Donnerstag, 28. März 2024

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Europas neue Ufer

Wer einmal ums Schwarze Meer fährt, muss sechs mal Geld wechseln, wenigstens Danke und Guten Tag in sechs verschiedenen Sprachen sagen können und in vielerlei Hinsicht abenteuerlustig sein. Einmal ums schwarze Meer, eine Reise in die Vergangenheit und vielleicht in die Zukunft Europas. Im Uhrzeigersinn entlang der Küstenlinie. Mal an Land, mal auf dem Wasser. Die Reise beginnt in Istanbul.

Von Tom Schimmeck, Moderation: Simonetta Dibbern | 11.08.2007
    Kurs Schwarzes Meer - Mit der "Juschnaja Palmira" im Bosporus
    Am Morgen unserer Abreise müssen sich die Passagiere im Musiksalon einfinden. Zur Passkontrolle. Die türkischen Beamten gehen forsch zur Sache, rufen Namen auf, lassen Stempel auf Pässe niedersausen. Die Schar der Reisenden wirkt recht eingeschüchtert. Junge Frauen und alte Männer, mit Schnauzbart und ohne. Es sind Händler, Wanderarbeiter, gefallene Mädchen, auch ein paar Touristen. Kaum Kinder.

    Drei Nächte hat die "Juschnaja Palmira", die Palme des Südens, hier in Istanbul gelegen. Unten im Laderaum türmen sich Berge von Kleidung, die die Händler auf dem riesigen Basar erworben haben. In der Hoffnung, sie 1000 Kilometer weiter nördlich, am anderen Ufer des Schwarzen Meeres, mit Gewinn absetzen zu können

    Gleich wird das Schiff ablegen, auf nördlichen Kurs gehen, durch den Bosporus, quer übers Meer bis Odessa.

    Kapitän Kriutschkowitsch, ein erfahrener Seebär, 56 Jahre alt, steht auf der Brücke und schaut gelassen auf den wilden Istanbuler Wasserverkehr. Schwere Frachter nähern sich vom Marmarameer, Fähren kommen vom Goldenen Horn, sausen kreuz und quer über den Bosporus.

    Das sei alles sehr schön, sagt der Kapitän lachend, vor allem wenn man am Ufer steht. 1968 war er das erste Mal hier - das sei richtig schrecklich, gewesen. Chaotisch. Heute ist der Bosporus immer nur in einer Richtung geöffnet, eine wechselnde Einbahnstraße.

    Ein roter Schlepper hat die "Juschnaja Palmira" gepackt, zieht ihren schweren Hintern quer hinaus in die Fahrrinne. Ein letzter Blick auf Hagia Sophia, Topkapi Palast und Galata Turm. Das 127 Meter lange Schiff wendet mitten im Bosporus.

    Der türkische Lotse, ein ruhiger, schlanker Mann, steht am Funkgerät, gibt Kommandos.

    Es sei schwierig, durch den kurvigen Bosporus zu fahren, sagt der Lotse. Der Bosporus gilt als eine der gefährlichsten Wasserstraßen der Welt. Mindestens zwölf Kursänderungen sind nötig. Die Strömung ist kompliziert und kräftig - bis zu 8 Knoten. Dazu kommen die kleinen Fähren, die zwischen den beiden Ufern hin und hersausen, schnell und unberechenbar jede Lücke nutzend. Chaotisch wie Taxis in einer südeuropäischen Großstadt.

    Wenn die fühlen, dass Du langsamer wirst, fahren die sofort weiter, sagt der Kapitän, als wieder einer haarscharf am Bug vorbeizieht.
    Nach den Fähren weiter nördlich kommen die Fischerboote. Ein großes Stromkabel quer über dem Bosporus verwirrt viele Radargeräte. Das Schiff stampft an Kandili vorbei, der schmalsten Stelle. Viele Tanker sind hier schon auf Grund gelaufen. Es legt sich in eine lange Linkskurve, überholt einen müden Frachter. An den Ufern sind Dörfer und Paläste zu sehen. Links Europa, rechts Asien.

    Kapitän und Lotse diskutieren über den Ramadan. Nichts essen, nichts trinken sagt der Lotse, das sei nicht die Hauptsache. Man müsse Kopf und Seele reinigen. Absolut, findet der rundliche Kapitän und lacht. Man ahnt, dass ihn asketische Anwandlungen selten heimsuchen.

    Dann geht der Lotse von Bord. Das orange Lotsenboot trägt ihn davon. Die letzte Luke wird geschlossen. Das Ende des Kanals ist erreicht. Das Schwarze Meer tut sich weit vor uns auf. Es regnet. Der Wind frischt auf.
    Kein Grund zur Sorge, sagt der Kapitän. Das Schiff habe Stabilisatoren. Der Regen sei ein Freund, er halte die Wellen niedrig. "Als Titanic", witzelt Kriutschkowitsch, "kriegen wir keinen einen Oskar." Ansonsten gelte die alte Seemannsregel: "Hüte Dich vor Fischern, Marine und griechischen Frachtern."

