Die Europawahlen finden in Großbritannien schon heute statt, hier wird immer donnerstags gewählt – und es sind Wahlen, die eigentlich gar nicht sein sollten – denn eigentlich wollten die Briten schon Ende März aus der EU austreten. Das hat bekanntlich nicht geklappt. Dieses Scheitern hat nicht nur dem Wahlkampf seinen Stempel aufgedrückt, sondern einem ganzen Land. Eindrücke aus London von Tobias Armbrüster
40.000 Wahllokale sind heute geöffnet im Vereinigten Königreich. Für viele Briten ist das 40.000 Mal der Beleg dafür, dass ihr politisches System versagt hat – denn eigentlich wollten sie längst raus sein aus dieser EU. Und wenn der Reporter aus Deutschland genauer nachfragt, was denn so schlimm ist an der EU, dann geht der Puls schnell nach oben:
"Wollen Sie mich verschaukeln", fragt dieser Mann – "glauben Sie die ganze Propaganda, die das Establishment und die EU von sich gibt?"
Die Briten wollten raus aus Europa, sagt er, raus aus diesem Club, in dem nur Deutschland alles richtig macht und alles kontrolliert.
Exzentriker in der Brexit-Partei
Der grauhaarige Mann mit dem blauen T-Thirt und den schmalen Lippen ist Anhänger der Brexit-Partei. Wer über Großbritannien und die Europa- Wahl berichten will, der kommt um diese Partei nicht herum – auch wegen ihrer teilweise umstrittenen und auch exzentrischen Kandidaten. Da ist natürlich der Gründer und Spitzenkandidat Nigel Farage – und an seiner Seite Ann Widdecombe, ein 71-jähriges Urgestein, früher Tory – jetzt Brexit-Partei.
Bei ihren Auftritten im Wahlkampf hat sie sich gerne darüber lustig gemacht, wie sich Theresa May bei Labour-Chef Jeremy Corbyn anbiedert – und sie spekuliert, wie die Premierministerin ihrem Oppositionskollegen alles anbietet: Zollunion, Binnenmarkt, und EU-Recht in Großbritannien.
"Jeremy, what would you like? Would you like a customs union?"
"Oh certainly."
"Would you like to stay aligned to the single market?"
"Certainly."
"…be governed by the EU? Oh Jeremy, just how much of the EU law you want to be governed by?"
Wenn es sein muss ohne Deal
Alle Umfragen sagen der Brexit-Partei einen rauschenden Sieg voraus – Platz eins, über 30 Prozent. Mit weitem Abstand wird sie die meisten britischen Abgeordneten nach Europa schicken – und die Partei hat bislang nur eine Botschaft: den Brexit bitte möglichst schnell, und wenn es sein muss auch ohne Deal.
"… say Bollocks to Brexit…"
Ein-Mann-Demo für Europa
Auch die Brexit-Gegner haben im Wahlkampf noch einmal nachgelegt, wo immer die Brexit-Partei auftaucht, da singen die Gegendemonstranten ein Lied. Mit dabei auch dieser junge bärtige Mann:
"What I'm doing here is I'm sitting outside the House of Parliament because I believe in the European project."
Er kommt einmal in der Woche 40 Kilometer angereist und setzt sich zum Demonstrieren auf den Bürgersteig gegenüber von Big Ben, da schwenkt er eine EU-Flagge und blaue Luftballons:
"Bei dieser EU-Wahl will ich allen Passanten und Touristen zeigen, dass sich auch die Briten Gedanken über Europa machen, wir wollen ein Teil dieses Projekts bleiben und nicht weggehen."
Die politischen Analysten, die Kommentatoren haben viele Worte für das gefunden, was da in Großbritannien seit einiger Zeit passiert: Das politische System sei zerbrochen, die Gesellschaft polarisiert, paralysiert, gespalten – und viele fragen sich, wer diese Bruchstücke jemals wieder zusammen kleben soll. Eins zumindest steht fest, diese EU-Wahl wird das nicht leisten, denn vor allem die britischen Parteien sind seit dem Brexit-Referendum so zerstritten wie nie.
Tritt Theresa May zurück?
Krach im Unterhaus und eine EU-Wahl, die eigentlich gar nicht sein sollte - da kommt einiges zusammen an politischen Stress-Faktoren an diesem Wahltag. Geplant ist, dass Premierministerin Theresa May am Vormittag in London ihr Wahlbüro besucht und vor den Kameras ihren Wahlschein in die Wahlurne wirft. Aber seit gestern rechnen viele in London fast stündlich mit ihrem Rücktritt – auch Theresa May selbst hat gestern im Parlament schon mal darüber spekuliert:
"Mister Speaker, in time another prime minister will be standing at this dispatch box."
Schon bald also jemand anders an ihrer Stelle – erst recht wahrscheinlich wenn die Umfragen stimmen und die Konservativen bei dieser Wahl im einstelligen Bereich landen, vielleicht sogar hinter den britischen Grünen. Die sind hier sonst immer das Schlusslicht. Wahlkampf haben die Konservativen auch gar nicht gemacht, gerade mal einen Auftritt hat Theresa May als Parteichefin absolviert – ihr und ihren Kabinetts-Kollegen ist dieser Wahltag sichtlich unangenehm. Sie sind den Mikrofonen in den letzten Tagen regelrecht aus dem Weg gegangen. Die BBC-Reporterin Laura Kuenssberg hat diese Ansprech-Versuche gesammelt:
"Any sign of progress, Chancellor?"
"Any agreement, secretary of state?"
"Foreign secretary do you think you have concessions for Labour to vote for the deal?"
"Dr Fox, are you still in the cabinet? Was it a bumpy meeting?"
Viele Fragen, keine Antworten. Ob sie das wollen oder nicht: Theresa May, ihr Kabinett und auch die Labour-Partei müssen sich darauf gefasst machen, dass nach dieser Wahl einiges anders sein wird als vorher. Aber vorher noch der Cliffhanger: Gewählt wird in Großbritannien heute, die Ergebnisse kommen erst Sonntagabend – erstmal müssen sie also in Downing Street den Atem anhalten.