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Europas Grenzen der Menschlichkeit

Die auf Lampedusa gestrandeten Flüchtlinge träumen von Freiheit und Demokratie, Arbeit und Auskommen, stoßen dabei aber an Grenzen: Die Grenzen Europas und seiner Einwanderungspolitik. Das Europa der Menschenrechte hat seine Glaubwürdigkeit längst eingebüßt, meint Navid Kermani.

Navid Kermani im Gespräch mit Michael Köhler |
    Michael Köhler: Der deutsche Innenminister, Thomas de Maizière, sagt, was schon sinngemäß sein Vorgänger, Otto Schily, gesagt hat: Die tunesischen Flüchtlinge werden im Land zum Aufbau gebraucht. Die Flüchtlinge sehen das naturgemäß anders. Was sind das für Flüchtlinge? Weniger Verfolgte, Entrechtete oder Zwangsarbeiter, sondern eher Wirtschafts- und Bildungsflüchtlinge, die sich ein anderes Leben erhoffen?

    Bislang sind die Europäer mit den Despoten Nordafrikas nicht schlecht gefahren, aber die eigene Bevölkerung ist schlecht mit ihnen gefahren. Ich habe den deutsch-iranischen Schriftsteller, Islam-Wissenschaftler und Publizisten Navid Kermani gefragt, eine der preisgekrönten intellektuellen Persönlichkeiten im Land, nicht nur im Ost-West-Dialog: Was signalisiert Europa eigentlich kulturell, wenn es die Mauern hochzieht und Italien gewissermaßen die Drecksarbeit machen lässt? Erleben wir einen Rückfall in Protektionismus?

    Navid Kermani: Ja, schon seit Langem. Wir erleben ja die Kriminalisierung von Menschen, die nichts anderes tun, als ihr Recht auf Leben einzufordern. Das muss nicht in jedem Fall - es gibt genug wirkliche Flüchtlinge, auch unter diesen Flüchtlingen, die jetzt ankommen, also Bürgerkriegsflüchtlinge, traumatisierte Menschen, Menschen, die überhaupt keine Grundlage mehr haben. Und wir haben auch Menschen, einfach ganz normale Bürger und Bürgerinnen, die einfach für ihre Kinder, für sich selbst keine Zukunft mehr sehen in ihrem eigenen Land. Das liegt nicht nur an Europa, aber es liegt auch an Europa, weil es ja diese autoritären Regime über Jahrzehnte gefördert hat.

    Es wird zwar immer gesagt, man müsse die Fluchtursachen an den Wurzeln bekämpfen, aber das geschieht ja nicht. Das Gegenteil geschieht. Das heißt, wir haben eine riesige Schere zwischen dem, was offiziell gesagt wird, und zwischen dem, was faktisch geschieht. Faktisch trägt man weiterhin zu den Fluchtursachen direkt bei, Stichwort etwa Agrarsubventionen und Agrarzölle umgekehrt.

    Zugleich verschärft man die Kontrollen massiv, man kriminalisiert jeden Flüchtling in Italien bis dahin, dass mittlerweile Lehrer verpflichtet werden, Ärzte verpflichtet werden, per Gesetz verpflichtet werden, sie werden kriminalisiert, wenn sie Illegale nicht melden. So weit geht das jetzt schon, zum Denunziantentum, oder in Frankreich auf ähnliche Weise. Und das ist etwas, was natürlich eklatant im Widerspruch steht zu allem, wofür dieser Kontinent im Positiven steht.

    Köhler: Das Jahrhundert der Kriege ist vorbei, das Jahrhundert der Menschenrechte könnte eigentlich anfangen. Erleben wir so was wie den Rückfall in eine Art, ich nenne das mal, aufgeklärte Barbarei?