    Der Lautsprecher ruft zum Mittagessen. Das Bordleben beginnt. Ein träges Dasein. Auf dem Oberdeck, in den billigen Sesseln, dösen müde Frauen. Unten öffnet der Spielsalon, bleibt aber ohne Kundschaft. Nur die Automaten im Flur finden Anklang. Poker auf Knopfdruck, Schrecken im "House of the dead". Auf Deck 5 läuft ununterbrochen der Fernseher. Später spielt im Musiksalon eine Zwei-Mann-Kapelle auf. Die Bar ist gut besucht. Einige Paare tanzen. Männer prosten sich zu.

    Oleg Litvin, an Bord zuständig für das Unterhaltungsprogramm, träumt vom weiteren Aufschwung seiner ukrainischen Schifffahrtslinie "UkrFerry", die kreuz und quer über Schwarze Meer fährt, schwärmt von einem neuen Fitness Center, von Sport- und Sightseeingangeboten, von mehr und zahlungskräftigeren Passagieren.

    Stetig schiebt der Diesel die "Juschnaja Palmira" durch die stürmische Nacht. In den Handläufen der langen Korridore stecken überall Spucktüten - für die Empfindlichen. Auf der Brücke ist es ruhig. Der Kapitän hat sich längst zurückgezogen. Der Erste Offizier, jetzt in T-Shirt und Jeans, behält die Instrumente im Blick. Leise rumpelt der Scheibenwischer. Nachts ist das Schwarze Meer tatsächlich schwarz.

    Am Schwarzen Meer, darin sind sich die Forscher einig, liegt die Wiege Europas. In Georgien wurden erst vor einigen Jahren Schädel und Werkzeuge entdeckt, die vom ersten homo erectus stammen müssen, der außerhalb von Afrika lebte. Und die große Flut, die vor 9000 Jahren den Bosporus durchbrach und den Binnensee in ein Meer verwandelte, war vermutlich die alttestamentarische Sintflut. Vergleichsweise jung sind die Spuren der Antike: Ab dem 7. Jahrhundert vor Christus entstanden die ersten hellenischen Kolonien, die sich in den folgenden Jahrhunderten um die gesamte Küste ausbreiteten. Herodot reiste ans Schwarze Meer, Ovid lebte hier im Exil - und Pontos Euxeinos war ein wichtiger Schauplatz der griechischen Mythologie, so wird der Sage nach Jason mit seinen Argonauten über das Schwarze Meer an die georgische Küste geschickt, das Goldene Vlies zu holen. Lange schon hat Griechenland keine Schwarzmeerküste mehr - doch die Spuren der Antike sind überall zu finden, wo gegraben wird. Etwa in Bulgarien.


    Bulgarische Knochenkundlerinnen - In der Nekropolis der antiken Appollonia Pontica werden archäologische Schätze gesichert
    " Wir haben eine Menge Gräber gefunden und in den Gräbern sind eine Menge Dinge. Sie hier reinigt gerade einen Ring. Und da sind noch ein paar kleinere. Diese Behälter haben wir in fast jedem Grab gefunden. Auf diesem zerbrochenen hier ist eine Frau drauf, auf den anderen so etwas wie ein Blume. "

    Die bulgarische Archäologin Rositsa Pencheva, 25 Jahre alt und blond, steht in Shorts und T-Shirt auf einer künstlichen Ebene, nur wenige Meter vom Strand entfernt. Der Himmel ist blau. Die Sonne glüht. Rundherum wird gebaggert, geschaufelt und gekratzt. Wir stehen mitten der Nekropolis, der Totenstadt von Apollonia Pontica, den Überresten einer griechischen Siedlung am Schwarzen Meer, gegründet vor etwa 2600 Jahren, nicht weit von Sosopol. Die Griechen waren einst die Herren des Schwarzen Meeres. Bis zur Ostküste, dem heutigen Georgien, finden sich ihre Bronze- und Tonwaren.

    " Es ist herrlich, sie auszugraben. Meine Großmutter ist aus Sosopol. Als Kind habe ich eine dort einmal eine Ausgrabung beobachtet. Da wollte ich Archäologin werden. Und ich bin es geworden. "

    Archäologen lieben das Schwarze Meer. An seinen Küsten klebt Geschichte satt. Stets hat es hier Schlachten und Umwälzungen gegeben. Thraker, Skythen und Sarmatier, Goten, Hunnen, Chasaren und Perser ließen sich hier nieder. Meist galten den einen die anderen als Barbaren. Mal waren die Griechen tonangebend, dann Römer, dann Ottomanen. Die Mongolen nicht zu vergessen. Ihre Nachfahren, die Krimtataren, leben bis heute am Schwarzen Meer. Esoterische Stimmen vermuten in den Fluten des Meeres das sagenhafte Atlantis. Vordenker des Faschismus wähnten hier gar den Ursprung einer arischen "Wurzelrasse", den - Zitat - "Urkern germanischer Kulturträgerschaft".

