört zu den europäischen Wachstumsregionen; hier herrscht quasi Vollbeschäftigung; die Wallonie und Brüssel hingegen kämpfen mit Strukturproblemen und Massenarbeitslosigkeit.

    Der flämische Norden des Landes fordert also mehr Autonomie, verlangt die Übertragung zusätzlicher Befugnisse von der Bundesebene an die Teilstaaten. Die flämische Argumentation: die Teilstaaten, in Belgien wären das die "Regionen", können viel zielgerichteter die Probleme der Bürger angehen. Konkret wollen die Flamen künftig etwa weite Teile ihrer Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- oder Gesundheitspolitik selbst und in Eigenverantwortung gestalten.

    Angesichts dieser Forderungen wird aber den französischsprachigen Belgiern Angst und bange. Hier fürchtet man nicht zuletzt um die Geldtransfers vom reichen Norden in den armen Süden des Landes. Tatsächlich ist es so, dass der derzeitige Lebensstandard in der Wallonie und auch in Brüssel ohne die flämische Solidarität nicht zu halten wäre.

    Doch haben sich beide inzwischen in ihren jeweiligen Maximalforderungen eingemauert: die Flamen fordern den Übergang zu einem konföderalen Staatsgefüge mit weitgehend autonomen Teilstaaten; die Frankophonen wollten bislang beim Status Quo bleiben.

    Und plötzlich funktioniert der belgische Kompromiss nicht mehr. Seit über 400 Tagen ist Belgien von einem politischen Patt gelähmt. Immer häufiger fällt das Wort "Spaltung", auch in Belgien selbst. Nur Brüssel hindert die Flamen wohl noch daran, die Frankophonen ihrem Schicksal zu überlassen.

    Und es steht zu befürchten, dass die Annäherung, die seit der jüngsten Zuspitzung zu beobachten ist, nur ein Strohfeuer ist; zu tief ist nach wie vor der politische Graben zwischen dem Norden und dem Süden.

    Das belgo-belgische Auseinanderdriften scheint nicht mehr aufzuhalten. Und das ist ein Menetekel für die Europäische Union und den Integrationsprozess. Belgien ist ja letztlich ein Europa unter Laborbedingungen. Hier - an der Nahstelle zwischen der germanisch-angelsächsischen und der romanisch-lateinischen Welt -, leben nicht etwa 27, sondern nur zwei Völker unter einem gemeinsamen Dach, mit ihrer jeweils eigenen Sprache und Kultur, inzwischen auch mit ihrer jeweils eigenen Öffentlichen Meinung. Und eben auch mit derzeit sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangssituationen.

    Und nach mehr als 175 Jahre sind Flamen und Wallonen an einem Punkt angelangt, wo sie ihr Miteinander nicht mehr gemeinsam regeln können. Auf beiden Seiten herrscht nationaler Egoismus vor, beiden geht es in gewisser Weise nur um Wohlstandserhalt.

    Steckt die EU schon in einer Existenzkrise, so gilt das also erst recht für das vermeintliche Modell. Und das ist symptomatisch. Völker und Nationen suchen ihr Heil in der Selbstbestimmung, sind gar bereit, die Solidarität auf diesem Altar zu opfern. So muss man Geert Van Istendael jetzt auch auf seine Heimat anwenden: Um zu überleben, muss Belgien wieder belgisch werden, und erst dann taugt es auch wieder als Vorbild für Europa.