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Eurovision Song Contest
Warum ausgerechnet Conchita Wurst gewann

Seit Hermes Phettberg hat Österreich keine so schillernde Medienfigur hervorgebracht wie diese bärtige Frau mit der erstaunlichen Stimme: eine Kunstperson, die allerdings nicht zum Zwecke des Gesangs geschaffen und nicht durch ihren Gesang berühmt und mit dem Grand Prix ausgezeichnet wurde, sondern wegen etwas anderem, das gar nicht leicht zu erfassen und zu erkennen ist und über das man gewissermaßen nur hinter vorgehaltener Hand nachdenken möchte.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 11.05.2014
    Conchita Wurst beim ESC.
    ESC-Sieg für Conchita Wurst. (dpa/Jörg Carstensen)
    Wir erleben derzeit einen Aufmerksamkeitsboom für das Thema Transsexualität, der sich durch den allgemeinen Zwang zu fortschreitenden Tabubrüchen nicht ausreichend erklären läßt. Vielmehr thematisiert sich darin eine große gesellschaftliche Verunsicherung in Bezug auf die Biologie. Natur dient bloß noch als Werbebegriff der Öko-Industrie, ansonsten gilt Natur als das schlechthin zu Überwindende.
    Der medizinische Fortschritt verschiebt oder verunklart ständig die Grenzen des Lebens: wann es anfängt, wann es aufhört und auf welche Weise es zustande kommt. Auch geschlechtliche Gegebenheiten gelten mittlerweile als Optionen, über die sich schon während der Pubertät fast beliebig verfügen läßt. Die Orientierungsprobleme der Betroffenen werden dabei nicht nur vom voyeuristischen Interesse der RTL-Kameras vergrößert und verschärft, sondern auch von sich wie durch Kettenreaktion vermehrenden Genderpolitikern, die jeden Schambereich nutzen, um Druck aufzubauen und Macht zu gewinnen.
    Auf diese Bühne biologischer Bedenklichkeiten tritt nun ein Hermaphrodit oder Transvestit und konfrontiert Europa mit sexualpsychologischen Fragestellungen, denen die Tralala-Welt der Eurovision selbstverständlich nicht gewachsen ist. Sie konnte sich dieser Konfrontation nur entziehen, indem sie dem irritierenden Halbwesen, um mit Sibylle Lewitscharoff zu sprechen, dieser Mischung aus Barbie und Jesus, schleunigst den Sieg schenkte.
    Die Zeit war einfach reif für eine solche Symbolfigur der Unentschiedenheit, weil angesichts der grassierenden Verpaarungsverzweiflung und angesichts aller brüchig gewordenen Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit die Selbstverdoppelung zumindest als Chance sexueller Selbstbefriedigung erscheint. Der Zwitter ist im Zeitalter von Twitter das Ideal der Körperpolitik. Er strahlt, er kommuniziert, und er löst Haltungen in Rollenspiele auf. Conchita Wurst alias Tom Neuwirth beherrscht vor allem eine Frauengeste: Rührung oder Verlegenheit andeuten durch Augenniederschlag und Verdecken des Mundes mit der Hand. Es ist ein Zeigen durch Verbergen – die perfekte Show in der Show in der Show.
    Wie alle Politik, so hat jedoch auch die hier ausagierte Körperpolitik gewisse geografische Bezüge. Und so bot die Stimmenzählung des Grand Prix unversehens Gelegenheit, die Europakarte sexueller Verklemmtheiten und Verhaltensnormen teilweise neu zu zeichnen: Zwar war zu erwarten, dass die skandinavischen Länder die Drag-Queen hoch bewerten würden, aber dass auch Spanien, Portugal, Frankreich Gefallen an der Geschlechtsumwandlung hatten, stellte eine Überraschung dar. Mag sein, dass diese Voten strategisch gemeint waren, nämlich gegen das in diesen Dingen eher zimperliche Russland. Doch auch diese Form von Körperpolitik beweist, wie verkracht der moderne Mensch mit seinen Seinsgrundlagen ist.