    Fünf Archäologen und 20 erfahrene Helfer schuften in der Hitze. Einige arbeiten barfuss. Einige schützen den Kopf mit einem Tuch. 90 Gräber haben sie binnen zwei Monaten entdeckt. Und eine antike Wasserleitung freigelegt. Die Vorhut arbeitet mit Spitzhacken, Schaufeln und Schubkarren. Mühsam. Immer einen Spaten tief. Knochenarbeit im Wortsinn. Dann kommen die Experten - mit Pinsel, Pinzetten und Gerätschaften wie beim Zahnarzt; packen alles in Tütchen. Das ganze Ausgrabungsareal ist übersäht von rechteckigen, sauber abgegrenzten Löchern. Und in jedem liegt ein Skelett.

    Rositsa Pencheva und die Leiterin der Ausgrabung, Dr. Kristina Panayotova von der bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia, eine Kapazität, wenn es um alte Griechen geht, inspizieren auf einem Campingtisch aus weißem Plastik die antiken Tonscherben, verpacken und beschriften sie. Eine schier endlos erscheinende Fummelarbeit. Doch Frau Panayotova hat sich ihre Begeisterung bewahrt. Sie schwitzt, rückt ihren Kopfschmuck, einen provisorischen weißen Turban, zurecht.

    " Ich grabe diese Nekropolis von Apollonia hier gerne aus. Ich mag meinen Job, diesen speziellen Job hier. Ich wechsele nicht den Ort, die Kultur. Ich studiere eben am liebsten die Griechen."

    Panayotova betreibt auch Bio-Archäologie, versucht etwa durch die Bestimmung von Isotopen die Essgewohnheiten der Bewohner von Apollonia Pontica zu erkunden. Im Labor analysiert sie winzige Spuren an den Grabbeigaben - Schalen und Krüge, die oft nur mehr Scherben sind. Um so nach zweieinhalb Jahrtausenden eine Art Menu zu rekonstruieren. Nüsse, Tierknochen und Fischreste hat sie gefunden.

    Seit 1992 wird in der Region gegraben. Doch bei der Nekropolis scheint besondere Eile geboten. Rundum ragen Neubauten auf, Häuser und Appartements für Touristen und wohlhabende Rentner. Mit Meerblick. Die ganze Gegend wird zügig zubetoniert. Die deutschen Besitzer des Grabungsgeländes würden auch diese letzte Baulücke gerne bald schließen. Doch erst müssen die griechischen Vormieter geborgen werden. Wie lange braucht man für ein Skelett?

    " Sehr verschieden, etwa drei Stunden. Wir sind schnell. Wenn wir ein Grab finden, reinigen wir alle Knochen. Dann machen wir ein Foto. Dann zeichnen wir alles. Die Knochen, die Gefäße. Natürlich müssen wir sehr vorsichtig sein."

    Der Tag geht zu Ende. Die Helfer sind schon auf dem Nachhauseweg.

    Die Archäologinnen kratzen noch die letzten Knochen frei. sichern Fundstücke, steigen mit Messlatten in die Gräber, um Fotos zu machen. Dann packen auch sie ihr Besteck ein und gehen nach Hause. Erschöpft vom Tagwerk. Wieder ein paar Griechen geborgen.

    Dass das Schwarze Meer manchen als europäisches Meer gilt, ist den Griechen zu verdanken. Heute grenzen immerhin zwei Länder der EU tatsächlich ans Schwarze Meer: Bulgarien und Rumänien. Und wuchern mit eben diesem Pfund: die bulgarische Küste etwa, etwas mehr als 350 Kilometer lang, galt bereits zu sozialistischen Zeiten als Riviera des Ostens. Küstenorte wie Goldstrand oder Sonnenstrand lockten die Massen an: Meeresflair und Sonnenscheingarantie gab es schon für wenig Geld. Doch mit dem Billigurlaub an der bulgarischen Schwarzmeerküste könnte es bald vorbei sein: seit dem Beitritt zur EU steigen die Preise. Allerortens wird gebaut: Golfplätze. Yachthäfen. Hotels und Ferienhäuser.

    Küste zu verkaufen - Bauboom an der Riviera des Ostens
    " Mein Name ist Kiril Dimov, oder Kitscho."

    Der Mann steht am Busbahnhof, raucht noch schnell eine, bevor er los muss - zur Arbeit in der Ferienkolonie.

    " In Albena arbeite ich seit 1970. Ich wohne in der Stadt Dobritsch. Ich komme jeden Tag zur Arbeit. Wir haben einen Personalbus, morgens, mittags, nachmittags, jederzeit, kein Problem. 7.15 - nach 30 Minuten sind wir in Albena. "

    Am Kiosk gibt es Kaffee und Zigaretten, auch ein Stückchen süßes Gebäck. Dann drängen die Kellner und Köchinnen, die Rezeptionsdamen, Putzkräfte und Strandwärter in die Bussen, machen sich auf zu ihrer Arbeit am Meer. Der Massentourismus ruft. Kitscho tritt seine Zigarette aus und steigt in den Bus.