    Kermani: Ich hoffe es nicht. Wir erleben im Augenblick, dass diese sogenannten – sogenannten! – europäischen oder westlichen Werte anderswo unter großen Opfern erkämpft werden. Tahrir 2011, das ist wirklich Paris 1789, während in Paris im Elysée-Palast das Ancien Regime herrscht, nämlich diese Diktaturen stützt, noch eigene Soldaten schicken will. Und es geht ja nicht nur um Interessenpolitik. Meinetwegen Interessenpolitik schön und gut. Aber gehört zur Interessenpolitik, dass man sich den Urlaub von diesen Diktatoren bezahlen lässt, dass man da mit diesen kungelt auf diese Art und Weise, wie das ja Sarkozy macht, wie das Herr Berlusconi macht?

    Köhler: Sie spielen auf den Aufenthalt von Sarkozy und seiner Gattin bei den Pyramiden an.

    Kermani: Andere auch! Diese Art und Weise der Kungelei, das geht ja über die traditionelle westliche Interessenpolitik weit hinaus. Was ist das Interesse des Westens daran, dass Herr Sarkozy ein paar Tausend Euro spart an Geld und sich auf diese Weise einlässt mit Diktatoren, von denen er genau weiß, exakt weiß, was in den Gefängnissen geschieht.

    Köhler: Herr Kermani, macht sich Europa unglaubwürdig, wenn es über Menschenrechte spricht und sie einfordert in China oder sonst wo, und jetzt vor Lampedusa die Flüchtlinge allein lässt?

    Kermani: Ich befürchte, dass niemand mehr Europa glaubt. Das Versagen, das völlige Versagen der europäischen Außenpolitik in den letzten beiden Revolutionen, Tunesien und - man kann ja über Amerika sagen was man will, aber immerhin gibt es da noch eine Art von Verbindung zwischen dem, was sie sagen, und dem, was vor Ort geschieht. Das ist bei der europäischen Außenpolitik bisher gar nicht vorhanden.

    Und insofern - und wenn man dann noch Potentaten – ich sage schon Potentaten – Sarkozy oder in Ungarn oder in Dänemark oder in Italien sieht, die ja diesem europäischen Projekt wirklich innerlich eigentlich nicht positiv gegenüberstehen, die eigentlich das wieder abschaffen wollen - jedenfalls den Kern, aufklärerischen Kern des europäischen Projektes - dann muss man sagen, dass wir einerseits hier in dem Augenblick, wo diese Werte doch weltweit - Freiheit, Republikanismus, Menschenrechte, Toleranz - weltweit jedenfalls Anziehungskraft gewinnen, Europa diese Werte verliert.

    Köhler: Es klingt ein bisschen sonntäglich, aber vielleicht trifft es doch den Kern der Sache: Es würde nichts schaden, wenn man einfach mal die Hand ausstreckt.

    Kermani: Das klingt so – man wagt es gar nicht mehr zu hoffen. Man muss ja immer wieder appellieren daran, was das westliche Interesse ist, was das europäische Interesse ist. An Humanität zu appellieren, das ist zwar schön und gut, aber man müsste deutlich machen hier, diese Humanität ist etwas, an die man appellieren kann, aber dieser Appell führt leider in der Regel nicht sehr weit.

    Man muss dabei einfach auf das europäische Interesse hinweisen, das eigene Interesse, dass die Kungelei mit Diktatoren, die Art und Weise, wie die Flüchtlinge abgehalten werden, wie mit denen umgegangen wird, dass das letztlich Europas originärem Interesse widerspricht.

    Eine Entwicklung wie in Tunesien, wie in Ägypten, die ja - nicht auf die Weise, wie es jetzt geschehen ist - aber letztendlich war es vorhersehbar, dass da der Druck wächst, dass da die Menschen unzufrieden sind. Gegen wen wenden sie sich jetzt? Sie wenden sich jetzt im Augenblick der Freiheit natürlich auch gegen Europa, weil Europa diese Regime gestützt hat. Das heißt, Europa hat mit seiner Interessenpolitik seinen eigenen Interessen vehement geschadet,

    Köhler: sagt der Islam-Wissenschaftler und Schriftsteller Navid Kermani über Menschenrechtsfragen angesichts der Flüchtlinge vor Lampedusa und auf Lampedusa.