Archiv


Europas Zukunft ist ungewiss

Die jüngste EU-Erweiterungsrunde ist noch nicht verkraftet, da stehen schon Bulgarien und Rumänien vor der Tür. Doch dafür ist die Europäische Union noch nicht gerüstet: Es bedarf dringend eines inneren Reform-Prozesses und eines von den Mitgliedstaaten ratifizierten Verfassungsvertrags. Der steht beim Referendum Ende Mai in Frankreich auf Messers Schneide. Ein Beitrag von Paul Lendvai.

    Die Erinnerung bei den Siegern und den Besiegten an das Kriegsende am 8./9. Mai fällt im Westen wie im Osten mit einem Gefühl der Unsicherheit zusammen. Die Befreiung Europas von der Nazi-Diktatur und dann fast fünf Jahrzehnte später von der sowjetischen Spielart des Totalitarismus sollte die Grundlage für den Bau eines neuen und freien Europa bilden.

    Gerade ein Jahr nach dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder spürt man Skepsis, ja oft Angst statt Dynamik und Optimismus.

    Die Chance, den Menschen die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration näher zu bringen, und sie für die sie direkt berührenden Fragen zu interessieren, wurde in den diversen Wahlkämpfen und Spiegelfechtereien um die europäische Verfassung vertan. In seinen kürzlich erschienenen Erinnerungen mahnte der bisher bedeutsamste EU-Kommissionspräsident Jacques Delors:

    "So unentbehrlich die Institutionen sein mögen, sie können keine Wunder vollbringen, wenn es am europäischen Geist mangelt, vor allem bei denen, die die meiste Macht in den Händen halten. Die Gründerväter haben Europa auf den Weg gebracht, weil sie in sich in der Vision der Zukunft Europas und den Pragmatismus, es auch zu verwirklichen, vereinten."

    Bei dem kommenden Referendum in Frankreich ist noch völlig offen, ob es dem geschockten Staatspräsidenten Jacques Chirac gelingen wird, eine Wende zum Besseren zu erzielen. Doch geht es bei dem Schicksal Europas nicht bloß um den Verfassungsvertrag. Der dringende Bedarf eines inneren Reformprozesses ist auch deshalb so wichtig, weil der Prozeß der europäischen Integration an einer kritischen Grenze angelangt ist.

    Die maßgeblichsten Politiker Europas haben bisher die von Delors erwünschte "Kühnheit" und den "Realitätssinn" der großen Baumeister Europas schmerzlich vermissen lassen. Die großen Serien, Berichte und Interviews in Fernsehen, Funk und den angesehendsten Zeitungen, die Memoiren und Sammelbände mahnen immer wieder, daß ohne die Überwindung des selbstzerstörerischen Nationalismus keine europäische Identität geschaffen werden kann.

    Nach der jüngsten Erweiterung der Europäischen Union hatte man ein neues Zeitalter der grenzübergreifenden Kooperation erwartet. Wenn auch in Ostmitteleuropa im Großen und Ganzen mehr Selbstbewußtsein und ein pragmatisches Verhältnis zur Union festzustellen ist, so gibt es auch dort Befürchtungen wegen des Tempos der Erweiterung.

    Bulgarien und vor allem Rumänien können weder in der Wirtschaft noch in der Gesellschaft das Entwicklungsniveau der neuen EU-Mitgliedsländer aus dem Osten in absehbarer Zeit erreichen. Zugleich beschäftigen sich die Brüsseler Bürokraten bereits mit der Problematik Kroatiens und den großen Auseinandersetzungen um die Türkei.

    Dass man in Brüssel, Berlin und Paris die Chance der rechtzeitigen Vertiefung und Reform der inneren Strukturen zugunsten einer schnellen Erweiterung vertan hat, könnte sich als vielleicht der folgenschwerste Fehler der Europäischen Integration entpuppen.

    Gerade der 60. Jahrestag der Befreiung sollte uns daran erinnern, daß bei den Streitigkeiten um Tempo und Richtung der Europäischen Integration letzten Endes auch unsere Werte und unsere demokratischen Ordnungen auf dem Spiel stehen.