    Albena ist eine Welt aus Eis, Zuckerwatte und Pizza, mit Pferdekutschen und Bimmelbahnen, Vollpension und Bier all-inclusive. Wer ein, zwei Wochen in die Ferienreservate reist, sieht das Land oft nur beim Transfer zwischen Flughafen und Hotel. Der Rest ist Sonnenbaden, Disco, Shopping und Animation rundum.

    Eine Bettenburg, könnte man verächtlich sagen. Zu sozialistischen Zeiten galten Kolonien wie Albena als große Errungenschaft. Erste Touristen waren Tschechen, später kamen DDR-Bürger, schließlich auch die Westler. Die Branche ist seit jeher Frauensache. Die Bulgarinnen galten bald als gute Manager - engagiert, offen und sprachbegabt. Es gibt wissenschaftliche Studien darüber, wie stark der bulgarische Tourismus die Rolle der Frau verändert hat. Albena - das ist auch der Name einer bekannten weiblichen Romanfigur.

    " Albena ist das einzige Seebad Bulgariens, wo alle Hotels in einer Dachgesellschaft, in einer AG zusammengeschlossen sind und nicht, wie zum Beispiel am Goldstrand oder Sonnenstrand Stück für Stück verkauft wurden."

    Manager Angel Velichkov war Musiker, saß an der Hammond-Orgel, als Staatspräsident Schiwkow 1969 feierlich das Seebad eröffnete. Und stolz darauf, dass sein Ferienort auch in den wilden Jahren der Privatisierung eine Einheit geblieben ist, mit gemeinsamer Infrastruktur - Grünflächen, Sportanlagen, einem Naturschutzgebiet.

    " Albena ist und bleibt eine Aktiengesellschaft mit 41 Hotels. Wir als Personal sind selbst Aktionäre und sind interessiert daran, dass Albena weiter besteht und gute Touristenzahlen bringt. "

    Auch Kitscho, Jahrgang 1953, seit 36 Jahren Kellner, sagt, er bleibe hier, auf jeden Fall. Als er einst nach Albena kam, waren die Bäume, die jetzt groß sind, noch gar nicht gepflanzt. Dann hat er - im Austausch - viel in der DDR gearbeitet: In Warnemünde und Rostock, in Ludwigslust, Schwerin und Berlin. Später auch in München. Und nun im "Ciel Bleu", dem Restaurant oben im 17. Stock des Hotel Dobrudscha, des höchsten Bauwerks von Albena. Von hier betrachtet wirken das Meer und der Strand mit seinen sauberen Reihen hübsch aufgereihter Liegen besonders appetitlich.

    Auf der Dachterrasse bereitet Kitscho sich auf den ersten Ansturm vor, rückt Stühle zu recht, ordnet die Bar, prüft die Bestände, wirft die Kaffeemaschine an, die Musikanlage, den Kassencomputer. Bedient schon die ersten Gäste, läuft und läuft, in die Küche, an den Tresen, an die Tische, hin und her und her und hin. Immer freundlich, in vielen Zungen redend. Kann er sofort erkennen, welcher Gast woher stammt?

    " Jajaja, die am ersten Tisch kommen aus Frankreich, am zweiten aus Belgien, am dritten aus Schweden, die am vierten sind Engländer, am fünften, letzten Tisch das sind Bulgaren. "

    Engländer, sagt Kitscho ordern gerne ein großes Lunchbier, Schweden fragen immer sofort nach Steak. Die Deutschen nehmen eher einen Salat - als Überbrückung bis zum Abendmenu, das inklusive ist. Alle haben ihre Eigenheiten.

    " Wenn die Franzosen kommen, bestellen sie immer Anis oder Mastica. Und sie kommen immer in großen Gruppen - fünf, sechs, acht Personen zusammen. Die Deutschen kommen immer als Familie, zwei Personen oder drei. "

    Die Touristen kommen. Und sie kaufen die Küste auf. In Varna, dem quirligen Zentrum der Region ist der Kaufrausch unübersehbar. In der Fußgängerzone ermuntern an allen Ecken riesige Werbetafeln zum Hauskauf. Jeder dritte Laden scheint ein Maklerbüro zu sein. Diese Küste ist for sale. Und wer verdient daran?

    " Die Besitzer der Immobilienfirmen verdienen. Ausländer. Nicht wir Bulgaren. Wir arbeiten für ein sehr kleines Gehalt. Die Preise der Immobilien dagegen sind sehr gut, sehr hoch. Das Gehalt hier hat leider nicht die gleiche Qualität. "

    Wladimir, ein junger Student der Wirtschaftswissenschaften, sitzt in einer der vielen Immobilien-Agenturen am Schreibtisch. Die Verhältnisse ärgern ihn. Er kaschiert das mit Ironie. Aber die Bulgaren, die jetzt alle ihr Land verkaufen, die verdienen doch?

    " Ja, die meisten haben Glück. Aber sie wissen nicht wirklich, was los ist. Wenn ich Land hätte, würde ich noch warten. Aber sie verkaufen alles, einfach alles - sehr, sehr billig. Es sind meistens alte Leute. Und es ist so billig, weil die noch nie in ihrem Leben so viel Geld auf einem Haufen gesehen haben."

