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Europas Entstehung aus dem Geist der Uhr

Ist Europa mehr als der Versuch, aus dem Kontinent wahlweise eine gigantische Shopping Mall oder ein bürokratisches Monster zu machen? Einen okzidentalen Basar? Was Europa ganz offensichtlich fehlt, ist die Vorstellung davon, was es aus sich machen soll.

Von Thomas Palzer |
    Das heutige Europa muss noch gebaut, ja sogar noch gedacht werden.

    Sagt der französische Mediavist Jacques Le Goff – und legt damit nahe, daß wir Europa zwar bauen und denken, daß wir aber gar nicht wissen, was wir damit tatsächlich bauen und denken.

    Nun hat der renommierte Historiker und Vertreter der legendären Annales-Schule – also jener Denktradition, die lehrt, weniger Ursprünge zu suchen, denn Alltag, Sitten und Mentalitäten Aufmerksamkeit zu schenken -, nun hat Le Goff in der 1994 von fünf Verlagen konzipierten Reihe Europa bauen einen Essay vorgelegt, der versucht, die Herkunft Europas aufzuzeigen, um damit dessen Zukunft zu sichern. Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter.

    Am Ende des 15. Jahrhunderts steht ein Europa der kostbaren Zeit, einer Zeit, von der die Individuen und die Gemeinschaften Besitz ergriffen haben, die ein mögliches Europa begründen.

    Vor allem im Umgang mit der Zeit sieht der Historiker Le Goff das Mittelalter jene Fortschritte machen, die schließlich in das heutige Europa münden – das Europa der Kasernen, Kliniken und Banken, das der Terminierung.

    Die Einführung der Glocken im 7. Jahrhundert - welche die erfolgreiche Christianisierung im 4. und 5. Jahrhundert zur Voraussetzung hatte - war dabei eine Neuerung von großer Tragweite: Sie synchronisierte die Landstriche und Marken mit ihren über das Land verstreuten Siedlungen. Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, das die Welt verstädtert hatte, war Europa wieder der Verländlichung anheim gefallen, der technischen Regression, wo als Baumaterial der Stein seinen Vorrang vor dem Holz verloren hatte.

    Eine weitere Novität, die vom Alten Testament und Judentum herkam, war die Sequenzierung der Zeit in Wochen. Mit der Woche wurde ein Rhythmus eingeführt, der Arbeits- und Ruhezeit in ein genaues Verhältnis zueinander setzte. So war eine bessere Nutzung der menschlichen Kräfte möglich.

    Um 1200 schließlich wurde Europa von einer regelrechten Rechenmanie befallen: Alles wurde gezählt, alles berechnet, sogar die Jahre im Fegefeuer, das gegen Ende des 12. Jahrhunderts erfunden werden wird.

    Die schleichende Ökonomisierung der Zeit untergräbt damit die im frühen Mittelalter herrschende Ideologie, die das Neue, noch nie da Gewesene, Progressive als Fehler und Sünde verurteilt. Folgerichtig kommt es gegen Ende des 15. Jahrhunderts zu einem Fortschrittsbewusstsein, das in der Aufklärung schließlich zum Ideal aufgewertet werden soll.

    Das Pendant zur Einführung der Glocken im 7. Jahrhundert war in gewisser Weise die Einführung der Interpunktion unter Karl dem Großen im 8. Jahrhundert. Sie war notwendig, um später, nach der Erfindung des Buchdrucks, ein Europa des lesenden Individuums und des Intellektuellen geboren werden zu lassen. Mit dem Buch verbreiteten sich sagen- und heldenhafte Geschichten – der Beginn eines Europa, das sich selbst seinen Ursprung in der griechischen Antike erfindet.

    Manche Historiker sind der Meinung, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1989 sei ein im Mittelalter geformtes Mitteleuropa wieder aufgetaucht ...

    ... schreibt Le Goff – und entdeckt folgerichtig den Plural von Europa: das Europa der Verfolgung (von Juden, Homosexuellen und Häretikern), das Europa der Steuerhinterziehung (welches die Banken gebiert), das "feudale Europa", das "schöne der Städte und Universitäten", das des Marienkultes (das die Stellung der Frau aufwertet) und das der Barmherzigkeit.

    In Europas Gedanken des Völkerfriedens aber sieht Le Goff dessen wahre Geburt. Er wurde angesichts der Eroberung Konstantinopels 1452 durch die türkischen Osmanen von Georg von Podiebrad, dem König von Böhmen, zuerst gedacht. So bindet die Auseinandersetzung mit Türken und Muslimen das Europa des 15. Jahrhunderts an das der Gegenwart. Hier liegt, um mit Jacques Derrida zu reden:

    ... das Europa, was im Namen Europas wurde.

    Jacques Le Goff
    Die Geburt Europas im Mittelalter
    Verlag C.H. Beck, 342 S., EUR 24,90