    Immer mehr Küstenbewohner fürchten den Ausverkauf und die Zerstörung ihrer Region. Selbst die emsige Maklerin meint auf Nachfrage, staatliche Restriktionen seien schon in Ordnung, um das Baufieber zu zügeln.

    Rick, britischer Ex-Soldat und Grundstückshändler, verheiratet mit einer Bulgarin, ist seit drei Jahren im Geschäft. Als er kam, gab es hier zwei englische Makler, jetzt sind es an die 150.

    Die Deutschen kaufen kaum, sagt er, aber wir in England, wir tun das. Ein Apartment, das vor drei Jahren 15000 Pfund gekostet hat, geht hier heute schon für 60000 weg. Der Durchschnittslohn aber liege hier bei nur etwa 100 britischen Pfund. Arbeitskräfte seien also billig zu haben. Genau, wie es britische Rentner gerne hätten. Ideal geradezu.

    Mit einem Wasservolumen von mehr als einer halben Million Kubikkilometer ist das Schwarze Meer das größte Binnenmeer Europas. Doch nur in der obersten Schicht ist Leben, der große Rest darunter, rund 90 Prozent, ist ohne Sauerstoff. Wie ein Deckel liegt das salzarme und laue Wasser auf dem schweren und kalten salzhaltigen - eine vertikale Vermischung gibt es nicht. Dieses Meer, sagen die Wissenschaftler, ist ein "hydrobiologisches Unikum". Über den Bosporus kommt das Salzwasser, die großen Ströme Donau, Dnjepr, Dnjestr, Bug und Don liefern Süßwasser. Und sie bringen Dreck: Blei, Uran, Phosphate und Nitrate. Ein Drittel aller Abwässer Europas fließt ins Schwarze Meer. Kloaken und Düngemittel. Öltransporte und Überfischung tun ein übriges, das Gewässer zu ruinieren. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist das Meer in den Fokus von Umweltschützern gerückt, als Mitglied der Europäischen Union wird nun auch Rumänien zunehmend in die Pflicht genommen.


    Ovids Hafen - Ein Meeresbiologe in Constantsa sieht Hoffnung für das Schwarze Meer
    In der Sylvesternacht 2007 feiert die rumänische Hafenstadt Constantsa den Beitritt zur EU. Nicht ekstatisch, aber fröhlich. Ein mit Skepsis gewürzter Optimismus herrscht auf dem großen Platz, in dessen Mitte ein Denkmal Ovids aufragt, grün angestrahlt. Düster schilderte der Dichter den Ort seiner Verbannung, beschrieb die Stürme, den beißenden Frost, die ständige Bedrohung durch Barbarenstämme. Constantsa kam nicht gut weg bei Ovid. Trotzdem wird er hier verehrt. Vielleicht, weil er sich klassisch anfühlt, ihnen ein Gefühl von Ewigkeit vermittelt. Zu Ovids Zeiten war der Hafen von Constanta schon ein halbes Jahrtausend lang in Betrieb.

    " Der Hafen war schon immer das Herzstück von Constantsa. Aus dem ganzen Land sind hier Arbeitskräfte zugereist, zugezogen, zugewandert, heute auch noch. Trotzdem die letzten Jahre nach der Wende ein Rückschlag waren. Aber langsam und hoffentlich mit dem Eintritt in die europäische Union wird alles etwas aufwärts gehen, wenigstens wirtschaftlich. "

    An einem grauen Morgen zeigt Gustav Rückert den Hafen. Ein feuchter Wind weht vom Meer herein. Der Rentner Rückert, deutschstämmig, kennt sich hier aus. Ein Vierteljahrhundert lang hat der Diplom-Ingenieur im und für den Hafen geplant und gebaut. Er ist nicht mehr der Jüngste. Aber für eine kleine Hafentour reicht die Kraft allemal. Schließlich ist die Anlage hier auch sein Baby.

    " Links sehen Sie die Getreidesilos, die auch Ende des 19. Jahrhunderts schon gebaut wurden von Ingenieur Angel Saligny. Neben den drei Getreidesilos sieht man den Dock3, wo die Basis der Unterseeboote im Zweiten Weltkrieg war. Ganz südlich ist das neue Containerterminal, der zur Zeit 400.000 Containereinheiten Kapazität hat und bis auf eine Million ausgebaut wird."

    Und dann, sagt Rückert stolz, das größte Terminal bis Italien sein wird. Mitten im modernen Hafenbetrieb steht ein kleines Gebäude, ein zierliches Häuschen aus einer anderen Zeit. Der königliche Pavillon, heute ein Hafenmuseum. Der Chef ist ein Freund von Rückert.

    1878, nach dem Unabhängigkeitskrieg, wurde die Dobrudscha Teil Rumäniens, unter der Herrschaft von Carol I, erzählt George Varsami, und zeigt Bilder und Gemälde der Könige. Mit Stolz, denn er ist bekennender Royalist. Der Pavillon war das königliche "Nest". Wobei das Wort Nest im Rumänischen noch eine Nebenbedeutung hat: ein Refugium für verrückte Dinge.

    Carol war Preuße und hasste das Meer, sagt Varsami. Aber seine Frau, Königin Elisabeth - eine produktive Dichterin mit dem Künstlernamen Carmen Silva - saß hier oft schon früh am Morgen und winkte mit ihrem Taschentuch den Schiffen zu, unermüdlich, stundenlang.

    In Varsamis Kleinwagen geht es zurück zur Hafenpforte. In Italien und Griechenland habe er genau so viel Müll am Straßenrand gesehen, spottet er, und sich gedacht: Aaah, wir haben Brüder in Europa.

    Im Taxi geht es weiter zu Alexandru Bologa, wissenschaftlicher Direktor des Nationalinstituts für Meeresforschung. Am anderen Ende der Stadt. Auch nur einen Steinwurf vom Meer entfernt. Noch ein Kumpel von Rückert.

    Bologa erforscht seine ökologische Perspektive. Das Schwarze Meer, dessen Fischreichtum Südosteuropa über Jahrhunderte lange gut ernährte, ist binnen weniger Jahrzehnte zur Kloake von 175 Millionen Menschen verkommen. Eine Zeit lang sah es aus, als würde es komplett umkippen.

    " Wir haben in den letzten Jahrzehnten etliche Arten schon verloren, manche wahrscheinlich für immer, andere vielleicht nicht. Wir sagen, dass von den 25, 26 üblichen Fischarten zur Zeit sechs, sieben acht vielleicht geblieben sind. "

    Fische, die Bologa früher gegessen hat, sind heute verschwunden. Der Beluga, der Bonito und etliche mehr. Ackerbau, Industrie und Schiffsverkehr haben den Zustand des Meeres dramatisch verschlechtert und ihnen den Garaus gemacht. Hinzu kommt die Küstenerosion - vor allem in Bulgarien und Rumänien. Und massive Überfischung, betrieben vor allem von Russland und der Türkei. Was empfindet ein Biologe da? Bologa krault sich den weißen Bart.

    " Frustration natürlich. Ob es ein einfacher Kunde, oder ein wenig gebildeter Mensch oder ein Wissenschaftler ist, egal, die Frustration ist dieselbe. "

    Und doch gibt es Hoffnung.

    " Dem Schwarzen Meer geht es viel besser schon. Wir würden sagen, seit 1990. Eine kurze einfach Erklärung wäre: Die osteuropäischen Ländern haben eine viel begrenztere Industrie und die niedrigen künstlichen Düngemittel für den Ackerbau haben sich für die Natur, nämlich für das Schwarze Meer, als positiv ergeben. "

    Er geht zum Regal, klaubt zwischen den vielen Fachbüchern eine Flasche mit Selbstgebranntem hervor und schenkt ein. Als müsse er seine Zuhörer trösten.

    " In gewisser Hinsicht ist die Zusammenarbeit flott und einfach. In anderen Fragen, gerade bei den lebendigen Reichtümern, wo es natürlich hauptsächlich um Geld geht, dort ist es ein wenig komplizierter und dauert länger. Aber wir bemühen uns. Es ist noch möglich, das Schwarze Meer zu retten. "

    Das klingt gut. Darauf stoßen wir an.

    Jules Verne, der literarische Phantast, war weder Geograph noch Sprachwissenschaftler. Doch in einem hatte er Recht: Odessa ist bis heute eine der wichtigsten Hafenstädte am Schwarzen Meer, das Tor der Ukraine zur Welt. In positiver wie in negativer Hinsicht. Seit jeher ist Odessa ein Schmelztiegel: Russen, Ukrainer, Juden, Griechen, Deutsche, Franzosen, Rumänen, Araber, Türken und Armenier leben in der Stadt. Neue Einwanderer ziehen hinzu. Vom Hinterland an die Küste. Oder sie kommen übers Meer: der Schiffsverkehr war immer abhängig vom Stand der russisch-türkischen Beziehungen. Heute: denen zwischen Ankara und Kiew. Die Kehrseite der Weltoffenheit ist unter anderem abzulesen an den vielen Gestrandeten in der Stadt. Oder an der Zahl der Aidskranken: auf mehr als 100.000 schätzt die Weltgesundheitsorganisation die HIV-Positiven in der Region Odessa.


    Die Straßenkinder von Odessa - Mit der Sozialpatrouille zu den Gestrandeten am Rande der Hafenstadt
    Kurz vor dem Ziel - wegen starken Gegenwindes eine gute Stunde verspätet - ist auch Kapitän Kriutschkowitsch wieder auf der "Juschnaja Palmira". Seine Offiziere hantieren mit Radargerät und Fernglas, berechnen den Kurs.

    Und dann ist Odessa da. Ein Lotse kommt an Bord, ein Schlepper, die Sphinx, taucht an Backbord auf. Das Anlege-Manöver beginnt. Auf dem Vorderdeck hantieren Männer mit Seilen. Um 11.47 Uhr liegt das Schiff fest. Die Matrosen schieben weiße Scheiben, die aussehen wie Plastikteller mit einem Schlitz auf die Taue.

    Willkommen in Odessa, sagt der dritte Offizier.

    Welch eine Stadt. Vor dem Anleger erhebt sich elegant die Potemkinsche Treppe. Oben auf der Promenade flanieren fröhliche Menschen unter prächtigen Kastanien und Ahorn-Bäumen. Ein Fiaker, von einem Schimmel gezogen, rattert über das Kopfsteinpflaster. Im Hotel Londonskaja, en paar Schritte zur Linken, wabert noch gute alte Zeit. Etliche Dichtergrößen sind hier abgestiegen.

    In der Innenstadt sind alle Marken vertreten - Yves St Laurent, Tom Tailor, Levis, Adidas, Nike und NafNaf. Schöne Menschen sitzen in Bars und Cafés, schwere Wagen mit getönten Scheiben gleiten vorbei. Und doch fällt einem bald ein Satz ein, den Kapitän Kriutschkowitsch heute Morgen auf der Brücke über seine Heimatstadt gesagt hat: Dass es keine Mittelklasse gäbe. Nur Superreich und Superarm.

    Die blaue Straßenbahn ist eine Antiquität, langsam scheppert sie über marode Gleise. Routiniert bremst die Fahrerin an besonders heiklen Stellen. Die Linie 5 bringt uns ins andere Odessa, das superarme. Zu einem Heim für Straßenkinder.

    " Ich arbeite jetzt schon eine Weile mit Kindern, habe gelernt, wie man mit ihnen arbeitet. Und ich habe gesehen, was ihnen auf der Straße passiert. Ich habe einen Sohn und will nicht, dass ihm so etwas auch widerfährt. "

    Ina, 30, eine ehemalige Obdachlose, rote Haare, Raucherstimme, Bomberjacke, Sie hat die Härten des Lebens en gros erlebt, hat gesoffen und im Gefängnis gesessen. Ihr eigenes Kind wurde ihr vom Jugendamt weggenommen.

    Bis sie zu Serjej Kostin kam, einem freundlichen Aktivisten, der dieses Heim hier managt - und sonst noch allerlei. Lasst es mich versuchen, sagte Ina. Nun ist sie schon lange Mutter für alle, lebt mit den Kids. Ist immer da. Zusammen mit Valudja, einem Mann mit einem ganz ähnlichen Schicksal. Inas Sohn ist noch immer in einem anderen Heim. Aber sie sieht ihn oft, sagt sie. Zeigt ein Foto. Stolz.

    " Ich bringe den Kindern hier einiges bei, achte darauf, dass sie zur Schule gehen, sich waschen, ihre Zimmer ordentlich halten. Ich versuche, hier eine große Familie zu schaffen. Ich will, dass sie lernen, einander zu lieben und zu beschützen und ihren Freunden immer zu helfen. "

    Kein Zufall, dass so viele gerade hier in Odessa landen, als Entwurzelte, als Strandgut. Die Stadt ist der Endpunkt vieler osteuropäischer Routen. Hinter ihrer hübschen Fassade blühen Prostitution, Frauenhandel, Drogengeschäfte. Und es ist eine Hafenstadt, mit weitem Horizont. Was zumindest die Illusion birgt, es könnte irgendwann irgendwohin weitergehen.

    " Wir sind nicht weit entfernt von der Grenze Transnistriens. Eine Menge Kinder kommen aus Transnistrien und Moldowa. Sie denken, dass sie in Odessa reich werden können. Sie betteln, sie prostituieren sich, sie werden drogenabhängig und gehen daran zugrunde."

    Das Problem, sagt Sergej Kostin, der engagierte Gründer des Projekts, bestünde seit 1991, seit dem Kollaps der Sowjetunion. Viele Leute wurden binnen einer Minute arm. Auch die Kinderbetreuung ist zusammengebrochen. Nichts ist koordiniert. Also kratzt er Geld zusammen, wo immer er kann. Meist im Ausland. Besonders im Winter stürben immer viele Obdachlose, schwer zu sagen, wie viele. Vielleicht 400-500, schätzt er. Keiner hat Zahlen. Die Leichen werden eingesammelt und schnell beerdigt. 8500 Obdachlose sind allein bei seiner Organisation registriert.

    Nebenan bekommen ein paar der Kinder Nachhilfeunterricht. Rechnen. 14 durch 7 ist 2. Ein kleiner Junge brütet über einer Aufgabe. Ola, 17 Jahre, aus Kutschurgan schwärmt von der Unterkunft. Sie spielt Gitarre, macht Sport, Tanz, einen Computerkurs. Und guckt viel Fernsehen. Was immer gezeigt wird. Ihr Zimmer teilt sie sich mit Leda. Sie kichern. Was mit ihrer Famile ist? Da schweigt sie. Was sie werden will? Vielleicht Tierärztin, sagt sie, Ich weiß es nicht, Ich lebe nur für den Tag.

    " Ich bin Leda, aus Novorissisk, ich bin von zuhause abgehauen, mit meinem Bruder per Anhalter gefahren. Seit zwei Wochen bin ich hier. Davor habe ich auf der Straße gelebt, in irgendwelchen Hütten geschlafen und gebettelt, hier in Odessa. Das ist hart. Und kalt nachts. Manche Leute sind auch nett, einige haben geholfen. Aber wir haben oft tagelang gar nichts gegessen. "

    Ihr Traum? Gut Englisch sprechen; malen, tanzen und singen. Ein Star werden? Ja, sagt sie auf englisch. Dann zeigt sie ein Bild, das sie gemalt hat: Ein Herz mit Flügeln und ein Messer und Blut und Glas.
    Wessen Herz ist das? - Meins.
    Und wer hat das Messer da reingestochen? - Meine Eltern, sagt das Mädchen.

    Nachmittags fährt die "Sozialpatrouille" los, Ina und zwei Männer. Zunächst zu einem Kloster, in dem viele alte Frauen leben. Sie bekommen Essen hier für die Straßenkinder, in großen Eimern und Bottichen - Nudeln mit Soße.

    Es ist kälter geworden seit gestern. Ein Wind weht, der einen frösteln lässt. Eine feuchte Kühle kriecht einem langsam in die Knochen. Man ahnt, wie feuchtkalt es hier erst im Winter sein muss.

    Nach einer Weile erreicht der Transporter ein Plattenbaugebiet. Der Fahrer hupt. Da öffnet sich die Luke auf einem flachen Bunker. Eine Verteilerstation für die Fernwärmeleitungen. Ein gutes Dutzend Kinder und Jugendliche klettert heraus. Sie hausen hier auf den Rohren, die ein wenig Wärme abgeben, hinter Pappen verschanzt, in einem miefigen Halbdunkel. Ina packt die Nudeln aus. Die Kinder schlingen gierig aus Plastikschalen. Auch ein streunender Hund bekommt etwas ab. Das sei ihr Freund, sagt ein Mädchen mit müden Augen und strähnigem Haar. Was macht ihr so in euerm Bunker? Wir spielen Karten, hängen rum, antwortet sie, haben Spaß. Oder gehen raus und betteln. Um Klebstoff zum Sniffen zu kaufen. Und Zigaretten und Bier. Einer der Jungen sagt, er lebe seit zehn Jahren auf der Straße.

    Die zweite Station ist ein Abbruchhaus im Zentrum. Ina schiebt die Pappe vor einer Fensterhöhle zur Seite und klettert hinein. Zwei Kollegen folgen. Im letzten Dämmerlicht ist kaum noch etwas zu erkennen. Tastend geht es voran. Überall liegt Dreck, in dem es raschelt. Riesige, tückische Löcher klaffen im Boden. Über eine kaputte Treppe ohne Geländer stolpert die Expedition nach oben. Schwache Rufe sind zu hören: Ina, Ina!

    In einem schmutzstarrenden Raum liegen fünf junge Männer auf zerfallenden Matratzen. Sie scheinen sich kaum rühren zu können. Es stinkt nach Moder und Urin. Ein Sechster kommt stolpernd herein. Ina packt den Rest Nudeln und der Sosse aus, fragt, wie es den Jungs geht. Und bekommt nur gelallte Satzfetzen zur Antwort. Einige richten sich mühsam auf, fangen an zu löffeln.

    Ein Hund, drängt heran, will auch etwas haben und frisst bei einem der Jungen mit vom Teller.

    Dann geht es hinab in ein Kellerloch. In der engen Höhle liegen drei weitere junge Männer. Der Gestank wird intensiver. Einer von ihnen stöhnt. Er hat eine eiternde Wunde an der Schulter, einen Abszess. Ina stapft durch einen Müllhaufen zu seinem Lager, um ihn zu verbinden. Als alle satt und notdürftig verarztet sind, tritt die Sozialpatrouille zum Rückzug an, arbeitet sich durchs leere, düstere Erdgeschoss Schritt für Schritt an die frische Luft. Alle atmen tief ein.

    " Früher haben die 15 Kinder da alle im zweiten Stock gelebt. Eine Gruppe ist nun im Kellerloch, da ist es wärmer. Sie nehmen jetzt keine Drogen mehr, weil sie keinen Nachschub haben."

    Das Stolpern und Lallen, das kommt vom langen Drogenmissbrauch, erklärt Ina. Sie sniffen Klebstoff. Oder spritzen sich hausgemachte Cocktails, im Lokaljargon "Chimea" genant - Chemie. Bei den Jungs im Haus könne man sehen, dass Teile des Nervensystems schon kaputt seien und nicht mehr zu retten.

    Nach diesem Besuch bei den Gestrandeten von Odessa wirkt die hübsche Uferpromenade ein wenig surreal. Die alten Bäume sind am Abend mit bunten Lichtschlangen geschmückt. Pärchen flanieren Hand in Hand zwischen den Parkbänken. Unten im Hafen sieht man die "Juschnaja Palmira" am Kai liegen.
    Und das Meer ist jetzt tatsächlich ganz schwarz.